Am 23. Juni fand eine deutsch-französische Tagung zu dem Thema: „Kelsen, Schmitt und ‚der Hüter der Verfassung’: Weimar, 1931“ im Centre Marc Bloch (Berlin) statt. Ziel dieser Veranstaltung war es, anhand der Debatte, die am Ende der Weimarer Republik Hans Kelsen und Carl Schmitt zu Gegnern machte, die theoretischen Wurzeln der Verfassungsgerichtsbarkeit zu untersuchen.
In der ersten Sitzung, die von Dieter Grimm (Humboldt-Universität zu Berlin) moderiert wurde, betonte Michel Troper (Université Paris X) in seinem Vortrag die rechtstheoretischen und -politischen Unzulänglichkeiten der kelsenschen Lehre zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Rechtstheoretisch betrachtet, habe Kelsen gleichzeitig zwei verschiedene Konzeptionen miteinander vermischt, um den Vorrang der Verfassung vor dem Gesetz zu gewährleisten. Nach der ersten Konzeption werde die Verfassung als vorrangig bezeichnet, weil sie die Erzeugungsbedingungen des Gesetzes bestimme ; nach der zweiten, weil ein Gericht aufgrund der Verfassung ein Gesetz für nichtig erklären könne. Daraus folge, dass es widersprüchlich sei, wenn Kelsen den Verfassungsgerichtshof lediglich als ein technisches Mittel zur Vollziehung der Normenhierarchie bezeichne. Rechtspolitisch betrachtet, sei Kelsen unschlüssig geblieben, ob die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes als richterliche oder als negative gesetzgebende Akte zu bezeichnen seien. In dieser Hinsicht habe Kelsen Schwierigkeiten gehabt, eine teilweise undemokratische Institution in einem demokratischen System zu rechtfertigen.
Eine sehr ähnliche Fragestellung wurde von Pasquale Pasquino (C.N.R.S./New York University) untersucht; es ging darum, welche demokratische Theorie sich aus der kelsenschen Lehre zur Verfassungsgerichtsbarkeit schliessen lasse. Kelsens Befürwortung der Normenkontrolle sei hauptsächlich aufgrund der Stufenbautheorie erklärbar, in der Pasquino eine Erweiterung des Legalitätsprinzipes sieht. Daraus folge, dass diese Rechtfertigung grundsätzlich unabhängig von jeder Staatsform erscheine. Dies meine nicht, dass die Argumentation des österreichischen Staatsrechtslehrers unpolitisch sei. Trotz der Ablehnung der von ihm als „konstitutionnell monarchisch“ bezeichneten Lehre der Gewaltenteilung sei Kelsen von der amerikanischen liberalen Theorie der „checks and balances“ beeinflusst gewesen. Von diesem Standpunkt aus sollte das Verfassungsgericht ein Gegengewicht bilden, indem es die Kompetenzen des Parlaments und der Regierung beschränke. Wie von Carl Schmitt scharf bemerkt, liege in dieser Theorie ein rechtspolitischer Schwachpunkt: auch als Gegengewicht mangele es dem Gericht an demokratischer Legitimität.
Ob man daraus auf den demokratischen Charakter der schmittschen Lehre schliessen könne, war nach Armel Le Divellecs (Université du Maine) Beitrag mehr als zweifelhaft. Die teilweise widersprüchliche Beschreibung des Reichspräsidenten als „Hüter der Verfasssung“ sei vor allem rechtspolitisch und instrumentell zu interpretieren. Diese Lehre sei Teil einer breiten Strategie, deren Ziel es sei, die Kompetenzen des Staatsoberhauptes zu erweitern und die des Reichstages zu schwächen. Schmitt habe den Reichstag aufgrund der Konfrontation der politischen Parteien als geteilt, neutralisiert und entkräftet bezeichnet. Diese Vorherrschaft der Gesellschaft gegenüber dem politischen System sei für den Staat besonders gefährlich, da sie die Einheit des deutschen Volkes und die grundsätzlichen Entscheidungen seiner Verfassung bedrohe. Dagegen solle der demokratisch und unmittelbar gewählte Reichspräsident diese Einheit verkörpern und diese Grundentscheidungen hüten. Um diese Position zu verstärken, habe Schmitt die constantsche Lehre des „pouvoir neutre“ aus ihrem Kontext abstrahiert und verbogen. Dies lasse sich in den aufeinanderfolgenden Entwicklungsschritten seiner Theorie des Hüters der Verfassung beweisen.
Christoph Schoenberger (Universität Konstanz) stellte in der von Charles Leben (Université Panthéon-Assas Paris II) modertierten zweiten Sitzung die oft ausser Betracht gelassenen Gemeinsamkeiten und die Schwachpunkte der beiden Theorien dar. Kelsen und Schmitt seien sich grundsätzlich über folgende Aspekte einig gewesen: 1) die Verfassungsgerichtsbarkeit sei nur ein Teil des Verfassungsschutzes; 2) die richterliche Normenauslegung sei kein Syllogismus, sondern enthalte ein willkürliches Element; 3) daraus folge, dass beide Autoren nicht nur rechtstechnisch, sondern auch rechtspolitisch argumentierten; 4) die Institution einer Verfassungsgerichtsbarkeit verändere die Machtbeziehungen zwischen den staatlichen Hauptorganen; 5) dies sei in besonderem Maße der Fall in bundestaatlichen Systemen. Der schwächste Punkt der schmittschen Lehre bestehe in seiner Interpretationstheorie: Schmitt habe in Der Hüter der Verfassung (1931) eine Theorie der richterlichen Auslegung benutzt, die er selbst in Gesetz und Urteil (1912) klar abgelehnt habe. Ausserdem enthalte seine Lehre eine Entscheidung für den Reichspräsidenten, die ganz a priori getroffen werde. Bei Kelsen sei zu bemerken, dass seine Lehre zur Verfassungsgerichtsbarkeit gleichzeitig seiner positivistischen Methode und seiner Theorie der Demokratie widerspreche.
Oliver Lepsius (Universität Bayreuth) befasste sich in seinem Beitrag mit dem politischen Subtext der Schmitt-Kelsen-Debatte. Die Errichtung der Weimarer Republik habe das Prinzip der Volkssouveränität eingeführt sowie die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft tief verändert. Die schmittsche und die kelsensche Lehre seien in dieser Hinsicht zu interpretieren. Nach Schmitt ist die Trennung von Staat und Gesellschaft, die im Kaiserreich bestand, hinfällig geworden, weil sich die Gesellschaft des Staates bemächtige. Es gelte nun, den Staat vor der 'pluralistischen Auflösung' (Zitat Schmitt) zu retten. Daraus folge, dass ein Verfassungsgericht, dessen Funktion im Schutz dieser Trennung bestehe, überflüssig geworden sei. Beim Verfassungsschutz gehe es vielmehr darum, die substantielle Einheit des Volkes und den Inhalt den verfassungsgemässen Grundentscheidungen zu hüten. Diese Rolle stehe dem Reichspräsidenten zu, der das Volk verkörpern solle. Ganz im Gegenteil dazu betrachte Kelsen soziologisch das Volk als eine Vielzahl konkurrierender sozialer Kräfte, deren Einheit nur rechtlich zu bestimmen sei. Ziel der Demokratie sei es, die Freiheit der Minderheit zu schützen, indem man verhindere, dass die Mehrheit ihre legitime gesetzgebende Gewalt in eine Diktatur verwandele. Die Hauptfunktion der Verfassungsgerichtsbarkeit bestehe darin, die Minderheit zu schützen und einen friedlichen demokratischen Machtwechsel zu ermöglichen. Paradox erscheine es schliesslich, dass die kelsensche Lehre viel dynamischer als die schmittsche sei.
Nach Renaud Baumert (I.E.P. Paris/Centre Marc Bloch) bedeutet die Entwicklung der Lehre zur Verfassungsgerichtsbarkeit eine wichtige Wende in Kelsens demokratischer Theorie. Davor habe Kelsen hauptsächlich die Legitimität des demokratischen Rechts durch das Prinzip der absoluten Mehrheit begründet. Weil dieses Prinzip kaum mit dem Minderheitenschutz vereinbar war, habe Kelsen jedoch versucht, ein besseres Legitimationsprinzip zu entwickeln. Dieses neue Prinzip, das von Kelsen als „Mehrheits-Minderheit“ bestimmt wurde, sei besonders angemessen für die parlamentarische Demokratie, deren Ziel die Errichtung einer friedlichen Ordnung durch die Schliessung politischer Kompromisse sei. In dieser Hinsicht sei ein Gesetz nicht nur legitim, weil eine absolute Mehrheit es beschlossen habe, sondern auch, weil die parlamentarische Minderheit an seiner Erzeugung teilgenommen habe. Die Verfassungsgerichtsbarkeit sowie das Verhältniswahlrecht und die Trennung von Verfassungs- und Gesetzesnormen seien technische Mittel, um dieses Prinzip zu verwirklichen. Wenn der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz annuliere, zwinge er die gesetzgebende Mehrheit, einen Kompromiss mit der Minderheit zu schliessen, um eine Verfassungsänderung zu vollziehen.
Matthias Jestaedt (Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg) widmete sich den Beziehungen zwischen Verfassungsverständnis und Verfassungsschutz bei Kelsen und Schmitt. Trotz der klaren Gegensätzlichkeit der schmittschen „politischen Theologie“ und der kelsenschen „politischen Technologie“ hätten beide Juristen das Verfassungsrecht als ein politisches beschrieben. Wichtig sei aber zu bemerken, dass ihre Begriffe des Politischen und des Rechts ganz gegensätzlich seien. Schmitt bringe vor, dass die Justiz apolitisch bleiben könne und solle. Verfassungsschutz heisse die politische Verteidigung der wesentlichen Entscheidungen, die die Verfassung enthält, im Ausnahmezustand. Da keine Norm unter eine andere subsumiert werden könne, folge, dass diese Funktion nur von einer politischen Instanz (i.e. der Reichspräsident) übernommen werden könne. Genau dieser Punkt wurde von Kelsen bestritten: die Verfassungsnormen und die Gesetze haben seiner Auslegung nach dieselbe Natur. Es folge daraus, dass Verfassungsschutz ein normales richterliches Verfahren in einer normalen Situation sein solle. Gegen die schmittsche dramatische Vorstellung eines „Hüters der Verfassung“ habe Kelsen ein normativistisches Routineverfahren gesetzt.
In seinen Schlussbemerkungen zeigte Olivier Beaud, wie aufschlussreich diese reiche wissenschaftliche Diskussion nicht nur für Deutschland, sondern auch für das zeitgenössische französische System ist.