„Europäische Gedächtniskulturen“ – Zweite Sommeruniversität der Gedenkstätte Ravensbrück

„Europäische Gedächtniskulturen“ – Zweite Sommeruniversität der Gedenkstätte Ravensbrück

Organisatoren
Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/ Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Kooperation mit dem Internationalen Freundeskreis Gedenkstätte Ravensbrück, der Stiftung Topographie des Terrors und der Heinrich-Böll-Stiftung
Ort
Ravensbrück/ Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.08.2006 - 25.08.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Kunz, Berlin

„Europäische Gedächtniskulturen“ – so lautete das Thema der diesjährigen Sommeruniversität in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, die nach der erfolgreichen Premiere 2005 nun zum zweiten Mal stattfand. Vor dem Hintergrund der Geschichte der deutschen Konzentrationslager diskutierten die TeilnehmerInnen die in den einzelnen west- und osteuropäischen Ländern vorherrschenden kanonisierten Formen öffentlicher Erinnerung, die Differenzen und Gemeinsamkeiten in der Interpretation von Erfahrungen wie Deportation, Zwangsarbeit, KZ-Haft und Befreiung.
Der Plural im Titel wurde bewusst gewählt, denn dass von einer einheitlichen europäischen Gedächtniskultur keine Rede sein kann, war bereits nach den ersten Beiträgen offenkundig. Kontrovers diskutiert wurde die Frage, ob die These einer Konvergenz der verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen haltbar ist, oder ob sich aus der vorhandenen Vielfalt ein typisch westeuropäisches respektive osteuropäisches Modell des Umgangs mit Vergangenheit heraus destillieren lässt.
Insgesamt waren vier Schwerpunktthemen (Konzentrationslager, Verfolgung und Judenmord, Zwangsarbeit, Widerstand und Kollaboration) den vier Tagen zugeordnet. Sie wurden vormittags in je zwei Vorträgen (zur Ereignis- bzw. Rezeptionsgeschichte) überblicksartig skizziert, um nachmittags in Workshops exemplarisch vertiefend behandelt werden zu können.

Nach der Eröffnung der Sommeruniversität durch die brandenburgische Wissenschaftsministerin Johanna Wanka lieferte Angelika Königseder (Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin) in ihrem Überblicksreferat zum Thema Konzentrationslager eine profunde Einführung zur Entwicklung des nationalsozialistischen KZ-Systems, angefangen von den ersten „wilden“, noch relativ unsystematisierten und uneinheitlich verwalteten Lagern, in denen vor allem politische GegnerInnen inhaftiert waren, bis hin zur Herausbildung eines zentral von der „Inspektion der Konzentrationslager“ verwalteten Lagertypus. Sie stellte heraus, wie sich die Zusammensetzung der Häftlinge im Verlauf des Zweiten Weltkriegs veränderte, sich ihre Lebensbedingungen immer mehr verschlechterten und sich das NS-Regime mit mörderischer Konsequenz radikalisierte.

Einen Einblick in die Rezeptionsgeschichte der Shoah im europäischen und israelischen Bildgedächtnis gewährte der Vortrag von Monika Flacke (Deutsches Historisches Museum, Berlin). Anhand filmischer und photographischer Beispiele analysierte sie, wie Bilder Wirklichkeit konstruieren, und dabei nicht selten ihres Entstehungskontextes enthoben werden. In der Diskussion herrschte Uneinigkeit darüber, wie die von Monika Flacke konstatierte Universalisierung und Trivialisierung dieser Bilder zu bewerten sei, bzw. was sich überhaupt hinter diesen Begriffen verberge und ob ein kausaler Zusammenhang zwischen Universalisierung und Trivialisierung bestehe.

Drei parallele Workshops vertieften am Nachmittag die aufgeworfenen Problemstellungen: Zum einen ging Silke Wenk (Universität Oldenburg) der Frage nach, ob und inwiefern in Denkmalskulturen seit 1945 die großen „Meta-Erzählungen“ durch kleine, individuelle Erzählungen ersetzt worden seien, und welche Folgerungen daraus für die Repräsentation des nationalsozialistischen Massenmords zu ziehen seien. In der Debatte wurde betont, dass bei Denkmalssetzungen immer auch gesellschaftspolitische Fragen mitverhandelt würden, zum Beispiel die nach der Repräsentation und Anerkennung von Opfergruppen und deren Leiden als „legitimes Leiden“. Es gehe also stets um die Einschreibung in den bzw. um die Sichtbarmachung im öffentlichen Raum.

Philipp Neumann (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora) und Susan Hogervorst leiteten einen Workshop, in dem die Rolle des Internationalen Buchenwaldkomitees sowie des internationalen Ravensbrückkomitees in der KZ-Erinnerung untersucht wurde. Philip Neumann führte aus, dass das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) im April 1952 unter Bezugnahme auf das illegale Internationale Lagerkomitee sowie anderer im KZ Buchenwald bestehender Widerstandsorganisationen gegründet worden war. Es sei von französischen und deutschen Kommunisten dominiert worden, habe aber stets den Anspruch formuliert, Repräsentant aller ehemaligen Häftlinge zu sein. Der Erinnerungskanon des Komitees, wie er sich in zahlreichen Gedenkveranstaltungen und Publikationen manifestiert habe, war lange Zeit geprägt von der Hervorhebung der allgegenwärtigen Solidarität im Lager, vom Mythos der Selbstbefreiung des Lagers sowie vom „Schwur von Buchenwald“ als zentralem Vermächtnis aller Häftlinge.
Das internationale Ravensbrück-Komitee (IRK) wurde erst 1956 ins Leben gerufen. Nach der Einweihung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück 1959 endeten seine Aktivitäten fürs erste, ehe 1963 eine Neugründung erfolgte. Susan Hogervorst legte dar, wie in den Erklärungen und Kommuniqués des IRK sehr stark auf Topoi wie Weiblichkeit und Mütterlichkeit Bezug genommen wurde, nicht zuletzt im Kontext des Kalten Krieges und der Sorge um den Weltfrieden. Im Anschluss wurde darüber diskutiert, welche Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Gedenkpraktiken der beiden Komitees (re)produziert worden sind. Zudem wurde nach Gründen gesucht, wieso in beiden Komitees Französinnen bzw. Franzosen dominant vertreten waren und sind. Mögliche Erklärungsbausteine wären die Stärke und Organisiertheit der französischen Résistance sowie das Streben der kommunistisch geprägten Komitees nach größerer Anerkennung und Legitimation in den westeuropäischen Staaten.

Die dritte Arbeitsgruppe widmete sich unter der Leitung von Matthias Heyl (Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück) Erinnerungslandschaften in der europäischen Gedenkstättenpädagogik und – allgemeiner – in der pädagogischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der nationalsozialistischen Massenverbrechen. Gerade die schulische Beschäftigung mit Geschichte habe eine wichtige Rolle in der Konsensbildung des jeweiligen gesellschaftlichen Verständnisses in den verschiedenen Nationalstaaten gespielt, sei selber zugleich Ergebnis und Akteur dieser Konsensbildung (gewesen). Während in der direkten Nachkriegszeit in den ehemals von Deutschland besetzten Ländern der Versuch der Integration des Geschehenen in traditionale national(geschichtlich)e Narrative überwogen habe und die Überlebenden zuweilen mit dem Nichtintegrierbaren allein geblieben seien, haben die NS-Verbrechen für die Delegitimierung der bestehenden Verhältnisse ab Mitte der 1960er Jahre insbesondere für die »Neue Linke« in westeuropäischen Ländern eine wichtige Rolle gespielt. Seit Mitte der 1980er Jahre rückten zunehmend Themen in den Fokus, die als »Conflicting Memories« durchaus mit Ambivalenz verbunden seien – etwa Fragen von Täter- und Mittäterschaft (Kollaboration), (behaupteter) Zuschauerposition, »choices« (Entscheidungs- und Handlungsräume) und »choiceless choices« (Dilemmata).

Der Themenkomplex Verfolgung und Judenmord bildete den Schwerpunkt des zweiten Tages. In ihrem Überblicksvortrag schilderte Susanne Heim (Freie Universität Berlin) die verschiedenen Etappen, in denen sich der Verfolgungsdruck der Nationalsozialisten zunächst gegenüber den deutschen und nach Kriegsbeginn gegenüber der Gesamtheit der europäischen Juden mehr und mehr intensivierte und in einen beispiellosen Massenmord mündete. Auch die Reaktionen der verfolgten Juden, sei es in Form von Auswanderung(shilfe), von Unterstützung aus dem Ausland, von Kindertransporten in vermeintlich sichere Länder oder von Aktivitäten der Judenräte, wurden ausführlich dargelegt.

Stefan Troebst (Universität Leipzig) kam die Aufgabe zu, sich der Rezeptionsgeschichte sowohl der Shoah als auch des GULag-Systems im erweiterten Europa anzunehmen. Als Einstieg wählte er den in der Stockholmer Deklaration formulierten Erinnerungsimperativ der „alten EU“, nach dem die Erinnerung an die Shoah wachzuhalten und zu vertiefen sei. Für die ostmitteleuropäischen Länder sprach er von einem „GULag-Gedächtnis“, das mit einer antisowjetischen Grundhaltung in diesen Ländern verknüpft sei. Im Anschluss rekonstruierte er die Kontroverse zwischen der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete, die als Kind deportierter Letten in Sibirien aufwuchs, und dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Salomon Korn: Kalniete hatte in einer Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004 davon gesprochen, dass nach 1945 der Terror in der östlichen Hälfte Europas weitergegangen sei und bescheinigte dem NS-Regime und der stalinistischen Sowjetunion ein gleiches Maß an Kriminalität und Brutalität. Korn kritisierte diese Aussagen vehement, da sie von der aktiven Teilnahme der baltischen Staaten am Judenmord absähen. Stefan Troebst resümierte seine Ausführungen dahingehend, dass die Botschaft Kalnietes im Laufe der vergangenen zwei Jahre angekommen sei und heutzutage, wenn sie in ähnlicher Form formuliert werde, keinen Eklat mehr provozieren würde. In der Diskussion wurde auf die Funktion des Gedenkens an die NS-Okkupation in den osteuropäischen Ländern rekurriert, die je nach Selbstverständnis und historischer Konstellation segmentär gewesen sei. In den baltischen Ländern etwa gelte die deutsche Besatzung als „softe“ Form der Eigenstaatlichkeit. Debatten über Kollaboration würden als von außen aufgenötigt abgetan, und baltische Freiwillige in der Waffen-SS primär als Kämpfer gegen die Rote Armee betrachtet.

In weiteren vier Workshops wurde am Nachmittag der Umgang mit einzelnen Aspekten des nationalsozialistischen Völkermords nach 1945 thematisiert. Peter Rosenbaum (University of Pennsylvania) widmete sich dem Sujet (dokumentar)filmischer Darstellungen der Shoah nach 1945, d.h. der Frage, wie sie filmisch inszeniert und repräsentiert wird. Monika Kovács (Hannah Arendt Association, Budapest) befasste sich mit der Integration der Shoah in nationale Narrative und Erinnerungskulturen. Sie warf die Frage auf, wie die Shoah ein derart zentraler Referenzpunkt im Denken der Nachfahren sowohl der Überlebenden, aber auch der TäterInnen und der ZuschauerInnen werden konnte. Während die Identifizierung mit den Opfern nicht sonderlich schwer falle, habe in Deutschland sogar Täterschaft in das kollektive Erinnern integriert werden können, und zwar insofern, als nicht selten Stolz über den Umgang mit bzw. der Bewältigung der „Last“ der Vergangenheit artikuliert werde. Die Rückkehr von Überlebenden der Shoah in die Nachkriegsgesellschaften und ihre Integration in diese thematisierte Sabine Kittel (Berlin). Im Vergleich zu anderen Verfolgtengruppen hätten sie mit ungleich größeren Problemen zu kämpfen gehabt, da ihre Familien durch die Deportation zerschlagen und die jüdischen Gemeinden fast völlig ausgelöscht worden waren. Zudem seien sie auf wenig Interesse an ihrem Schicksal gestoßen und vom Erlebten traumatisiert gewesen. In der Diskussion herrschte Konsens über die Notwendigkeit, genauer herauszuarbeiten, wie die unterschiedlichen Gruppen von Überlebenden in den einzelnen Ländern behandelt wurden. Izabela Dahl (HU Berlin) und Simone Erpel (Berlin) leiteten eine Arbeitsgruppe zur Rezeption der „Aktion Weiße Busse“ in den skandinavischen Ländern. Das Bild des neutralen Schwedens als „Retternation“ bekam in den 1990er Jahren erste Risse, als Vorwürfe laut wurden, jüdische Häftlinge seien bei den Evakuierungsaktionen in nur sehr geringer Zahl vertreten gewesen. Ferner wurden, um Platz für die skandinavischen Häftlinge zu schaffen, ca. 2.000 andere Häftlinge aus Neuengamme in Außenlager mit noch schlechteren Bedingungen verlegt.

Der dritte Tag der Ravensbrücker Sommeruniversität war dem Themenbereich Zwangsarbeit gewidmet. In seinem Überblicksreferat skizzierte Helmut Bräutigam (Evangelisches Johannesstift Berlin) Entwicklung, Bedingungen und Formen von Zwangsarbeit im Dritten Reich. Er beschrieb zunächst die verschiedenen Gruppen, die zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden: zwangsweise rekrutierte FremdarbeiterInnen, Kriegsgefangene, rassistisch Ausgegrenzte sowie KZ-Häftlinge. Bräutigam veranschaulichte, wie Zwangsarbeit das Alltagsbild im Nationalsozialismus prägte, denn in beinahe allen Privatunternehmen sowie öffentlichen Einrichtungen waren ZwangsarbeiterInnen tätig. Dennoch habe ein Spannungsverhältnis zwischen der ökonomischen Rationalität einer möglichst effektiven Ausbeutung der Arbeitskraft der ZwangsarbeiterInnen und der rassistischen Ideologie im NS bestanden. In der folgenden Diskussion wurde kritisch angemerkt, dass die Geschlechtsspezifik von Zwangsarbeit im Vortrag außen vor geblieben sei. Die weiblichen Zwangsarbeiterinnen, die 1944 immerhin ein Drittel der Gesamtzahl ausmachten, seien den Männern einfach subsumiert worden. Zudem wurde der „Modernisierungseffekt“ im Sinne der Einführung neuer, rationaler Fertigungsmethoden angesprochen, den der Einsatz von ZwangsarbeiterInnen für die deutsche Wirtschaft mit sich gebracht habe. Über die Frage nach der Rezeption der NS-Zwangsarbeit in Mittel-Osteuropa referierte Günter Saathoff (Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft). Er veranschaulichte, wie in Westdeutschland bis vor 15 Jahren Zwangsarbeit unter dem NS-Regime offiziell als „übliche“ Begleiterscheinung von Krieg abgewiegelt wurde, während die DDR, die sich nicht als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches verstand, genauso wenig einen Anlass für Entschädigungszahlungen in andere Länder gesehen habe. Auch sei aus den betroffenen Ländern, allen voran der Sowjetunion, kein politischer Druck entwickelt worden. Trotz der mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hereinbrechenden Zäsur hätten die meisten ehemaligen ZwangsarbeiterInnen aus diesen Ländern erst durch die Leistungen der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung, Zukunft“ Gelder erhalten.

Zur Vertiefung der Themenstellungen fanden am Nachmittag vier Workshops statt. Die von Carola Sachse (Universität Wien) geleitete Arbeitsgruppe erörtete die Frage, welche Rolle die Kategorien „Rasse“ und „Geschlecht“ im politischen System, der betrieblichen Praxis und der individuellen Erfahrung von Zwangsarbeit im NS gespielt haben. Unklarheiten traten bei der Frage nach der exakten Definition des Begriffs „Zwangsarbeit“ auf: Lässt sich etwa das Phänomen der Zwangsprostitution darunter subsumieren? Ramona Saavedra Santis zeichnete in ihrem Workshop die Veränderung der Wahrnehmung der fünf Millionen ehemaliger NS-ZwangsarbeiterInnen in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland nach. Während des Krieges durchaus als Opfer betrachtet, seien sie nach Kriegsende als Verräter gebrandmarkt worden und hätten in der offiziellen, auf die siegreichen Heroen des „Großen Vaterländischen Krieges“ zugeschnittenen Gedenkkultur keinen Platz gefunden. Thomas Irmer (Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen) rekonstruierte die Auswirkungen von NS-Zwangsarbeit auf die Nachkriegsentwicklung von Privatunternehmen in Deutschland am Beispiel des AEG-Konzerns. Den Prozess der Entschädigung ehemaliger NS-ZwangsarbeiterInnen beleuchtete Jakub Deka aus polnischer Perspektive. Deka arbeitet für die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung in Warschau, die als Partnerorganisation der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft die Auszahlung an Leistungsberechtigte in Polen durchführte. Er berichtete, dass die nach dem Krieg heimkehrenden ZwangsarbeiterInnen in Polen zwar keinen Repressionen unterworfen gewesen seien, aber auch keine Opferverbände gegründet und jahrzehntelang, bis in die 1980er Jahre hinein, über ihr Schicksal geschwiegen hätten.

Dem Schwerpunktthema Widerstand und Kollaboration war der vierte Tag der Ravensbrücker Sommeruniversität gewidmet. Christoph Dieckmann (Keele University, Staffordshire) präsentierte einen Einführungsvortrag zum weiten Spektrum an Verhaltensweisen einheimischer Bevölkerungen gegenüber den deutschen Besatzern im Zweiten Weltkrieg, das mit dem Begriffspaar „Widerstand und Kollaboration“ nicht angemessen beschrieben sei. Er plädierte dafür, den Begriff der „Kollaboration“ wegen seiner moralischen Überfrachtung und politischen Aufgeladenheit aus dem analytischen Kategoriengerüst zu verbannen und durch „Kooperation“ zu ersetzen. Am Beispiel von Litauen schilderte er eindringlich, dass kein notwendiger Gegensatz zwischen dem ethnischen Nationalismus der unter Besatzung lebenden LitauerInnen und der Kollaboration mit den deutschen Besatzern bestanden habe. Vielmehr sei auch auf litauischer Seite von handelnden Akteuren mit eigenen Interessen auszugehen, die sich zum Teil, etwa bei der Ermordung von 150.000 in Litauen lebenden Juden, mit denen der Besatzer gedeckt hätten. Die litauischen Juden sah Dieckmann in einer tödlichen Falle, inmitten einer feindlichen Umgebung hätten sie sich „choiceless choices“ gegenüber gesehen. Abschließend sprach sich Dieckmann dafür aus, die Bewertung der moralisch ambivalenten Entscheidungen, die den Akteuren durch die deutsche Besatzung aufgezwungen worden seien, stets an konkrete Situationen zu binden, und dabei Grautöne nicht zu übersehen. In der Diskussion wurde die Rezeptionsgeschichte des Kollaborationsvorwurfs in Litauen angesprochen: Indem die Sowjetunion die nationale litauische Regierung der Kollaboration mit den Faschisten bezichtigt habe, habe sie die Einverleibung Litauens in ihren Herrschaftsbereich legitimiert. Daher sei es auch für viele LitauerInnen so schwierig, mit der eigenen Vergangenheit selbstkritisch umzugehen.

Dorothee Wierling (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg) kam daran anknüpfend die Aufgabe zu, die Manifestationen von Widerstand und Kollaboration im europäischen Gedächtnis zu untersuchen. Sie erläuterte, wie in den Nachkriegsgesellschaften Erzählungen von Widerstand der kollektiven Selbstfindung dienten, während das Thema Kollaboration als „Schande der Nation“ im öffentlichen Diskurs tabuisiert worden sei. Brüche in diesem starren Schema datierte sie auf die 1980er Jahre. Für Deutschland sei von zwei konträren Geschichten auszugehen: In Westdeutschland habe sich der zunächst sehr eng gefasste Widerstandsbegriff in den 1960er Jahren im Zuge der sich ausbreitenden Alltagsforschung merklich erweitert, und auch die Figur des „Mitläufers“ habe an Beachtung gewonnen. In der DDR dagegen sei das breite Widerstandsspektrum auf die kommunistische Opposition reduziert und der populäre Charakter des NS gänzlich ignoriert worden. Während öffentliches, oftmals legitimationsstiftendes Gedenken nach Eindeutigkeit trachte, sei das private Gedächtnis mehrdeutiger, widersprüchlicher, dürfe aber nicht als gänzlich individueller Akt missverstanden werden, da jegliches Erinnern in einem sozial präfigurierten Erinnerungszusammenhang stattfinde. In der Debatte wurde vermerkt, dass der Begriff eines „nationalen Gedächtnisses“ zwar eine Fiktion bzw. ein Konstrukt sei, aber als solche sehr effektiv. Zudem könne man nicht von homogenen Gedenkkulturen sprechen, sondern eher von einer konfliktiven Erinnerung konkurrierender Erzählgemeinschaften.

Vier Workshops zu nationalen und literarischen Repräsentationen von Widerstand und Kollaboration rundeten den Tag ab. Mechtild Gilzmer (TU Berlin) widmete sich der französischen Erinnerungs- bzw. Denkmalskultur und konstatierte trotz aller Konflikte insgesamt eine „Demokratisierung von Erinnerung“, in deren Verlauf letztlich jede Opfergruppe ihren Platz gefunden habe. Die Arbeitsgruppe um Katja Jedermann (UdK Berlin) wandte sich den nationalen Gedenkräumen im ehemaligen Zellenbau der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zu, die in den 1980er Jahren neu konzipiert wurden und gleichzeitig als Ausstellungs- wie als Gedenkräume fungieren. Sie ging der Frage nach, wie in einzelnen Räumen Widerstehen und Leiden von Frauen im Kontrast zur heroischen Darstellung männlichen Kampfes präsentiert wird, d.h. wie aus der Gender-Perspektive die einzelnen Repräsentationen zu interpretieren sind. Constanze Jaiser (Berlin) untersuchte anhand zweier Textauszüge des ehemaligen Ravensbrück-Häftlings Rita Sprengel, wie die Themen Widerstand und Kollaboration in literarischen Darstellungen angeschnitten werden. Das Beispiel Slowenien wurde im Workshop von Silvija Kavcic näher erörtert. Während im sozialistischen Jugoslawien der heldenhafte Widerstand der PartisanInnen im Zweiten Weltkrieg, der auch als Gründungsmythos den jugoslawischen Staat fundierte, im Zentrum kollektiven Gedenkens gestanden habe, werde in Slowenien nach der Zäsur von 1989 primär der Kollaborateure gedacht. In der folgenden Diskussion wurde dafür plädiert, die den Begriffen Kollaboration und Widerstand immanente Dichotomie zu überwinden, analog zur abnehmenden Polarisierung in vielen Gesellschaften, wo mittlerweile die verschiedenen Gruppen ihre jeweils eigenen Denkmäler errichten und Rituale pflegen könnten.

Am letzten Tag besichtigten die TeilnehmerInnen der Zweiten Ravensbrücker Sommeruniversität das neu eröffnete Dokumentationszentrum zur NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Den Abschluss bildete eine Podiumsveranstaltung zum Thema „Europäische Geschichte und nationale Erinnerungskulturen“ in den Räumen der Heinrich-Böll-Stiftung. In seinem einleitenden Vortrag machte Stefan Troebst (Universität Leipzig) eine erinnerungskulturelle Vierteilung in Europa aus: Während in Westeuropa (z.B. in Frankreich) Befreiung und Widerstand zentralen Stellenwert genießen würden, werde in Westmitteleuropa (v.a. in Deutschland) sowohl der Befreiung als auch des Bombenkriegs gedacht. In Ostmitteleuropa (z.B. in Polen) werde sowohl an die NS-Besatzung als auch an die z.T. ebenfalls als Besatzung wahrgenommene Periode kommunistischer Herrschaft erinnert, während für die Gedächtniskultur Osteuropas (z.B. Russlands) der Sieg über Hitlerdeutschland nach wie vor von fundamentaler Bedeutung sei. Bezüglich des erinnerungskulturellen Umgangs mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit verwies Troebst auf die enormen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern. Am Ende formulierte er als These, dass der nationalstaatliche Bezugsrahmen von Gedenken der primäre sei und auch bleiben werde, und dass die erinnerungskulturelle Vierteilung Europas sich eher weiter vertiefen denn auflösen werde. Mechtild Gilzmer (TU Berlin) fokussierte in ihrem Ko-Referat die Entwicklung in Frankreich. Dort könne man nach 1945 vier Phasen des Erinnerns unterscheiden: Die Periode der „unvollendeten Trauer“ bis Mitte der 1950er Jahre, den Abschnitt der Verdrängung bis 1968, gefolgt von der Rückkehr des Verdrängten und einer obsessiven Beschäftigung mit Vergangenheit, die bis in die Gegenwart andauere. Ein zweites Ko-Referat zur österreichischen Spezifik in der Erinnerung steuerte Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) bei. Sie lieferte einen Überblick über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Österreich, in dessen Außendarstellung lange Zeit der Mythos vom ersten Opfer Hitlers aufrechterhalten worden sei, während sich im Familiengedächtnis eine Verschiebung hin zu einer Stilisierung als Opfer des alliierten Krieges gegen den NS vollzogen habe. Erst in den Kontext der heftig ausgetragenen Waldheim-Debatte in den 1980ern verortete Uhl eine Dekonstruktion vieler Geschichtsmythen.

Wie könnte nach diesen hochwertigen Beiträgen und intensiven Diskussionen ein inhaltliches Fazit der Zweiten Ravensbrücker Sommeruniversität aussehen?
Den TeilnehmerInnen wurde eindrucksvoll vor Augen geführt, wie viele Facetten das Thema „Europäische Gedächtniskulturen“ umfasst, und wie omnipräsent das öffentliche Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, an NS-Massenmord, Krieg und Besatzung heute, über 60 Jahre danach, immer noch ist. Praktiken und Formen dieses Gedenkens manifestieren sich u.a. in offiziellen Gedenkfeiern und -narrativen, in Filmen, Bildern, Texten, Denkmälern und Skulpturen. Ebenso vielfältig gestaltet sich das Spektrum der gedenkenden Akteure, das von staatlichen Organen und RepräsentantInnen über Parteien und Verbände bis zu zivilgesellschaftlichen Initiativen reicht. Dennoch ist Gedenken nie universell, sondern es wird stets partikularen Gruppen oder Individuen gedacht. Die Geschlechtsspezifik von Gedenkpraktiken kam in vielen Beiträgen zur Sprache: Sei es, dass in Gedenkveranstaltungen wie in Ravensbrück lange Jahre auf Topoi wie Weiblichkeit und Mütterlichkeit rekurriert wurde, was sich nicht zuletzt in der Formensprache der Gedenkstätte niederschlägt, sei es, dass vielerorts im auschließlichen Erinnern an den als heroisch, tapfer, und (männlich) kämpferisch charakterisierten Widerstand gegen die deutsche Besatzung spezifisch weibliche Widerstandsformen ausgeklammert wurden.
Ferner wurde deutlich, dass die unterschiedlichen Gedächtniskulturen weder in sich homogen sind noch etwas fertiges darstellen, sondern permanenten Deutungskonflikten unterworfen sind, was nicht ausschließt, dass in Gesellschaften hegemoniale Interpretationen von Geschichte existieren, die in der Regel von öffentlich-staatlichen Instanzen unterfüttert werden. Andererseits zeigten die unterschiedlichen Beiträge, dass sich in demokratischen Gesellschaften früher oder später eine Pluralität des Gedenkens herausbildet, wenngleich keineswegs von einem linearen Prozess ohne Brüche und Zäsuren auszugehen ist.
Nicht zuletzt deswegen ist der Begriff der Gedächtniskultur stets in der Mehrzahl zu verwenden; auf europäischer Ebene kann erst recht nicht von einer Gedächtniskultur die Rede sein, sondern eher von nebeneinanderstehenden Gedächtniskulturen, die höchstens teilweise Gemeinsamkeiten aufweisen: So lassen sich, zumindest in Westeuropa, konvergierende Formen und Praktiken des Shoah-Gedenkens konstatieren, die dennoch in ihren je nationalen Kontext eingebunden bleiben.


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