Vom 27. bis 30. März 2007 fand auf der Klosterinsel Reichenau (Bodensee) die von Theo Kölzer und Rudolf Schieffer organisierte Frühjahrstagung des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte zum Thema „Von der Spätantike zum Frühmittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde“ statt.
Einleitend skizzierte Theo Kölzer (Bonn) die Thematik der Tagung anhand der Darlegung grundlegender Fragestellungen und dringender Forschungsdesiderate. Nach einer längeren Phase abnehmender Bearbeitungsintensität zugunsten hoch- und spätmittelalterlicher Thematiken sei das Frühmittelalter voraussichtlich wieder auf dem Wege in den Fokus der Mediävistik. Deutlich stellten sich hierbei erneut zwei Grundfragen: das Problem historischer Periodenbildung und die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen an der Schwelle von Antike und Mittelalter.
Die Beantwortung dieser Fragen habe in der älteren Forschung zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen geführt und diese sollten unter Berücksichtigung von Vorwissen, Methodik, den Mechanismen der Theoriebildung und eventuell vorhandener ideologischer Überwölbungen kritisch hinterfragt bzw. neu beantwortet werden. Insbesondere in der Auseinandersetzung mit verschiedenen „Katastrophentheorien“ universaler Reichweite, die oft von harten Brüchen zu bestimmten Zeitpunkten (etwa der Absetzung des Romulus Augustu[lu]s) ausgingen, bliebe als Ergebnis multiperspektiv und kleinräumig orientierter Untersuchungen der jüngeren Zeit eher die Hinweise auf örtlich und zeitlich unterschiedlich be- und entschleunigte Wandlungsprozesse zwischen dem 3. und dem 7. Jahrhundert nach Christus festzuhalten. Dies zeige etwa die neu belebte Diskussion um den Charakter der fränkischen Wanderungsbewegungen im Spannungsfeld zwischen „Eroberung“ und „Landnahme“, in der insbesondere auch Sprachforschung und Archäologie neue Akzente (etwa in Bezug auf kulturelle Austauschprozesse und die Ethnogenese) setzen konnten. Hier gelte es laut Kölzer in zweifacher Hinsicht weiterführend anzusetzen: zum einen durch den generellen methodischen Wechsel zur dichten Beschreibung von Kleinräumen, zum anderen durch die Klärung der theoretischen Grundannahmen von Forschungszielen und Forschungsbegriffen.
Alexander Demandt (Berlin) behandelte im Abendvortrag „Die Zeitenwende von der Antike zum Mittelalter“. Auch Demandt betonte zunächst in einem historischen Exkurs die von Jahrhundert zu Jahrhundert stark differierenden und offenbar sehr zeitbedingten Periodisierungen und Betonungen von Umbruch und Kontinuität. So habe sich die Katastrophentheorie im Mittelalter vor dem Hintergrund einer heilsgeschichtlich erwünschten Kontinuität des Imperium Romanum nicht durchsetzen können und sei – zusammen mit einer mitunter totalen Abwertung des Mittelalters – genuin humanistischer Herkunft, während die Romantik – und in ihrem Gefolge die Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts – ein ungleich positiveres Mittelalterbild gehabt habe. Die Stellungnahme der heutigen Forschung solle sich unter der dichotomen Leitfrage nach spätantiken Traditionen und „neuen“, spezifisch mittelalterlichen Erscheinungsformen an der Bearbeitung bestimmter Themenbereiche wie etwa Kirche, Grundherrschaft und Militär orientieren.
Gerade im letzteren Bereich, den Demandt im Folgenden ausführte, zeige sich seit der Spätantike ein beachtlicher Qualitätsverlust staatlicher Leistungsfähigkeit, der mit einer gewissen „Privatisierung“ des Kriegswesens einher ging: An die Stelle formaler Legitimation und einseitiger Loyalitätsverpflichtungen sei die faktische Macht des bewaffneten Anhangs und das Verhältnis auf Gegenseitigkeit getreten. Dieser „Verdrängung institutionalisierter Befehlsgewalt“ habe auch eine zunehmende Ungenauigkeit der römischen Begriffsverwendung zur Charakterisierung der germanischen Anführer entsprochen, sodass man etwa dux und rex kaum trennscharf und eindeutig gebrauchte. In dieser Perspektive würden auch andere Elemente des von der älteren Forschung stark betonten, spezifisch „germanischen (Sakral-)Königtums“ relativiert. Auch die „mittelalterliche“ Monarchie erscheine so als Ergebnis eines durch kulturellen Austausch bedingten Entwicklungsprozesses.
