Die Tagung „Die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die »Ökumene der Historiker« nach 1945 – Ein wissenschaftsgeschichtlicher Ansatz“ fand am 5./6. Juli 2007 in den Räumen des Deutsches Historischen Instituts Paris statt. In drei Sektionen diskutierten die Teilnehmer Fragen nach der Beharrung und Wandlung in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (I.), der Reinstitutionalisierung und Neuorientierung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft (II.) und dem Historiker als transnationaler Akteur (III.). Zu analysieren galt es, welche inhaltlichen, personellen, methodologischen und epistemologischen Brüche und Kontinuitäten sich bei der Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die Ökumene der Historiker feststellen lassen.
Nach der Begrüßung durch den Direktor des Instituts, Herrn Werner Paravicini, begann die Tagung mit zwei einführenden Vorträgen. Zunächst gab Christoph CORNELISSEN (Kiel) einen Überblick über die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. War der Anspruch zwar derjenige einer Entnationalisierung der deutschen Historie in Ost und West, konnte der Ausbruch aus nationalstaatlichen Deutungslinien und Forschungsinteressen Cornelissen zufolge jedoch weder durch die unmittelbare Nachkriegsgeschichte, noch durch die Sozial- und Kulturgeschichte der späteren Jahre gewährleistet werden. Er betonte, dass diese nationale Fixierung der Nachkriegshistorie andererseits aber auch als wichtiger Bestandteil einer Demokratisierung der politischen Kultur in Westdeutschland zu bewerten sei – vor allem im Hinblick auf die Erforschung des Nationalsozialismus seit 1945.
Im anschließenden Referat sprach Agnès GRACEFFA (Arras) zur Sicht französischer Historiker auf die deutsche Historiographie. Am Beispiel des Hochmittelalters verdeutlichte sie, dass die deutsche Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Modellfunktion eingebüßt hatte und ihre Legitimation erst allmählich zurückerlangte. In diesem Prozess machte Graceffa drei Rezeptionsphasen aus: ein durch Misstrauen und Attentismus gekennzeichneter erster Moment bis 1958, daran anschließend eine bis Ende der 1980er-Jahre reichende Periode der unvollständigen, weil selektiven Rezeption der deutschen Historiographie und erst seit den 1990er Jahren dann eine Phase der globalen Berücksichtigung deutscher Forschung im Sinne einer „europäischen Mediävistengemeinschaft“.
In der ersten Sektion ging es unter der Sitzungsleitung von Fabrice D’ALMEIDA (IHTP Paris) um Beharrung und Wandlung in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. So stellte Thomas ETZEMÜLLER (Oldenburg) intellektuelle Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Inhaltliche Kontinuitäten – etwa die deutschnationale Ausrichtung und traditionelle Interpretationsmuster – existierten neben methodischen Innovationen wie dem sozialgeschichtlichen Ansatz. Der Kalte Krieg habe erstmals eine transnationale Öffnung der Geschichtswissenschaft bewirkt – ob diese sich nun dem Kampf gegen den „Bolschewismus“ verschrieben hatte, oder aber der „friedlichen Koexistenz“ von Sowjetunion und Westen eine Argumentationsbasis schaffen sollte.
Mario KESSLER (ZZF Potsdam) behandelte die Synchronie von personeller Beharrung und Neuanfang in beiden deutschen Staaten. Waren in der DDR vor allem Remigranten für den Wiederaufbau der Lehr- und Forschungseinrichtungen herangezogen worden, so blieb in der Bundesrepublik eine personelle Kontinuität zu ehemaligen Reichshistorikern bestehen. Besonders ging Kessler auf die gegenseitige, zeitversetzte Beeinflussung der sich unterschiedlich entwickelnden Inhalte von West- und Ostgeschichte ein. Beispielsweise sei die Begründung der modernen Sozialgeschichtsschreibung in der Bundesrepublik entscheidend für die relativen Fortschritte, die die zweite Historiker-Generation in der DDR aufwies.
