Umkämpfte Vergangenheit: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik in Ostmittel- und Südosteuropa

Umkämpfte Vergangenheit: Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik in Ostmittel- und Südosteuropa

Organisatoren
Stefan Dyroff; Mira Jovanović; Julia Richers
Ort
St. Gallen
Land
Switzerland
Vom - Bis
03.11.2007 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sanela Hodzic, Universität Bern

Beim neunten Treffen des schweizerischen Forums Ostmittel- und Südosteuropa (FOSE)1 standen Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik im Zentrum des Interesses. Seit 1989 kann man in fast allen ostmittel- und südosteuropäischen Ländern einen Kampf um die Vergangenheit und das gesellschaftliche Aushandeln von neuen Geschichtsbildern sowie die Suche nach neuen Ästhetiken und Sprechweisen beobachten. Diese Entwicklung wurde aufgegriffen und aktuelle Forschungsergebnisse sowie laufende Forschungsprojekte zu diesem Themenkomplex vorgestellt.

In ihrem Impulsreferat präsentierte VIVIAN WAGNER (Universität St. Gallen) eine konkrete Anwendung gedächtnistheoretischer Konzepte in der kulturwissenschaftlichen Forschung am Beispiel der archivalischen Erinnerungsverwaltung in China. Gestützt auf das theoretische Konzept des Funktions- und des Speichergedächtnisses von Aleida Assman2, identifizierte sie das Archiv als das Funktionsgedächtnis in zentral gelenkten Staaten. Dabei sei die Auswahl des Archivguts weder neutral noch selbstevident sondern unterliege den idealen und politischen Ansichten. Die Klassifikation des Schriftguts lege eine hierarchische Ordnung desselben dar und der Zugang zum Archivgut werde erschwert. In China vollzog sich nach Maos Tod ein radikaler Richtungswechsel innerhalb der bestehenden Grundordnung, der starke Umwälzungsprozesse nach sich zog, die sich auch auf die staatliche Geschichtspolitik und Erinnerungskultur auswirkten. Es kam – ähnlich wie in Osteuropa nach dem Zusammenbruch des Sozialismus – zur Öffnung der Archive. Doch dies bedeutete auch den zunehmenden Kontrollverlust des Staates über das archivarische Erbe. Dies wiederum öffnete mehr Möglichkeit für die Entstehung neuer, staatsferner Erinnerungskulturen. Ob aus den Archiven in China, die zuvor als hochgradig selektive Funktionsgedächtnisse genutzt wurden, plurale Wissensdepots für vielfältige Verwertungszwecke im Sinne der Speichergedächtnisse geworden seien, versuchte die Referentin anhand von drei Aspekten zu beantworten. Erstens, habe die Aufgabe der Erhaltung einen größeren Stellenwert im Vergleich zur Kontrolle bekommen, obwohl politische Vorgaben einflussreich blieben; zweitens bemühe man sich zunehmend um die Diversifizierung der Bestände; und drittens verändere sich auch die Zweckbestimmung der Archive. Während in der Mao-Ära das Primat der Politik die Verwertungszwecke bestimmte, wurde in den letzten 20 Jahren die Vergangenheit als Quell des Nationalstolzes entdeckt und die Archive in diesem Sinne als Funktionsgedächtnisse ausgeschöpft. Beispielhaft sei hierfür das Großprojekt „Chinas archivarisches Erbe“3, das der Profilierung kollektiver Identität dienen solle. Doch langsam fänden auch staatsferne Darstellungen Eingang in das offizielle Gedächtnis und die Archive bekämen angesichts des Verschwindens kollektiver Erinnerungsorte in chinesischen Metropolen neue, ideologieferne Aufgaben im Rahmen von heimatkundlichen Ausstellungen. So könne man behaupten, dass die Fortführung des einst auf maximale Überwachung zugeschnittenen Archivsystems die chinesischen Archive zu potentiellen Speichergedächtnissen gemacht habe, die bei einem Regimewechsel reaktiviert werden könnten.

