Die Europäizität der Slawia oder die Slawizität Europas

Die Europäizität der Slawia oder die Slawizität Europas

Organisatoren
Internationale Konferenz des Instituts für Slawistik der Humboldt Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.05.2007 - 02.06.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Sanner, Berlin

Die Konferenz "Die Europäizität der Slawia oder die Slawizität Europas" fand unter der Leitung von Christian Voss (Lehrstuhl für südslawische Sprach- und Kulturwissenschaft) in Kooperation mit Alicija Nagórko (Lehrstuhl für westslawische Sprachen; Institut für Slawistik der Humboldt Universität zu Berlin) statt. Insgesamt sprachen 21 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Ländern, deren Vorträge in neun thematische Panels unterteilt waren.1

Obwohl der Untertitel "Ein Beitrag der kultur- und sprachrelativistischen Linguistik" auf eine primär sprachwissenschaftliche Veranstaltung hinweist, setzte Christian Voss bereits in seiner Einführung eine gewisse politische Ausrichtung, indem er die Bedeutung der slawischen Länder in den Diskursen über den Expansionsprozess der EU betonte. Ein großer Teil der neuen EU-Mitglieder bzw. der potentiellen Neumitglieder (z. B. Polen und Bulgarien bzw. Kroatien und Mazedonien) sind slawisch und gerade im Zuge der Osterweiterung der EU seien immer wieder Skepsis und Müdigkeit hinsichtlich der territorialen Dynamik der EU zu vernehmen. Folglich stelle sich die Frage, ob neben dem ehemals politischen Rubikon des eisernen Vorhangs möglicherweise auch eine sprachlich-kulturelle Grenze bestehe, die den slawischen Sprachraum in die Peripherie Europas verbanne. Vor diesem Hintergrund ist auch die konzeptionelle Orientierung der Tagung zu sehen, die bis in die Untiefen der Semantik der Frage nachging, inwieweit von der slawistischen Forschung europäische Integration bzw. Desintegration zu erwarten ist. Folglich war es nur konsequent, dass mit Ulf Brunnbauer („Ost- und Südosteuropa als mental maps“) und Sylvia Sasse („Geopoetik. Der topographical turn in der mittel- und osteuropäischen Gegenwartsliteratur“, beide aus Berlin) zunächst ein Historiker und eine Literaturwissenschaftlerin unter der Überschrift Konzeptionalisierungen europäischer historischer Großregionen darlegten, wie sich in ihren Wissenschaften räumliche Abgrenzungen niederschlagen, ehe die Sprachwissenschaften den Differenzierungen aus linguistischer Sicht auf den Grund gingen. Beide betonten, dass Räume nicht zwingend gegeben sind, sondern in hohem Maße kognitive Konstruktionen bzw. mental maps darstellen. Andererseits rekurrierten beide Vorträge auf die harte politische Ost-West-Grenze. Auf diese Weise wurde ein Rahmen gesetzt, der über weite Strecken darauf abzielte, inwieweit der alte Ost-West-Gegensatz noch von Bestand ist. Beiträge wie „Sprachrelativistische Linguistik in Ost-und Westeuropa: Eine Gegenüberstellung aktueller Tendenzen“ von Alice Blumenthal (Freiburg) oder „Linguistic Relativity and Slavic Ethnoliguistics“ von Biljana Sikimic (Belgrad) betonten eher methodische Gegensätze. Daneben hob beispielsweise der Vortrag von Katarina Rasulic (Belgrad) „Conceptualization of Development, Society, Power and Control by means of vertically terms in Serbian and English“ die Gemeinsamkeiten im Sprachgebrauch hervor und verwies dabei auch auf gemeinsame Zusammenhänge hinsichtlich der Wahrnehmung von gesellschaftlicher Organisation. Die Polonistin Alicija Nagórko (Berlin) hingegen führte auf der Ebene der Ethnosemantik aus, wie stark sich der Gebrauch von ganz einfachen Begriffen unterscheiden kann: „Tassen und Gläser – sprachlich-kulturelle Isolexe im westslawisch-deutschen Sprachvergleich“.