Peter SCHÖTTLER (IHTP Paris) analysierte die besonderen Beziehungen sowie die Rezeption bzw. Nichtrezeption des französischen Sozialhistorikers Marc Bloch in der deutschen Geschichtswissenschaft. Bloch – Demokrat und Jude – war unter der deutschen Besatzungsherrschaft ermordet worden. Schöttler zeichnete einen Evolutionsprozess nach, der von den schwierigen Bedingungen der Annales-Wahrnehmung nach 1945 bis zur voluntaristischen „Aneignung“ vieler Grundbegriffe Blochs und der Annales durch die deutsche Historie im Rahmen einer zunehmend sich europäisierenden Geschichtswissenschaft reichte.
In seinem Beitrag zur Hochkonjunktur des „christlichen Abendlandes“ in der westdeutschen Geschichtsschreibung zeigte Axel SCHILDT (Hamburg), dass die Anrufung des „christlichen Abendlandes“ Teil einer supranational geprägten Integrationsideologie in eine Westoption war, da sie weiten Teilen der Bevölkerung den Übergang von nationalistischer Hybris zu einer supranational geprägten – vorerst noch konservativen – Westoption ermöglichte. Zwei geschichtspolitische Strömungen bedienten sich der Abendlandideologie. Auf der einen Seite standen nationalkonservative, vormals z.T. borussische Historiker, die sich dem „Antibolschewismus“ verschrieben hatten. Auf der anderen Seite kritisierten katholisch-abendländische Historiker aus supranationaler Perspektive das nationalkonservative Modell. Jedoch, so Schildt, sei die Lesart zu relativieren, dass die eher protestantisch grundierte, nationalkonservative Strömung in der Geschichtswissenschaft obsiegte, da dies in Zeiten einer einem rapidem Strukturwandel unterworfenen Gesellschaft schwer zu bewerten sei.
Am zweiten Tag des Kolloquiums wurde in einer ersten Sektion unter der Leitung von Stefan MARTENS (DHIP) die Reinstitutionalisierung und Neuorientierung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 thematisiert. Winfried SCHULZE machte den Anfang mit einer Untersuchung zur Gründung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz im Jahre 1950. Im Bemühen, die „Revision des deutschen Geschichtsbildes“ voranzutreiben, stand die Gründung des Instituts unter dem Zeichen der geistigen Neuorientierung Deutschlands, der Bekämpfung des Borussismus und der „Entgiftung“ der Schulbücher. Insgesamt erwies sich die Mainzer Gründung Schulze zufolge als „glückliche Fügung“, die den Prozess der Verwestlichung der Bundesrepublik vorantrieb und die demokratischen Traditionen Westeuropas förderte.
Anne Chr. NAGEL (Gießen) behandelte in ihrem Vortrag die Gründung des „Konstanzer Arbeitskreises“. Sie beleuchtete dabei seine Rolle für die Wiedereingliederung deutscher Mittelalterforschung in den Kreis der europäischen Geschichtswissenschaft. Zur näheren Erläuterung stellte sie die wichtigsten Protagonisten und die Arbeitsweise des Kreises um ihren Begründer Theodor Meyer vor. Nicht nur deutsche Historiker, sondern auch internationale Historiker wurden zu den stattfindenden Arbeitskreisen eingeladen und referierten zu mittelalterlichen Themen. Trotz der innovativ geführten Arbeitsweise des Arbeitskreises, bezweifelte Nagel seinen Beitrag zur Wiedereingliederung der deutschen Geschichtswissenschaft in die „Ökumene der Historiker“.
Im folgenden Beitrag behandelte Michael MATHEUS (DHI Rom) die Wiedereröffnung des Deutschen Historischen Institutes in Rom und die Rückführung der deutschen Bibliotheken nach 1946. Symbolisierte dies einen unbedingten Willen, diese Forschungsinstrumente in die italienische und internationale Wissenschaft wieder einzubinden, so unterstrich Matheus auch die entscheidende Rolle deutscher Historiker vor Ort und die Vorstellungen von einer unpolitischen Wissenschaft.