Den zweiten Tagungstag leitete der Vortrag „Sprachliche Integration, Sprachinseln und Sprachgrenzbildung im Bereich der östlichen Gallia. Das Beispiel der Franken und der Burgunden“ von Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken) ein. Seine Aufmerksamkeit galt der Frage wann, in welchem Sektor und wo sich germanische Sprachen sprechende gentes akkulturierten. Durch eine Untersuchung von Phonologie, Morphologie, Namen, Lexik der burgundischen „Trümmersprache“ und insbesondere des burgundischen Lehnwortschatzes im Frankoprovinzialischen konnte Haubrichs auf eine unterschiedliche Geschwindigkeit des Ausgleichs und der gegenseitigen Beeinflussung von burgundischer und romanischer Kultur schließen, der relativ rasch zu einer bilingualen Kultur geführt habe, die sich bis spätestens in die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts erhielt. Dieser Akkulturationsprozess sei jedoch stark ortsabhängig gewesen und der ländliche Raum einer stärkeren und länger anhaltenden Burgundisierung ausgesetzt gewesen als die civitates.
Andersartig zeige sich hingegen die Entwicklung des Fränkischen, das im Gegensatz zum Burgundischen eher als „ineinander fließendes Kontinuum von Sprachfamilien“ zu charakterisieren sei, im nördlichen Gallien. Die erneute sprachwissenschaftliche Untersuchung – insbesondere jene der alle gesellschaftlichen Sektoren umfassenden fränkischen Lehnworte – deute hier, so das Ergebnis, auf eine lang andauernde Kontakt- und Austauschsituation vom 4. bis zum 7. Jahrhundert hin, die gleichsam zu einer „Kreolisierung“ der Gesellschaften geführt habe.
Im zweiten Vortrag des Vormittags wählte Arnold Angenendt (Münster) „Die Kirche als Träger der Kontinuität“ zum Thema. Die Frage nach Kontinuität und Wandel von christlicher Religion und Kirche könne man in Anlehnung an die Unterscheidung von „weltbeheimateter“ Primärreligion und „herzbeheimateter“ Sekundärreligion durch Jan Assmann beantworten. In dieser Perspektive sei die „religiöse Revolution“ der Spätantike auch als „Revolvierung zur Primärreligion“ anzusehen, die allmählich tief greifende gesellschaftliche Wirkungen gezeitigt habe: so seien zum einen im Gegensatz zu philosophischen, juristischen und medizinischen Modellen der Welterklärung nun wieder religiöse Interpretationsansätze dominierender, zum anderen habe sich die Religionspraxis vom logos entfernt und sei dem bios gleichsam „direkt zu Leibe gerückt“, wie sich etwa im Wandel der Hostie vom platonischen Abbild zum „realblutigen Opfer“ zeige. Ähnliches lasse sich hinsichtlich der Bischofsideale beobachten, wo die Verehrung asketischer Lebenspraktiken an die Stelle klassischer Bildungsideale trete.
Dass es sich hierbei nicht nur um eine „Pause des Unvermögens“ (Aubin) im Strom der Kontinuität handelte, zeige sich durch die hochmittelalterlichen Versuche einer kritischen Scheidung und aktiver Neubelebung sekundärreligiöser Elemente, die alle Arten von „Renaissancen“ ausgezeichnet habe. Dem Neueindringen des Opfergedanken sei es über den Umweg des Bußwesens auch zu verdanken gewesen, dass Schenkungen an kirchliche Institutionen und somit der Aufbau umfangreicher Herrschaftskomplexe möglich wurden. Aber auch auf anderen Gebieten gelte es die Vorstellung von der „Agentur Kirche als Kontinuum“ kritisch zu hinterfragen, wie sich z.B. hinsichtlich der Bekämpfung der Sklaverei oder der Stärkung der Ehe durch die frühmittelalterliche Kirche zeige.
Nach der Mittagspause widmete sich Horst Wolfgang Böhme (Marburg) in seinem Vortrag „Der archäologische Befund“ einer durch Grab- und Siedlungsfunde gestützten Neubewertung der „Migrationsbewegungen“ germanischer Volksgruppen nach Nordgallien. Die Untersuchung der Grabbeigaben und Bestattungssitten zahlreicher Nekropolen in den ehemaligen Provinzen Belgica secunda und Lugdunensis secunda deute für das 4. und 5. nachchristliche Jahrhundert eine recht starke Bevölkerungsschicht an, die aus den Gebieten östlich des Rheins stamme und ihre Traditionen, etwa die gefibelte Peplos-Tracht, zunächst beibehielt. Wenige Generationen später hätten sich diese Einwanderer jedoch bereits weitgehend assimiliert, was sich wiederum an den Grabbeigaben zeige. Offensichtlich siedelten diese Personengruppen häufig an der Stelle ehemaliger römischer villae, was ebenso wie das stetig andauernde, jahrhundertelange Vordringen nicht für eine gewaltsame Eroberung sondern eine geregelte Einwanderung unter gezielter Zuweisung durch römische Verwaltungsträger spreche. Statt „Herrensitze“ finde man eher die Hinterlassenschaften einer bäuerlichen Gesellschaft.