Durch das Referat wurden Analogien und Differenzen zur Entwicklung in Ost- und Südosteuropa, vor allem zur Sowjetunion, deutlich, die in der anschließenden Diskussion zur Sprache kamen. Ausgehend von der Gegenerinnerung zur offiziellen Erinnerung, die in der Sowjetunion durchaus wirksam war, wenn auch auf die Städte und den Kreis der Intellektuellen beschränkt, wurde festgehalten, dass es in China zwar auch Versuche des Aufbaus einer Gegenerinnerung gibt, die aber regionaler Art seien und immer wieder von der Partei zerschlagen würden. Zudem wurde darauf aufmerksam gemach, dass auch in der postsowjetischen Zeit die sowjetische Alltags- und Festkultur von Putin instrumentalisiert würden, und daher die Frage aufgeworfen, ob das Funktionsgedächtnis nicht persistenter sei, als man annehme. Es gebe zwar andere Gründe für das Erinnern, die Erinnerung sei jedoch dieselbe. Eine weitere parallele zur Sowjetunion wurde in der Benutzung des Nationalismus zur Festigung der Herrschaft ausgemacht, die in China Ende der 1980er-Jahre einsetzte.

In der daran anschließenden allgemeinen Diskussion der drei Texte von Assmann4, Neumann5 und Bergenthum6, wurde zunächst auf das Fehlen der Kategorie des Gebrauchs bzw. der Inszenierung aufmerksam gemacht, mit der das Funktionsgedächtnis steht und fällt. Wie werde die Erinnerung gesteuert, durch welche Institutionen geschieht dieses und welche Inputs kommen von unten, seien weitere Fragen, die es zu untersuchen gelte. Zudem setzte man sich mit dem Entwurf des Speichergedächtnisses auseinander: Viele theoretische Überlegungen würden vergessen, dass nur ein Bruchteil der Akten, die ebenfalls einem Auswahlverfahren unterzogen werden, letztendlich im Archiv aufbewahrt werde. Um der Frage der Vorselektion zu begegnen, wurde das Loslösen der Geschichtswissenschaft von der Aktenfixierung, und die Verwendung von Literatur als Sinn gebender Struktur diskutiert, wobei angemerkt wurde, dass damit das Problem nicht gelöst, sondern nur verschoben werde. Zudem habe im Ost- und Südosteuropäischen Raum der Paradigmenwechsel noch nicht stattgefunden und es bestehe nach wie vor die Tendenz, die Wahrheit nur im Archivgut zu suchen. Es wurde jedoch festgehalten, dass die Literatur durch die viel stärkere Rezeption neue Fragen aufwirft, die vor allem im Bereich der Oral History nützlich sein können.

Den zweiten Teil des Workshops eröffnete JÉRÔME BRUGGER (Universität Bern) mit einem Vortrag über die Kontinuität bulgarischer Erinnerungskultur, die er an zwei Beispielen aufzeigte: der Feier „1300 Jahre Bulgarien“ (1981) und dem Umgang mit der osmanischen Herrschaft. Für die 1300-Jahr-Feier im Jahr 1981 war die Ausstellung „Das Gold der Thraker“ konzipiert und anschließend in den 1980er-Jahren gezeigt worden. Im Zuge des bulgarischen EU-Beitritts wurde 2007 eine Ausstellung zum gleichen Thema in einigen EU-Ländern gezeigt. Beide seien sowohl in der ahistorischen Vereinnahmung der Thraker, die auf dem Gebiet zwischen den nördlichen Karpaten und dem Ägäischen Meer siedelten als auch im direkten Bezug zum modernen bulgarischen Nationalstaat vergleichbar und zeigten, dass das Selbstbild und die Selbstdarstellung in Bulgarien sowohl 1981 als auch 2007 ähnlich waren. Als zweites Beispiel diente die ebenfalls fast unverändert gebliebene Wertung der osmanischen Herrschaft auf dem Gebiet des heutigen Bulgariens. Der Beginn des bewaffneten Kampfes für einen eigenständigen Nationalstaat 1876 wäre 1981 und 2007 der stärkste Erinnerungsort der bulgarischen Geschichte gewesen. Diese Beispiele verdeutlichten, so der Referent, dass sich in Bulgarien bis heute eine monolythische Auffassung von Geschichte aufrechterhalten hat; „Les Bulgares“ – in Anlehnung an Noras „les Frances“ – würde man in der bulgarischen Öffentlichkeit vergeblich suchen.