Astrid M. ECKERT (Atlanta) nahm in ihren Vortrag die Anfänge der Zeitgeschichte als historische Disziplin der Geschichtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in den Blick. Vergleichend betrachtete sie dabei Großbritannien, die USA und die Bundesrepublik Deutschland. Dabei verwies Eckert auf die Problematik, mit welcher Zeithistoriker in den drei Ländern im Hinblick auf die fehlende Anerkennung ihrer Disziplin konfrontiert wurden. Neben dieser Gemeinsamkeit, ihre Arbeit rechtfertigen zu müssen, traten deutsche, britische und amerikanische Historiker in Konkurrenz beim Zugang zu wesentlichen Materialien. Eckert artikulierte diese immanente Problematik als einen maßgeblichen Impuls für die notwendige Kooperation zwischen deutschen, britischen und amerikanischen Historikern bei der Erforschung westdeutscher Zeitgeschichte. Diese Präsenz nicht-deutscher Historiker, die ebenfalls zu deutschen zeithistorischen Ereignissen arbeiteten, verschob das Gleichgewicht in der deutschen Geschichtsschreibung maßgeblich, indem deutsche Historiker nicht mehr länger die einzigen Interpretatoren auf diesem Gebiet waren.
Die dritte und letzte Sektion unter Leitung von Gilbert KREBS (Paris III) unterstrich die Rolle des Historikers als transnationaler Akteur nach 1945. Martin SABROW (ZZF Potsdam) skizzierte in seinem Beitrag die Geschichte der deutsch-deutschen Historikerbeziehungen zwischen ihrer Abschließung und Öffnung. Zu ihrer Beschreibung umriss Sabrow dabei ein inhärentes Problem: wir gehen von zwei bereits geschiedenen Geschichtswissenschaften aus. Bei der Ausformulierung seiner Leitfrage verwies Sabrow darauf, dass sich die wechselseitige Abschottung und die Wiederannäherung als Ausdruck einer politischen Überformung interpretieren lassen. Die innerdeutsche Perspektive dürfe, so Sabrow, nicht als eine Reintegration verstanden werden, sondern als Desintegration der deutschen Fachdisziplin in den Zeiten des Kalten Krieges.
Ulrich PFEIL (Saint-Étienne) analysierte in seinem Vortrag die vom CISH organisierten Internationalen Historikerkongresse, auf denen sich west- und ostdeutsche Historiker noch trafen. Während sich Ost und West im Kalten Krieg in einem binären Freund-Feind-Schema gegenüberstanden, verband das CISH die Vorstellung von Wissen als einem kollektiven Gut. Deutsche Historiker aus West und Ost standen in diesem Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Pfeil leistete mit seinem Referat einen Beitrag zur Beziehungsgeschichte zwischen den Historikern aus beiden Staaten am Beispiel der Internationalen Historikertage zwischen 1950 und 1965.
In ihrem Beitrag befasste sich Corine DEFRANCE (IRICE Paris) mit den Internationalen Historikertagen von Speyer in der Zeit von 1948 bis 1950. Dabei stand die Frage im Vordergrund, inwieweit diese Treffen als Heimkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in den Kreis der internationalen Historikerschaft Bedeutung zuzumessen sei oder inwieweit es sich eher um die Etablierung eines politisch motivierten Diskurses handelte. Gerade die Auseinandersetzung und Neuformulierung einer „neuen“ Geschichtsschreibung und -beschreibung nach 1945 in den deutsch-französischen Schulbüchern, welches ein Anliegen der Historikerkongresse war, muss unter dem Gesichtspunkt einer politischen oder wissenschaftlichen Initiative neu betrachtet werden.
Als letzter Redner zeichnete Heinz DUCHHARDT (IEG Mainz) die besondere Rolle von Martin Göhring in den deutsch-französischen Historikerbeziehungen nach. Durchhardt entfaltete die Rolle des vormaligen Direktors des Mainzer Institutes für Europäische Geschichte als einen Brückenbauer der deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen. Göhring sah die Möglichkeit gegeben, die Beziehungen zwischen den Historikern diesseits und jenseits des Rheins auf eine neue und qualitativ höhere Stufe zu befördern. Durchhardt gab aber deutlich zu erklären, dass anhand der Analyse seiner Korrespondenzen, Göhring stärker „europäisch“ als „französisch“ agierte und seinen Fokus auf europäische Themen verlegte.