In ähnlich friedlicher Weise seien auch „reichsgermanische“ Soldaten bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts im Grenzgebiet der Germania secunda in römische Dienste getreten. Diese gallo-römische Mischkultur sei ab dem 5. Jahrhundert recht nahtlos in die Merowingerzeit übergegangen wie die bruchlose Kontinuität der Gräberfunde im nordöstlichen Gallien zeige. Der Grund für die gelungene Integration dieser Bevölkerungsgruppen sei in den jahrhundertelangen Kontakten der grenznahen Völker germanischer Sprachen zu suchen, die es ihnen leicht gemacht hätten, sich dem Kulturniveau des römischen Reiches anzupassen.
Den zweiten Sitzungstag beschloss Dieter Geuenich (Duisburg-Essen) mit seinem Vortrag „Der Kampf um die Vormachtsstellung am Ende des 5. Jahrhunderts. Das Beispiel der Alemannen zwischen Franken und Ostgoten“. Geuenich eröffnete mit der These, dass es keine zwingende Analogie in der Entwicklung der „Verbandsstrukturen“ (Hagen Keller) bei den völkerwanderungszeitlichen gentes gegeben habe. Dies zeige sich deutlich am Beispiel der Alemannen: Im 4. Jahrhundert habe durchaus die Chance bestanden, diese in den imperialen Machtbereich zu integrieren, da Rom versucht habe, die militärische Bedrohung durch vertragliche Bindungen zu neutralisieren. Zum Teil hätten sich die Alemannen damals an die römische Kultur angenähert, wie sich in der Übernahme römischer Namen und Ämter zeige. Nach dem Jahr 365 seien diese Ansätze jedoch unterbrochen worden, was letztlich auch zum Ausscheiden der Alemannen aus dem Kampf um das „Erbe Roms“ und dem Reüssieren der Franken geführt habe.
Frage man nun nach den Gründen der alemannischen Unterlegenheit, so sieht sie Geuenich vor allem in den weniger intensiven Kontakten der Alemannen zur römischen Welt im 5. Jahrhundert: So habe erstens die alemannische Reichsgründung nicht auf römischem Boden stattgefunden, das alemannische Siedlungsgebiet habe nicht über die „Infrastruktur römischer Traditionen“ – wie etwa Bischofsstädte – verfügt. Zweitens seien die Alemannen im Gegensatz zu anderen gentes noch weit entfernt vom Christentum gewesen. Drittens schließlich habe es – was sich auch aus dem intergentilen Konnubium erschließen lasse – keine monarchische Spitze bzw. keine stirps regia gegeben; die alemannischen Könige seien wohl eher Träger eines römischen Ehrentitels gewesen. Erst unter fränkischer Herrschaft sei schließlich die Akkulturation der Alemannen erfolgt.
Den dritten Sitzungstag eröffnete der Vortrag von Matthias Becher (Bonn), der „Herrschaft und Verwaltung zwischen Neubeginn und Kontinuität“ behandelte. Becher postulierte eingangs, dass die Auffassung der früheren Forschung, die im Königtum der Franken das „Musterbeispiel einer genuin germanischen Institution“ sah, größtenteils revidiert werden müsse – so sei etwa der fränkischen Königsherrschaft der Charakter eines Sakralkönigtums abzusprechen. Demgegenüber bleibe das Element des „Heerkönigtums“ trotz aller Kritik wichtig. Allerdings sei der römische Einfluss nicht zu unterschätzen, dienten doch auch fränkische Könige im römischen Heer. Sie hätten als Heermeister am Ende des 4. Jahrhundert eine gleichsam überkaiserliche Stellung erreicht. Dabei hätten diese Heermeister durchaus römische Traditionen aufgenommen, wie sich etwa in der bruchlosen Kontinuität des Soldateneides zwischen Spätantike und Merowingerzeit und der weiterhin wichtigen Anerkennung fränkischer Könige durch die römischen Kaiser zeige.
Im Folgenden wandte sich Becher einer Erörterung des fränkischen Adelsbegriffs zu. Definiere man als Begriffsinhalt von Adel die Möglichkeit einer bestimmten Personengruppe, die königliche Macht einzuschränken, so sei der Adel kaum in den von Gregor von Tours genannten proceres bzw. priores zu suchen, unter denen enge Vertraute des Königs ohne eigene Machtstellung zu verstehen seien. Vielmehr sei der Adel im populus zu sehen, der sich nicht aus einfachen Freibauern zusammensetzte, sondern die Gefolgschaft des Königs – principes mit wiederum eigener Gefolgschaft – umfasste. Hierbei sei jedoch zu bedenken, dass der Adel zur Frankenzeit nicht demjenigen des 19. Jahrhundert entspreche, sondern eher die mit fränkischen Traditionen vereinbare Herrschaft über andere Leute bezeichne. Da letztlich auch der fränkische Adel eher den Traditionen einer „Gefolgschaft unter Herren in römischen Diensten“ entspringe, könne man als Fazit festhalten, dass die Reichsbildung der Franken wohl stärker durch Rom geprägt war, als früher angenommen wurde.
Stefan Esders (Berlin) stellte in seinem Vortrag „‚Öffentliche’ Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde“ das „Steuerwesen“, mit dem alle Forschungsdiskussionen des Tagungsthemas um Kontinuitäten und Brüche eng verknüpft seien, in den Mittelpunkt seiner Erwägungen. Dabei sei von einer stärkeren gegenseitigen Durchdringung der Entwicklungsprozesse von Abgabenwesen, unentgeltlichen Leistungspflichten und öffentlich genutzten Fiskalgütern auszugehen. So könne erstens am Beispiel des paraveredus (der Stellung von „Bedarfsdienstpferden“) verdeutlicht werden, wie der Transformationsprozess vom allgemeinen, spätantiken munus zum durch den Bedarf geprägten, frühmittelalterlichen servitium vonstattenging. Zwar sei bei diesem Prozess von einer gewissen Kontinuität zu sprechen, diese sei jedoch eher funktional geprägt gewesen. Interessant sei dabei vor allem das „ausgreifende Funktionsgefüge“ der Grundherrschaft, welches „Dinge aufsaugte und nach seiner Organisationslogik umgestaltete“ und so auch „private“ und „öffentliche“ Elemente auf lokaler Ebene vermengte. Zweitens habe auch das Militärwesen einen hohen Einfluss auf die Abgabenstruktur ausgeübt, wie Esders am Beispiel militärischer Dienste und Ersatzabgaben in der Entwicklung vom spätantiken iugum zum frühmittelalterlichen mansus ausführte. So zeigten sich hinsichtlich der „Zwangsvereinigung von Gestellungsverbänden“ deutliche Parallelen zwischen der spätantiken Kombination von Militärdienst und Abgabenwesen und den entsprechenden Verfügungen Karls des Großen. Diese Parallelen seien jedoch wohl eher strukturell bzw. entwicklungsgeschichtlich bedingt (Weiterführung der spätantiken Einheit von Germanenansiedlung, Rekrutenaushebung und Steuersystem) als auf eine bewusste Rezeption zurückzuführen. Dennoch würde gerade hier hinsichtlich der Frage frühmittelalterlicher Geldwirtschaft deutlich, dass man noch im 9. Jahrhundert recht problemlos Dienstpflichten in Geldabgaben umrechnen konnte.
Schließlich verdeutlichte Esders drittens am Beispiel fiskalischer Güter, Einkünfte und Rechte die Entwicklung von der „Zession“ zur „Leihe“. Gerade bei der Verteidigung von Grenzräumen kam der Rechtsfigur der „Zession“ offensichtlich eine wichtige „Scharnierfunktion“ beim Übergang von spätantiken zu frühmittelalterlichen Herrschaftsformen zu. So seien etwa auch „Mannfall“ und „Herrenfall“ des Lehnswesens durchaus im Zessionsrecht vorgeprägt und müssten nicht „germanisch“ erklärt werden.
Die nachmittägliche Vortragsreihe begann Harald Siems (München) mit dem Thema „Die Entwicklung von Rechtsquellen und Rechtspraxis“. Siems wies eingangs auf die Schwierigkeiten bei der rechtshistorischen Erforschung des spätantik-frühmittelalterlichen Zeitraums hin, die zum einen durch die Aufspaltung in Romanistik, Germanistik und Kanonistik, zum anderen durch Perspektivenverengung infolge sektoralen Vorgehens bedingt sei. Das frühmittelalterliche Recht sei grundsätzlich als „Recht seiner Zeit“ („nicht noch antikes Recht oder noch germanisches oder schon das Recht europäischer Staaten“) anzusehen, was die Notwendigkeit der Gesamtschau impliziere. Unterstelle man ein hohes Interesse des frühen Mittelalters an schriftlichen Rechtsaufzeichnungen, könne man die Aufzeichnungsprogramme als Abbild von Regelungsbedürfnissen ansehen. Der Hauptunterschied zu der eher abschließend kodifizierend orientierten antiken Rechtswissenschaft zeige sich darin, dass das Frühmittelalter gerade die Fortentwicklung des Rechts als ständige Aufgabe begriffen habe.