Im nächsten Beitrag beschäftigte sich URSULA STOHLER (Universität Bern) mit dem Problem der Erinnerung aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Aus ihrem aktuellen Forschungsprojekt, das die Literaturdidaktik in Russland und in Tschechien untersucht, stellte sie die Entwicklung des Literaturunterrichts in Tschechien in den letzten 20 Jahren dar. Am Beispiel eines Lesebuchs für die Oberstufe, das die Zeit nach 1945 behandelt, zeigte sie anhand der Auswahl der zu behandelnden Werke und der Vermittlung der literarischen Fähigkeiten auf, wo Kontinuitäten liegen, wo Umformungen und Veränderungen stattgefunden hätten. Die Lehrbücher arbeiteten mit Auszügen der Hauptszenen, die „Denkbilder“ (nach Harro Müller-Michaelis) schaffen sollen. Der Literaturkanon werde nach Epochen in Weltliteratur, französische, englische, deutschsprachige und russische Literatur und schließlich tschechische Literatur gegliedert. In der Weltliteratur werde der Zweite Weltkrieg aus multiperspektivischer Sichtweise behandelt, während die Auswahl der russischen Literatur das Bild einer durch den Bürgerkrieg geplagten Nation entstehen lasse. Aus der Auswahl der tschechischen Literatur würden die Distanzierung zu politischen Verhältnissen im kommunistischen System und die Historisierung der eigenen Vergangenheit deutlich. Die Fortschrittlichkeit der Literaturauswahl, die sich in diesen Lehrbüchern zeige, wurde mit Hinweis auf die Ukraine, in der es nach dem Systemwechsel zu keinem Paradigmenwechsel im Literaturunterricht gekommen sei, unterstrichen.

Aus der Mikroperspektive der Machtverhältnisse im Alltäglichen der wissenschaftlichen Institutionen, insbesondere des Archivs für Staatssicherheitsdienste (ABTL), ging TAMAS KANYÓ (Karoly Eszterhazy Hochschule Eger) der Frage nach der Kontinuität der Erinnerung in Ungarn nach. Dabei stellte er einleitend das ungarische Selbstbewusstsein der Isolation, die sich sowohl aus der sprachlichen Sonderstellung als auch aus der politischen Wahrnehmung durch den Westen während der sozialistischen Zeit ergeben würden, dar. Sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für die Politik sieht er in 1989 keine Zäsur. Vor allem die Sprache hätte sich nicht verändert, die Umdeutung bestimmter Wörter, hätte nicht stattgefunden. Es herrsche zudem noch Unklarheit darüber, was verarbeitet werden soll. Das äußere sich sowohl in den wiederkehrenden Spitzelaffären, in denen bekannte Persönlichkeiten als Spitzel entlarvt werden, als auch in dem mangelnden Interesse an dem Archiv für Staatssicherheitsdienste, wo theoretisch jeder ungarische Bürger den Antrag auf Einsicht in seine Akte – sofern vorhanden – stellen kann. Dieses sei laut dem Direktor des Institutes aus zwei Gründen der Fall: dem mangelnden Interesse wirtschaftlicher Verlierer der Wende an diesem Thema und der mit dem Regimewechsel auf der privaten Ebene vollzogenen Wende. Tomas Kanyó nannte zudem das fehlende Vertrauen in das Archiv, da viele Archivmitarbeiter selbst die Verfasser der Texte waren. So blieb festzuhalten, dass die Vergangenheitsbewältigung in Ungarn noch lange Zeit brauchen und durch Impulse von außen vorangetrieben werde.

