Dieser, mehrheitlich von zu Deutschland und Europa arbeitenden Allgemeinhistorikern/innen besuchte internationale Workshop widmete sich der zentralen Frage, welche kontingenten Triebkräfte, politischen Konstellationen sowie individuellen Dispositionen für ein adäquateres Verständnis der politischen Geschichte des modernen Europas untersucht werden müssen. Er ging von der Zentralbeobachtung aus, dass die historische Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert insbesondere zwischen zwei Extremen hin- und hergeworfen gewesen ist, nämlich dem Űbergang in kriegerische Auseinandersetzungen auf der einen Seite sowie Rückkehrbewegungen zur Demokratie auf der anderen. In ihren Eingangs-Statements und Abschlussplädoyers machten der Tagungsorganisator TILL VAN RAHDEN (Universität von Montreal) sowie die Tagungsorganisatorin ANNETTE F. TIMM (Universität von Calgary) deutlich, dass ihr Vorhaben auf eine spezifische Moral History of 20th Century Europe gerichtet war und ist. So sollte dieser Workshop dazu dienen, eine innovative und tragkräftige methodologische Zugangsform zu erarbeiten, die es erlaubt, die Kategorien von „Demokratie“, „Moralität“ und „Intimität“ neu zu fassen. Diese sollten verstärkt für die Frage nach der Entwicklung von Gesetzgebung, politischem Selbstverständnis und liberalen Gesinnungen in den modernen Gesellschaften des westlichen Europas nutzbar gemacht werden. Das Gleiche gelte auch für Ost-Europa nach dem Zerfall des Ostblocks sowie der Westintegration in die Europäische Union, Prozesse, die in weiterführenden historiografischen Einzelprojekten zu untersuchen seien.
Der Auftaktvortrag von Till van Rahden zum intrinsischen Verhältnis von Demokratie und Intimität diente dem Versuch einer näheren Differenzierung der von den Organisatoren/innen in Anschlag gebrachten Kernfragestellungen für das methodologische Unternehmen einer Moral History Nachkriegseuropas: Die thematische Spannbreite der zu diskutierenden Perspektive sollte folgende historiografische Probleme einschlieβen: Wie werden gesellschaftliche Zugehörigkeitsgefühle und politische Selbstverständnisse imaginiert und entwickelt? Wie sind sie in politisch handelnden Subjekten verankert und welchen Stellenwert besitzen sie für das psychische Selbstverständnis sowie die politische Identitätsbildung? Durch welche politischen wie kontigenten historischen Zustände werden Identitäts-, Intimitäts- und Zugehörigkeitsgefühle je wieder auβer Kraft gesetzt? Und wie hängen die Begrifflichkeiten der Bürgerlichkeit, des ethischen Selbstverständnisses, der Moralität, des gesellschaftlichen gewünschten Anstands von der Entwicklung der „Unsocial Sociability“ in Zeiten der Diktatur, der totalitären Systeme und des Krieges ab?
In einem Dreischritt zwischen individuell handelnden Subjekten, privaten und intimen Handlungen sowie übergeordneten Gruppenentwicklungen war dieser Workshop darauf ausgerichtet, basale Entwürfe und weiterführende Denklinien zu einer zukünftigen Moral History zu erarbeiten. Mit diesem Ansatz visierten der Tagungsinitiator und die -initiatorin an, neue methodische Ansätze und Lösungsvorschläge zu der Frage zusammenzuführen, wie Deutsche und Europäer sich selbst von den Erfahrungen zweier Weltkriege, des Massenmordes, der Verfolgung und Flucht weiter Bevölkerungsgruppen befreien und sich je neu demokratischen Kulturen sowie liberalen Lebensformen zuwenden konnten. Das Workshopprogramm wie auch die Diskussionen des Tagungsverlaufs sollten positivistische Denklinien explizit verlassen, um die politische(n) Neuordnung(en) eben nicht (allein) im Fahrwasser der ökonomischen Umwälzungen und Verbesserungen sowie externer politisch-kultureller Einflüsse zu sehen. Vielmehr galt es, gerade neue Erklärungswege im historiografischen Zugriff auf die moralischen und gruppendynamischen Konstellationen in (West-)Europas demokratischen Bewegungen und Parteiungen aufspüren. Diesbezüglich war der Bogen weit gespannt und die Gegenstände durch gröβte Vielfalt gekennzeichnet: Besessenheiten, Utopien, Ängste im privaten wie politischen Leben von Individuen und Gruppen; Gender-Beziehungen, Familienverhältnisse, Kindererziehung, Debatten über Sexualität und Abtreibung, Homosexualität, Paternalismus, Konsumverhalten und Umweltfragestellungen sollten – auf der gesellschaftlichen Mesoebene – untersucht werden und konzeptionelle Zugriffsflächen bieten.
Das erste inhaltliche Panel widmete sich mit dem komparativen Vortrag von NORMAN INGRAM (Montreal) dem Eintrag politischer Groβentwicklungen, persönlicher Einstellungen sowie von Gruppenkohäsionen und Traditionsverständnissen den Vorentwicklungen wie den Folgezeiten beider Weltkriege. Am Beispiel der französischen Ligue des droits de l’homme (LDH) – präparierte Ingram die unterschiedlichen zeitlichen Abfolgen und Systemwechsel sowie die links- und rechtsrheinischen Perspektiven heraus, die eine deutliche „Faiblesse larvée“ im französischen Demokratieverständnis erkennen lieβen: Nach Art eines Brennglases der aufgeklärten Gesellschaft wurden entlang der verschiedenen, teilweise germanophilen Protagonisten, des Aufstiegs und Falls von Mitgliedschaftszahlen wie dem schwindenden Einfluss der LDH während und nach beiden Weltkriegen die äuβeren politischen Verhältnisse Frankreichs im Inneren der LDH deutlich gemacht. Und dies warf und wirft Fragen nach der herausgehobenen Stellung des Groβpolitischen vor den Einzelentwicklungen individueller politischer Spezialgesellschaften je neu auf.