Neben diesen eher dichotomisch angelegten Beiträgen kamen auch Stimmen zu Wort, die die grenzüberschreitende Bedeutung des slawischen Raums betonten. David Frick (Berkley) lieferte mit seinen Ausführungen über die litauische Hauptstadt Wilna (Vilnius) im 17. Jahrhundert einen äußerst interessanten Beleg dafür, wie polyphon und hybride die gesellschaftliche Realität im slawischen Raum sein konnte. In dieser Stadt lebten zu dieser Zeit Christen aus fünferlei Bekenntnisrichtungen neben Juden und muslimischen Tartaren, die Polnisch, Ruthenisch, Deutsch, Litauisch und Jiddisch sprachen. Hinzu kamen die Kirchensprachen Latein, Kirchenslawisch und Hebräisch. Olga Mladenova (Calgary) beschäftigte sich mit der bulgarischen Gesellschaft, die ursprünglich auch multilingual war. Ihr Beitrag „A linguistic commentary to the Balkan transition from traditional to modern society“ zeigte, wie sich gesellschaftlicher Wandel sprachlich widerspiegeln kann. Dabei legte sie ein besonderes Augenmerk auf die Ausdifferenzierung der Höflichkeitsformen, die stets einen Rückschluss auf die sozialen Verhältnisse erlauben. Aus dem multikulturellen Osteuropa des 19. Jahrhunderts stammt auch die Weltsprache Esperanto, deren Schöpfer der polnische Jude Ludwig Lejzer Zamenhof (1856 – 1917) ist. Jouko Lindstedt (Helsinki) erinnerte mit seinem Vortrag „Esperanto – an East European contact language?“ an die russischen, polnischen und auch jiddischen Einflüsse auf diese Kunstsprache, die eigentlich stark romanischen Charakter hat. Lindstedt stellte auch den Status einer reinen Kunstsprache in Frage, indem er die Entwicklung des Gebrauchs der Sprache erläuterte. Einen anderen Weg der sprachlich-kulturellen Öffnung beschritt Elena Stadnik-Holzer. Ihr Beitrag „Sprache und Kultur im eurasischen Modell von Nikolaj S. Trubetzkoy“ richtete den Blick des Slawischen in Richtung Asien. Ihre Forschungen über Trubetzkoy, der in den 1920er-Jahren seine Hauptwerke veröffentlichte, belegen die historischen, kulturellen und sprachlichen Verknüpfungen zwischen dem russischen und dem mongolischen Reich. Eine zweischneidige Form der sprachlichen Grenzüberschreitung beschrieb Maksim Stamenov (Sofia). Unter dem Titel „Can pejoratives help make the Difference between East, West and Southeast in Europe?“ beschäftigte er sich mit den Turzismen in der bulgarischen Sprache. Dabei stellte sich heraus, dass die Turzismen fast ausschließlich als pejorative Personenbezeichnungen gebraucht werden. Auf diese Weise diene sprachliche Fremdaneignung der kulturellen Fremdabneigung. In der Abschlussdiskussion verallgemeinerte Stamenov diesen Zusammenhang auf eine grundsätzliche Abgrenzung zwischen Europa und der islamischen Welt, die in erster Linie auf die Beitrittsbemühungen der Türkei zur EU gemünzt war. Christian Voss reagierte auf diese Polemik sachlich, indem er auf die toleranten und säkularen Formen des Islam beispielsweise in Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Montenegro hinwies.

Mit der Vielzahl der Beiträge wurde deutlich, wie offen und vielschichtig der slawische Raum ist. Insbesondere das Beispiel Wilnas von David Frick zeigte, wie tief Multilingualität und kulturelle Melange in der Slawia verankert sind. Sofern man Europa als kosmopolitisches Gefüge betrachtet, dessen Stärke in hohem Maße ihre reiche Vielfalt ist, lässt sich Europa in wesentlichen Zügen durch die Slawia definieren. Insofern stellt sich die defensive Frage nach der Europäizität der Slawia aus wissenschaftlicher Sicht auf keinen Fall. Die defensive Haltung hat eher eine politisch-historische Konnotation, die daher rührt, dass selbst im Wissenschaftsbetrieb Europa viel zu oft mit der EU verwechselt wird. Die EU verharrt mental immer noch zu sehr in ihrer westeuropäischen Genese aus der Zeit des kalten Krieges, deren Habitus die Slawia an den Rand Europas drängt. Diese Schieflage gilt es nicht zuletzt durch valide wissenschaftliche Arbeit auszugleichen. Erst dann kann die EU gesamteuropäisch glaubwürdig sein. Europa hat viele Schwerpunkte, einer davon ist mit Sicherheit die Slawia.

Anmerkungen:
1 Die vollständige Übersicht des Veranstaltungsprogramms unter: www.slawistik.hu-berlin.de/forschung/konferenz/europaeizitaet

Kontakt

Martin Sanner
E-Mail: <marijan@berlin.de>


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