Den Umgang mit Erinnerungsorten der Weltkriegsvergangenheit in Kroatien seit 1991 hatte das letzte Referat von STEFAN DIETRICH (Universität Zürich) zum Thema. An unterschiedlichen Beispielen machte er fest, wie die neue Regierung ab 1991 einen radikalen Abkehrkurs von der kommunistisch gedeuteten Vergangenheit vollzogen hat. Der faschistoide Unabhängige Staat Kroatien (NDH), der von 1941 bis 1945 existierte, wurde dabei als die Manifestation des „tausendjährigen Strebens der Kroaten nach einem Nationalstaat“6 umgedeutet und rehabilitiert. Die Revision zeigte sich nicht nur in der Historiographie, sondern an verschiedenen anderen Beispielen: Beispielsweise wurde die alte Währung durch die Kuna ersetzt, die nur im NDH benutzt wurde, sowie die alte Hymne und diverse Abzeichnungen aus dem NDH eingeführt. Der Kurswechsel ließ sich auch an symbolischen Handlungen ausmachen, wie der Streichung der Privilegien für die Opfer des faschistischen Terrors und die Umbenennung von Institutionen, Plätzen und Straßen, sowie einer „Reinigung“ der Sprache von „Serbismen“. Das kroatische Beispiel machte deutlich, wie schnell ein staatlich gelenktes Funktionsgedächtnis zusammenbrechen kann, wenn der Druck von oben verschwindet und von unten nur eine geringe Identifizierung mit diesem vorhanden war. Des Weiteren zeigte es wie schnell mit einer erneuten Lenkung von oben und der Hilfe von Medien Gegengedächtnisse zu neuen Funktionsgedächtnissen umgeformt werden können.

Somit hatte das neunte FOSE-Treffen einen breiten Bogen gespannt und unterschiedliche Entwicklungen im Umgang mit Erinnerung gezeigt: von den vorsichtigen systemimmanenten Wandlungen in China bis zum radikalen Bruch mit einer bestimmten Deutung der Vergangenheit in Kroatien. Dabei wurde der Facettenreichtum der Herangehensweisen an die Vergangenheitsbewältigung in den Ländern Ost- und Südosteuropas betont. Die Diskussion verdeutlichte, dass die Gleichsetzung des Archivguts mit dem Speichergedächtnis im Sinne Assmanns nicht unproblematisch ist, da nur ein Bruchteil der Überreste aufbewahrt wird und deren Selektion ein Problem darstellt, das alle Länder betrifft, nicht nur die totalitären Regime.

Konferenzübersicht:

Vivian Wagner: Speichergedächtnis? Funktionsgedächtnis? Aus der Praxis der archivischen Erinerungsverwaltung in China
Jérôme Brugger: Die Feier '1300 Jahre Bulgarien' von 1981 und ihre Spätfolgen
Ursula Stohler: Identität und Kanon im Literaturunterricht in Osteuropa (1989-2007)
Tamas Kanyó: Ungarns Spitzelaffären und die Probleme im Umfeld des Archivs (ABTL) für Staatsicherheitsdienste
Stefan Dietrich: Über den Umgang mit der Weltkriegsvergangenheit in Kroatien

Anmerkungen:
1http://www.oewiss.ch/fose/
2 Assmann, Aleida, Erinnerungsräume: Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 3.Aufl., München 2006, S.130-142.
3 Das Projekt wurde im Jahr 2000 im Zuge des „World Memory Project“ der UNESCO ins Leben gerufen.
4 Assmann, Erinnerungsräume.
5 Neumann, Birgit, Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerung und Identitäten, in: Erll, Astrid u.a. (Hrsg.), Literatur – Erinnerung – Identität. Theoriekonzepte und Fallstudien, Trier 2003, S.49-76.
6 Bergenthum, Hartmut, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen. Bemerkungen zur neuen Theoriedebatte, in: Oesterle, Günther (Hrsg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S.121-162.
[7] Aus einer Rede des kroatischen Präsidenten Franjo Tudjman, nach: Goldstein, Ivo, Holokaust u Zagrebu, Zagreb 2001, S. 597.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts