Mobilität, Migration und Policey. Policeyliche Ordnungs- und Politikvorstellungen, Verordnungen und Maßnahmen im Umgang mit 'Fremden'

Mobilität, Migration und Policey. Policeyliche Ordnungs- und Politikvorstellungen, Verordnungen und Maßnahmen im Umgang mit 'Fremden'

Organisatoren
Arbeitskreis "Policey/Polizei im vormodernen Europa"
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2007 -
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Von
Hanna Sonkajärvi, SFB 600, Universität Trier

Die 10. Diskussionsrunde des Arbeitskreises „Policey/ Polizei im vormodernen Europa“ fand unter dem Titel „Mobilität, Migration und Policey. Policeyliche Ordnungs- und Politikvorstellungen, Verordnungen und Maßnahmen im Umgang mit ‚Fremden’“ statt. Ausgehend von der Beobachtung, dass die frühneuzeitliche Gesellschaft eine von Mobilität geprägte Gesellschaft war und dass diese Mobilität in den Forschungen zur frühneuzeitlichen Policey vielfach zwar Erwähnung findet, aber vergleichsweise selten zum Gegenstand weitergehender Fragestellungen gemacht wurde, hatten die Veranstalter, Josef Pauser (Wien) und Eva Wiebel (Konstanz) dazu eingeladen, über den Zusammenhang zwischen policeylichen Normen und Ordnungsvorstellungen einerseits und Mobilität und Migration andererseits zu diskutieren.

Der Beitrag von JAN-WILLEM HUNTEBRINKER (Dresden) widmete sich der Kontrolle von Söldnern vom 15. bis 17. Jahrhundert. Anhand von Verordnungen auf Reichs- und Territorialebene sowie des Umgangs mit dem Kontrollinstrument ‚Passport’ wurde eine Analyse der sozialen und ordnungspolitischen Leitvorstellungen sowie der praktischen Mittel in der Auseinandersetzung mit der strukturell bedingten Mobilität von Söldnern angestrebt. Als eine höchst mobile Gruppe finden sich die Söldner in den zeitgenössischen Policeyordnungen häufig thematisiert. Dabei war ihre Mobilität einerseits von den Obrigkeiten erwünscht, andererseits wurde sie aber als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung wahrgenommen, so dass die Grenze zwischen legitimer und nicht-legitimer Mobilität schwer zu bestimmen war. In Bezug auf die Ordnungsgesetzgebung stellte Huntebrinker fest, dass hier die Grenze zwischen legitimer und illegitimer Mobilität vor allem durch die Zugehörigkeit zu einer Herrschaft definiert wurde. In der Reichsgesetzgebung erschien der herrenlose ‚Gartknecht’ vor allem als Quelle für politische Unruhen, wohingegen die territoriale Gesetzgebung in ihm eher den moralisch verwerflichen Müßiggänger und Vaganten identifizierte. In Bezug auf das Passportwesen kam der Beitrag zu dem Ergebnis, dass die Pässe, auch wenn sie in der Alltagspraxis für eine effiziente Kontrolle soldatischer Mobilität mangels herrschaftlicher Durchdringung wenig brachten und wegen ihrer leichten Fälschbarkeit auch zur Verdächtigung der Träger führen konnten, sehr wohl eine wichtige Rolle in der innermilitärischen Organisation spielten. So stützten sich sowohl die Armeeinstitutionen als auch die einzelnen Söldner auf verschiedene Ausweise und ‚Pässe’ – die Armee, um Angaben über die Qualifikation, das normkonforme Benehmen und die Loyalität eines Söldners zu erhalten, der Söldner, um eben diese Qualitäten seiner Person zu plausibilisieren. Hunterbrinker betonte, dass die von ihm vorgestellten Resultate insofern eingeschränkt werden müssen, als seine Beispiele sich vor allem auf (sächsische) Festungen beziehen und reguläre Feldarmeen ausgeklammert geblieben sind. Insgesamt demonstrierte der Beitrag jedoch, dass das Passwesen nicht nur als ein gescheiterter Kontrollversuch der territorialen Obrigkeiten gedeutet werden sollte, sondern dass die Zeitgenossen den Ausweisen durchaus eine Funktion als Qualifikation- und Loyalitätsausweis zuerkannten und sie für ihre Zwecke zu sammeln und einzusetzen versuchten.

