Europa und das 20. Jahrhundert wurden in den letzten Jahren von Historikern mit vielen Schlagworten versehen; die Palette reicht vom Zeitalter der Extreme (Hobsbawn) über das Zeitalter der Illusion (Furet) bis hin zu Europa als dunklem Kontinent (Mazower) im 20. Jahrhundert, um nur einige zu nennen. Nun also ist ein weiteres, wenn auch sehr viel prosaischeres, hinzugekommen, jenes der Diktatur. Es stammt von Gerhard Besier, der unter Mitarbeit von Katarzyna Stoklosa Europa erstmals umfassend unter dem Blickwinkel dieses komplexen Phänomens analysiert und seine Ergebnisse unter dem Titel Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht hat. Aus diesem Anlass luden die Autoren am 11. Oktober gemeinsam mit Jürgen Kocka und Adam Krzeminski zur Diskussionsrunde ins Berliner Rathaus.
Nach der Begrüßung der Anwesenden durch den Verlagschef Stephan Meyer übernahm Jürgen Kocka das Wort und eröffnete die Runde mit einer kurzen Übersicht zu den einzelnen Teilen und den zentralen Themen des Buches.
Im ersten Teil liegt der Schwerpunkt der Autoren auf der Zeit vom Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Nach einem einleitenden Kapitel, in dem die Voraussetzungen und Bedingungen für den Ersten Weltkrieg sowie dessen Folgen, eine erste Welle der Demokratisierung 1918/19 und die sich anschließenden Wellen der Diktaturerrichtung in Europa dargelegt werden, wird in einem umfangreichen zweiten Kapitel die Entwicklung in den einzelnen Nationalstaaten in separaten Unterkapiteln geschildert. Kocka hob in Bezug auf diesen ersten Teil hervor, dass das Buch hier „sorgfältig und klar zwischen verschiedenen Wellen der Diktaturerrichtung und damit auch zwischen verschiedenen Typen von Diktaturen„ unterscheide. „Es zeigt den Weg vom Stadium der etwas gemäßigteren konstitutionellen Diktatur [...] über autoritäre Diktaturen [...] bis hin zu den totalitären Diktaturen.“
Dieser Aufbau – Einleitungskapitel, anschließend Betrachtung der einzelnen Nationalstaaten – wird auch im zweiten Teil des Buches, der mit Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch des Ostblocks und Transitionsprozesse überschrieben ist, beibehalten. Das einführende (dritte) Kapitel thematisiert zunächst den Zwangsexport des Sozialismus nach Ostmittel- und Südosteuropa und den Beginn des Kalten Krieges, während im Anschluss (viertes Kapitel) für die jeweiligen Nationalstaaten der Systemwechsel von der nationalsozialistischen zur sowjetischen Herrschaft beschrieben wird. Das fünfte Kapitel führt – nach wie vor nach Ländern unterteilt – den Faden weiter vom Ende der Stalin-Ära bis ins erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Den Schlusspunkt dieses weitgehend chronologischen Abrisses bildet das sechste Kapitel, in dem die Systemtransformationen und Vergangenheitsbewältigung in Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropa analysiert werden, allerdings in einer komplexen Abhandlung und nicht mehr wie zuvor nach Nationalstaaten untergliedert. Dieses Abschlusskapitel, in dem es unter anderem auch um die von Land zu Land verschiedenen Formen der Erinnerung an die Ereignisse vor bzw. kurz nach 1945 geht, bewertete Kocka wie folgt:
„[...] ich finde bemerkenswert, [...] wie herausgearbeitet wird, dass doch kräftige Unterschiede bestehen in der Art, wie in Deutschland dieses radikal-totalitäre Regime, diese radikal-faschistische Diktatur Hitlers, der Holocaust, der Krieg erinnert wird, nämlich zunehmend mit voller Ablehnung, und beispielsweise der Erinnerung in Polen an Pilsudskis autoritäre Diktatur, die nicht dieses Maß an Radikalität und somit immer noch mehr Anknüpfungspunkte für Identifikation bietet als das Hitler-Regime in Deutschland, dass diese doch zwei unterschiedliche Formen von Erinnerung darstellen, die hier für mich zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit so verglichen werden.“
In einem abschließenden theoretischen Kapitel steht die Klärung der Begriffe Politische Religion, Totalitarismus und Moderne Diktatur im Mittelpunkt. Auch hier schloss Kocka eine direkte Einschätzung an: „[...] vor allem, und das ist für mich das Wichtigste an diesem [...] Kapitel, das gleichzeitig einen intensiv recherchierten Überblick über die einschlägigen Debatten der letzten Jahrzehnte gibt, vor allem zeigt es überzeugend, wie jeder dieser Begriffe jeweils nur einen Teil der vergangenen Realität aufschlüsselt und wie sinnvoll es deshalb ist, mit ihnen pragmatisch umzugehen und sie zu verknüpfen, statt scharfe Gegensätze zwischen ihnen aufzubauen und diese wie Glaubenskriege auszutragen.“
Nach dieser kapitelweisen Besprechung nannte Kocka drei Stärken, die seiner Meinung nach das Buch als Ganzes auszeichneten. Zunächst fasste er allgemein zusammen: „Das Buch ist enzyklopädisch breit und hat einen weiten Blick, es enthält gediegene Informationen, es erzählt in jedem einzelnen Länderabschnitt relativ chronologisch, indem es aber scharf auswählt, und [...] sich auf das Wesentliche konzentriert. Es ist ein nüchternes Buch, es ist zupackend geschrieben, es ist unaufgeregt, es ist nicht beschönigend – ich habe keine einzige beschönigende Passage gelesen – und es ist auf dem neuesten Forschungsstand für ein breites Publikum von Nicht-Spezialisten gedacht, denen das Buch zu empfehlen ist.“
Die zweite Stärke liege seiner Ansicht nach in den klaren Begrifflichkeiten. „Das Buch ist voll von Empirie [...], zugleich aber begrifflich scharf, es diskutiert explizit die Begriffe, die es als Instrumente zur Ordnung des Materials benutzt, und ich finde es gelungen, wie es mit dem zentralen Begriff Diktatur umgeht – ein Begriff, der ja feingliedrig differenziert und durch Attribute verfeinert werden kann, und das geschieht, um dieser Vielfalt Europas und diesem Wandel über fast ein Jahrhundert hinweg gerecht zu werden.“
Schließlich führte er als dritte und letzte Stärke des diskutierten Werkes das konsequent angewandte Mittel des Vergleichs an: „Dieses Buch lebt mehr vom Vergleichen als viele andere Synthesen, und mit Vergleichen meine ich die systematische Frage nach Ähnlichkeiten und Unterschieden, um mit diesen so festgestellten Ähnlichkeiten und Unterschieden besser zu beschreiben, besser zu erklären, umfassender zu interpretieren. Das zeigt der Band in vielen Phasen. [...] Die Verfasser [...] erweisen sich den immer schwierigen Methoden des Vergleichens gewachsen, während ja viele in unserem Fach davor zurückscheuen und sich nur auf das eigene Terrain beschränken [...].“
Nicht zuletzt auf Grund dieser Stärken kommt er zu einem positiven Fazit: „Insgesamt ist das jedenfalls mein Versuch, dieses Buch nicht nur vorzustellen, sondern auch zu empfehlen.“
Adam Krzeminski als Moderator der Diskussionsrunde zieht den Vergleich zu den bereits zu Beginn dieses Berichts genannten und einigen weiteren Autoren und gelangt zu dem Schluss: „[Das Buch] ist eine wunderbare Ergänzung jener großen Synthesen, jener großen Essays, die wir haben, von Eric Hobsbawm, Dan Diner, Mark Mazower, auch von Nolte, auch von François Furet – hier bekommt der Leser die Informationen, die er dort nicht hat, d. h. diese detaillierten Informationen, die sehr oft leider auch das Ganze ausmachen. Man springt sehr schön über die großen Linien hinweg, aber wie war das denn real in Ungarn, in Polen? Und das bringt das Buch und das ist seine Leistung.“
Zugleich wies Krzeminski darauf hin, dass das Buch auf der anderen Seite auch zeige, „wie anfällig diese Demokratie in Europa ist“.
In der anschließenden Diskussion ging es in erster Linie um die im Buch besprochene dritte Demokratisierungswelle nach 1989 in Ostmitteleuropa, Osteuropa und Südosteuropa und die Frage, wie demokratisch das heutige Europa sei. Kann man von einer gelungenen Transformation sprechen? Wird die Demokratisierungswelle andauern oder kommt es zum Bruch der Demokratie wie nach der ersten Demokratisierungswelle in Europa 1918/19? Die Antworten fielen differenziert aus: Während man im Falle der baltischen Staaten wohl von gefestigten Demokratien sprechen könne, müssten Staaten wie Russland, aber auch Rumänien oder Bulgarien als defekte Demokratien bezeichnet werden – eine Entwicklung, die sich seit einigen Monaten auch für Polen abzeichnet.
Ganz aktuell wurde in diesem Zusammenhang die Ungarn-Problematik diskutiert, wo in den letzten Wochen eine prekäre Situation entstanden war. Einen Moment lang standen die Dinge gefährlich auf der Kippe, aber inzwischen habe sich die Lage wieder beruhigt. Was jedoch die genannten defekten Demokratien anbelangt, so wurde vor allem die zunehmend regulative Funktion der Europäischen Union thematisiert und dahingehend argumentiert, dass Brüssel es nicht zulassen werde, dass die autoritären Entwicklungen in den ostmitteleuropäischen Ländern in neue diktatorische Systemen mündeten, die Kontrolle und der Einfluss der EU in diesen Ländern sei bereits zu groß. Dem wurde entgegengehalten, dass durchaus die Gefahr der Errichtung von „Fassadendemokratien“ bestehe. Im Blick auf die Beeinflussung Polens durch Frankreich hätte sich Krzeminski eine Einbeziehung auch des Vichy-Regimes wie der Ära de Gaulles gewünscht. Dem widersprach Kocka deutlich: Eine solche Überdehnung des Diktaturbegriffs hätte dazu geführt, alle Katzen grau erscheinen zu lassen.