Ernst SCHULIN (Freiburg i. Br.) zeichnete in seinem Abschlusskommentar die wichtigsten gemeinsamen Themenstränge und Probleme des Kolloquiumsthemas nach. Dabei hob er die Rolle der einzelnen Historiker und ihre eigene Geschichte sowie die Neugründung und Reorganisation institutioneller Orte bei der Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die internationale Gemeinschaft der Historiker besonders hervor. Die einzelnen Beiträge legten ihren Fokus im Besondern auf die Verbindung zwischen deutschen und französischen Historikern und ihre Beziehungen nach 1945. Darüber hinaus wurden auch der angloamerikanische Raum und seine Rolle für die Rückkehr der deutschen Geschichtswissenschaft in die Ökumene näher beleuchtet. Schulin unterstrich noch einmal, dass die Etablierung der Zeitgeschichtsforschung, insbesondere die der deutschen, einen maßgeblichen Beitrag bei der „Überschreitung“ nationaler Grenzen geleistet habe. Er forderte die Historikerschaft auf, stärker transnationale Ansätze zu berücksichtigen und sich nicht auf eine deutsche Perspektive zu beschränken.
Konferenzübersicht:
Donnerstag, 5. Juli 2007
Werner PARAVICINI (DHI Paris), Eröffnung
Christoph CORNELISSEN (Kiel), Die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 zwischen nationalen Traditionen und transnationalen Öffnungen. Eine Einführung
Agnès GRACEFFA (Arras), L’historiographie allemande vue par les Français. L’exemple du très haut Moyen Âge
I. Beharrung und Wandlung in der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
Sitzungsleitung: Fabrice D’ALMEIDA (IHTP Paris)
Thomas ETZEMÜLLER (Oldenburg), Intellektuelle Kontinuitäten und Wandlungsprozesse in der deutschen Geschichtswissenschaft
Mario KESSLER (ZZF Potsdam), Die Synchronie von personeller Beharrung und Neuanfang in beiden deutschen Staaten
Diskussion
Kaffeepause
Peter SCHÖTTLER (IHTP Paris), Die deutsche Geschichtswissenschaft und Marc Bloch
Axel SCHILDT (Hamburg), Zur Hochkonjunktur des ›christlichen Abendlandes‹ in der westdeutschen Geschichtsschreibung
Freitag, 6. Juli 2007
II. Reinstitutionalisierung und Neuorientierung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945
Sitzungsleitung: Stefan MARTENS (DHI Paris)
Winfried SCHULZE (München), Zwischen Abendland und Westeuropa: Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz im Jahre 1950
Anne Christine NAGEL (Gießen), »Gipfeltreffen der Mediävisten« – Der Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte
Michael MATHEUS (DHI Rom), Die Wiedereröffnung des Deutschen Historischen Instituts in Rom 1953. Transalpine Akteure zwischen Unione und Nation
Rainer RIEMENSCHNEIDER (Braunschweig/Montpellier), Georg Eckert und das Internationale Schulbuchinstitut in Braunschweig
III. Der Historiker als transnationaler Akteur nach 1945
Sitzungsleitung: Gilbert KREBS (Paris III)
Martin SABROW (ZZF Potsdam), Geteilte Geschichte. Die deutsch-deutschen Historikerbeziehungen zwischen Abschließung und Öffnung
Ulrich PFEIL (Saint-Étienne/Paris), Deutsche Historiker auf den internationalen Historikertagen von Paris (1950) bis Wien (1965). Geschichtswissenschaft zwischen Internationalität und Freund-Feind-Denken im Kalten Krieg
Diskussion
Corine DEFRANCE (IRICE Paris), Les rencontres internationales d’historiens de Spire, 1948–1950
Heinz DUCHHARDT (IEG Mainz), Martin Göhring und seine Beziehungen zur französischen Geschichtswissenschaft
Astrid M. ECKERT (Atlanta), Notwendige Kooperation: Westdeutsche Zeitgeschichte als transnationales Projekt in den 1950er Jahren
Ernst SCHULIN (Freiburg i. Br.), Zusammenfassung und Ausblick