ANTON TANTNER (Wien) berichtete über Häusernummerierungen als Maßnahmen gegen fremde BettlerInnen in der Habsburgermonarchie. Dabei schilderte er den Weg von Hausbeschreibungen des 16. Jahrhundert bis hin zu dem gescheiterten Versuch im Jahr 1753, in Wien Hausnummerierungen durchzusetzen. Die Einführung erfolgte schließlich ab 1770, als ein Patent Maria Theresias die Hausnummerierung als Instrument zur Handhabung der Konskription befahl. Laut Tantner stand die Hausnummerierung im Zusammenhang mit den Bemühungen, die nichtsesshafte Bevölkerung zu fixieren. In Wien fand die erste nachweisbare Erfassung von Bettlern im Jahr 1563 statt. Zum Zweck dieser Erfassung wurden Häuservisitationen angeordnet, die mehrmals im Jahr stattfinden sollten. Die Erfassung sollte dazu dienen, unerwünschte Bevölkerungsteile abschieben und ihre Niederlassung unterbinden zu können, Fremde insgesamt zu kontrollieren und die gesamte Bevölkerung zu erfassen. Kombiniert wurde diese Maßnahme mit dem Einsatz von Meldezetteln. Diese Bemühungen erwiesen sich jedoch als wenig effektiv, und Ende der 1740er Jahren setzten Debatten um eine neue Policeyordnung für Wien ein. In diesem Zusammenhang und im Kontext der Erlassung von Konskriptionsbestimmungen für die böhmischen und österreichischen Länder wurde erneut eine dauerhafte Erfassung der gesamten Wiener Bevölkerung vorgeschlagen. Die Register sollten durch auf Dauer eingestellte Beamte fortlaufend geführt werden und unter anderem durch die Veranstaltung von Maskenbällen finanziert werden. Die 1754 erfolgte Seelenbeschreibung wurde jedoch letztlich nicht von der Polizei, sondern von der städtischen Administration durchgeführt. In diesem Kontext wurde auch die Einführung von Hausnummerierungen vorgeschlagen. Die Hofkanzlei sah in ihr ein Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Sowohl der Magistrat als auch die Bevölkerung äußerten Bedenken gegen das Projekt. Neben dem erwarteten Aufwand wurde vor allem die Standesgrenzen sprengende Wirkung der für all gleichermaßen geltende Maßnahme gescheut. Trotz detaillierter Überlegungen zu technischen Details der Durchführung wurde das Vorhaben 1754 ad acta gelegt. In der Diskussion stellte Tantner klar, dass die Einführungsversuche von Hausnummerierungen nichts mit dem Postwesen zu tun hatten und sich auch nicht primär an dem Pariser Vorbild, sondern an anderen Nummerierungen in Gebieten der Habsburgermonarchie orientierten. So wurden z.B. in Triest (1754) Hausnummerierungen im Zuge der Konskription und im Zusammenhang mit einer Volkszählung eingeführt.

Die Bevölkerungstheorie des 17. und 18. Jahrhunderts stand im Mittelpunkt des Vortrages von JUSTUS NIPPERDEY (München). Die normative Ebene konkreter Policeyordnungen und die Formen ihrer Implementierung wurden hier explizit ausgeklammert. Ausgangspunkt des Vortrages war die Feststellung, dass in der Frühen Neuzeit ein deutliches Spannungsverhältnis zwischen Ideen der Bevölkerungskontrolle und der Bevölkerungsvermehrung bestand. Einerseits kam es zu einer sich intensivierenden Ausgrenzung von Armen, Bettlern und anderen als ‚unnütz’ empfundenen Gruppierungen, andererseits entwickelte sich gleichzeitig eine merkantilistisch-kameralistisch instruierte ‚Bevölkerungspolicey’, die Zuwanderung als Bedingung für die Staatserhaltung betrachtete. Die theoretischen Überlegungen zum Bevölkerungswachstum und seinen Vor- und Nachteilen wurden von Nipperdey zunächst in Bezug auf die italienische Staatsräsontheorie des späten 16. Jahrhunderts dargestellt. Die Frage der optimalen Bevölkerungszahl stellte sich Denkern wie Giovanni Botero oder Machiavelli als Frage der Sicherung nach innen und nach außen. Eine zu große Bevölkerungszahl bedrohte die Stabilität nach innen, wohingegen die Außenverteidigung eine große Bevölkerungszahl erforderte. Die Ideen der italienischen Staatsräson gelangten sehr bald nach Deutschland, wo anfangs vor allem Botero rezipiert wurde. Dabei wurde die Bevölkerungszunahme zunächst aus fiskalischen und machtpolitischen Überlegungen heraus eindeutig positiv konnotiert (Autoren wie Hippolyt von Colli, Hermann Latherus, Johann Ruremund). Diesen Werken ist gemeinsam, dass nicht auf konkrete Überlegungen, etwa der städtischen Einbürgerungspolitik, eingingen oder Angaben darüber machten, welche finanziellen Mittel oder beruflichen Fähigkeiten die Migranten mitzubringen hätten, sondern auf abstrakter Ebene argumentierten. Skeptische Stellungnahmen zogen sich auf die aristotelische Idee optimaler Stadtgröße zurück (Georg Schönborner) oder wiesen darauf hin, dass die Zuzügler die konfessionelle Einheit des Territoriums nicht bedrohen dürften (Christian Liebenthal). Auf der anderen Seite verstärkte sich aber nach dem Dreißigjährigen Krieg die Überzeugung, dass religiöse Toleranz aus ökonomisch-politischem Kalkül zu befürworten sei. Religiöse Freiheit aus ökonomischen Gründen bildete eine der grundlegenden Ideen der Kameralwissenschaft. Trotz eines „populationistischen“ Diskurses wurde keineswegs die Zuwanderung von allen, sondern in erster Linie von wirtschaftlich besonders produktiven Gruppen befürwortet. Laut Nipperdey legten die Kameralisten des 18. Jahrhunderts die Bevölkerungspolitik langfristiger an und zogen die Geburtenförderung als sichereres Mittel vor, wohingegen Autoren des 17. Jahrhunderts eher kurzfristig auf eine schnelle Bevölkerungsvermehrung durch Zuzug und eine entsprechende Erhöhung der Steuerkraft zielten.

Der englischsprachige Beitrag von VINCENT DENIS (Paris) beschäftigte sich mit den policeylichen Identifikationspraktiken im Paris des 18. Jahrhunderts. Seine These lautete, dass es zwischen dem Ancien Régime und dem Napoleonischen Kaiserreich eine intellektuelle Kontinuität in den Prinzipien und Techniken der Identifikation gebe, und dies, obwohl diese Prinzipien und Techniken (vor allem die innerfranzösischen Pässe) jeweils Instrumente sehr unterschiedlicher politischer Projekte waren. In Frankreich wurde ein systematischer Aufbau staatlicher Identifikationsmechanismen unter der Herrschaft von Philipp von Orleans (1715-1723) begonnen. Dabei handelte es sich, wie Denis betonte, nicht um ein als Ganzes im voraus konzipiertes Projekt, sondern um das Ergebnis diverser Parallelentwicklungen. Die wirtschaftliche Flaute, die in Marseille wütende Pest und die Demobilisierung der Armee Louis XIV. veranlassten die Krone dazu, eine weitreichende Erhebung von Informationen in verschiedenen Bereichen der königlichen Administration zu lancieren. In der gleichen Zeit wurden Erhebungen zu Vagabunden und Bettlern, zu Desertionen und zur Eindämmung der Pestepidemie in der Provence initiiert. Dabei erwiesen sich vor allem die Registrierung der Soldaten in den ‚contrôles des troupes’ und die Einführung von Ausweispapieren (cartouches) für die Beurlaubten und Dienstbefreiten als Erfolg, zumindest was die innere Organisation der Armee betrifft. Entscheidend hierfür war die Kombination von Ausweisen und zentralen Registern. Denis wies darauf hin, dass die Registrierung auch als ein Versuch gedeutet werden könnte, von Seiten der Policey die Gesellschaft wieder zu ordnen, nachdem die ständischen Strukturen und Klassifizierungen durch die zunehmende wirtschaftliche Liberalisierung unter Druck gesetzt worden waren. Die Identifikationsmittel bauten auf eine zunehmende Zentralisierung von Information, eine Generalisierung und Standardisierung durch Verschriftlichung und den Einsatz von spezialisierten Fachkräften. Die Einführung staatlicher Identifikationsmechanismen führte zu Resistenzen und Umgehungsversuchen seitens der Bevölkerung. Gerade das große Ausmaß an Fälschungen und diversen Arten des Schwindels zeigen laut Denis aber, dass die Bevölkerung auf die policeylichen Regelungen reagieren musste und sie internalisierte. Daher könne diese vermeintliche Schwäche der Durchsetzung auch als Erfolg der policeylichen Instruktionen gedeutet werden.

Das diesjährige Treffen des Arbeitskreises „Policey/ Polizei in der europäischen Vormoderne“ zeichnete sich durch eine lebhafte Diskussion aus. Die Breite der Beiträge, die von Überwachung und Durchsetzung der Normen bis zur Betrachtung theoretischer Diskurse reichte, zeigte, dass es sich lohnt, das Thema „Mobilität, Migration und Policey“ aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten. So können beispielsweise die Fragen, ob die Einführung von Mobilitätskontrollen in Form von Ausweispapieren (Pässen) als Erfolg oder Misserfolg gedeutet werden kann und welche Bedeutung ihre Einführung für die Zeitgenossen hatte, sehr unterschiedlich beantwortet werden. Je nachdem, ob die Fragen aus der Sicht der territorialen Obrigkeiten, der lokalen Behörden, der Armee oder aber aus der Sicht der Bevölkerung und des Einzelnen - der nicht nur Widerstand leisten, sondern durch sein Verhalten die Verwaltungspraktiken mitgestalten konnte - betrachtet werden.

Die Beiträge dieses Arbeitstreffens werden bei Freigabe durch die Autoren als PoliceyWorkingPapers unter <http://www.univie.ac.at/policey-ak/> veröffentlicht. Das Paper von Anton Tantner steht etwa bereits online. Das nächste Treffen findet als gemeinsame Tagung mit dem Arbeitskreis „Historische Kriminalitätsforschung“ vom 19.-21.6. in Stuttgart-Hohenheim statt und wird sich mit politisch motivierter/ als ‚politisch’ eingeordneter Kriminalität beschäftigen.

http://www.univie.ac.at/policey-ak/
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