Diese Dynamisierung sei jedoch durchaus mit einer Begrenzung der Wirkungsabsicht, der Dominanz gentiler und regionaler Normen einhergegangen, was die „Tendenzen zur Pluralisierung“ frühmittelalterlichen Rechts befördert habe, die sich etwa in den höchst unterschiedlichen Aufzeichnungsprogrammen zeige. Auch der Umgang mit dem römischen Recht habe einem regional verschieden ausgeprägten Wandlungsprozess unterlegen, der sich vom Frühmittelalter bis zu den Rechtsschulen von Bologna umschreiben lasse als Entwicklung „vom selbstverständlichen Gebrauch als eigenes Recht zum bewussten Rückgriff auf früheres Recht einer höheren Kulturstufe“. Grundsätzlich habe jedoch der „Unterschiedlichkeit und Begrenztheit“ der Leges als „übergreifende Autoritäten“ römisches und kirchliches Recht gegenübergestanden, was auch zu gewissen Kompatibilitätsproblemen führen konnte. Ausgesprochen wichtig scheinen die vor allem mit der Einführung der Buchform Kodex einhergehenden Änderungen in den Methoden der Textorganisation und der Bearbeitung von Rechtsquellen zu sein, die nicht unwesentliche Auswirkungen auf die Entwicklung der Rechtswissenschaft gezeitigt hätten.
Als letzte Vortragende dieses Tages sprach Margarete Weidemann (Mainz) über „Spätantike Traditionen in der Wirtschaftsführung frühmittelalterlicher Grundherrschaften am Beispiel der Civitas Le Mans“. Anhand einer detaillierten, Gesetzestexte und merowingische Urkunden mit einbeziehenden Untersuchung der in Le Mans wirtschaftenden Personengruppen – den agrolae, den leti/liberti und den mancipia/servi – könne auf eine ausgeprägte Konstanz der Rechtsverhältnisse von der Spätantike zum Mittelalter geschlossen werden. Auch hinsichtlich der erwirtschafteten Erträge der Güter in Le Mans sei wohl keineswegs von einem Ende der spätantiken Geldwirtschaft bzw. monetärer Abgabenformen auszugehen, vielmehr seien die erwirtschafteten Naturalien wohl durch conductores in Münzform umgetauscht worden. Als Fazit bleibe festzuhalten, dass sich die Wirtschaftsführung der merowingischen Grundherrschaft noch ganz in spätantiken Traditionen, im Spannungsfeld von „Privatwirtschaft“ und staatlichen Vorgaben, bewegt habe, wohl keine tief greifende Beeinflussung durch die frühmittelalterliche Königsherrschaft erfolgt sei und wohl auch von einer gewissen Siedlungskontinuität auszugehen sei.
Das Ende der Vortragsreihe besiegelte am folgenden Morgen die Zusammenfassung durch Reinhold Kaiser (Zürich). Kaiser warf betreffs der Periodisierungsproblematik unter anderem die Frage nach Dauer, Spezifika und möglichen Begrifflichkeiten für die Übergangszeit zwischen Antike und Mittelalter auf, deren Anfangs- und Endpunkte möglicherweise durch Konstantin den Großen und den „Investiturstreit“ zu setzen seien und die eventuell als „Epoche der Kohärenz“ zu bezeichnen sei. Hinsichtlich der Frage nach Kontinuitäten oder Brüchen sei wohl doch einer gewissen Stetigkeit der Verhältnisse der Vorzug zu geben. Bei aller fortdauernden Dominanz römischer Traditionen sei aber auch die Frage zu beantworten, ob es jenseits sprachlicher Kategorien überhaupt eine sinnvolle Kategorie „germanisch“ gäbe. Als mögliche Fragestellungen künftiger Forschungen und Tagungen zu dieser Epoche mahnte Kaiser die Bearbeitung der „historischen Altlasten“ wie etwa der Ethnogenese sowie die Berücksichtigung der Themenbereiche Stadt, Literatur, Kunst und Bildung an.
Die Beiträge werden in der vom Konstanzer Arbeitskreis herausgegebenen Reihe „Vorträge und Forschungen“ veröffentlicht.