Das zweite thematische Panel stand mit den Themen der pro-nativen Strategien von NS-Medizin, Promiskuität und Prostitution in beiden Nachkriegszeiten sowie den individuellen Todesurteilen der NS-Rechtsprechung während des Zweiten Weltkrieges am nächsten Tag ganz im Zeichen biopolitischer Diskurse. So gelang es JENNIFER EVANS (Ottawa), in ihrem Beitrag „Reconstruction Sites: The Moral Regulation of Space in Postwar Berlin”, am Beispiel der Berliner Bunkerwelten während und nach dem Zweiten Weltkrieg deren Neuannahme und Umwertung aufzuzeigen. Dabei spannte sie einen Bogen von den Schutz- und Repressionsräumen aus Kriegszeiten hin zu deren Umnutzung als Orten der Lust, der Promiskuität und der Prostitution in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Ost- wie Westberlin. Zugleich war hierdurch ein Kontrapunkt zur Wahrnehmung des „Zusammenbruchs“ während des Kriegsendes entstanden, in dem Evans vor allem die neu entfalteten intimen Wünsche, Freiheiten und Sehnsüchte nach normalem Leben entgegen der Todesbedrohung des Krieges als politische Akte markierte. Gewissermaβen am anderen Ende der Dichotomie von Eros und Thanatos untersuchte DEVIN PENDAS (Boston) in seinem Beitrag „The Fate of a Man: The Murder of Dr. Hans Hannemann, April 25, 1945“ den absurden Prozess um den Mord an einem tschechischen Juden in den letzten Tagen der Schlacht um Berlin. Diese noch als Forschungsprojekt angelegte Analyse geht der Differenz aus grenzenlosem Grauen und Morden im Dritten Reich sowie den individuellen, vormals rechtsstaatlichen Verhandlungen gegenüber individuellen Kriminellen nach. Ihre Titulierung, Aufarbeitung und Behandlung durch die NS-Rechtsprechung, die am Beispiel von Hans Hannemann (gest. 1945) den Blick auf den Flüchtling ethisch und rechtlich rekonfigurierte, wird hier auch und gerade am Vorabend des Endes des Zweiten Weltkriegs deutlich. Direkt folgend auf diese Argumentation trieb Annette F. Timm in ihrem Vortrag „Private Vice and Public Order: ‚Lebensborn’ and its Legacy in Postwar West Germany“ einige Fragekeile in die hermetische Diskussion um den NS-Lebensborn hinein. So wies sie den Blick weg von den groβpolitischen Einstellungen in der NS-Volksmedizin wie den Gesundheitswissenschaften und wandte sich anhand von neuem Archivmaterial vor allem dem individuellen Setting zwischen den am Lebensborn beteiligten Ärzten/innen wie auch ihrem Ärztlichen Direktor Dr. Gregor Ebner (1892-1974) mit einwilligenden Frauen zu. Es waren besonders Fragen der Intimität, des Enablement und der Selbstbestimmung der Frauen im Dritten Reich die sie quer zu den politischen Direktiven positionierte.
Im dritten thematischen Block sollten gewissermaβen politische Gruppenentwicklungen national wie transnational analysiert und hinsichtlich der motivationalen und gruppenkohärenten Kontinuitätsstrukturen sowie Abbruchssymptomen diskutiert werden: PAMELA SWETT (Hamilton, ON) diskutierte in ihrem Beitrag „The Nazi Advertisement Council and Planning for Victory, 1940-42“ die Interaktionen zwischen staatlichen Institutionen, nationalsozialistischen Gruppeninteressen sowie der Bedeutung ökonomischer Einflüsse am Beispiel des „Deutschen Werberats“. Eindrucksvoll konnte sie nachweisen, wie hier im Dritten Reich die Entwicklungen der wissenschaftlichen Werbeindustrie aus dem politischen System von Demokratie und Konsumkultur der Vereinigten Staaten hervor- und in ein vergleichbares Terrain politischer Beeinflussungsstrategien übergegangen sind. Dabei wurden durch die Werbestrategien politische Statements mit Einzelemotionen nachhaltig verbunden. TALBOT IMLAY (Laval) ging in seinem Beitrag „Defining Socialist Internationalism: Cooperation and Confrontation between British, French and German Socialists, 1945 to 1960” – den er im Zeichen einer „kontrafaktischen Historiografie“ behandelte – der Bedeutung nationaler Geschichtsentwürfe gegenüber internationalen Gruppierungen nach. Ausgehend von der Idee des Machbaren in der „Sozialistischen Internationalen“ fragt er in seinem Arbeitsprojekt insbesondere nach den politisch machbaren Einstellungen, die die frühen internationalistischen Ansätze bei Frankreichs, Groβbritanniens und Deutschlands Sozialisten und Sozialdemokraten getragen hätten. Während wichtiger Entscheidungsphasen vor und nach beiden Weltkriegen gingen hieraus andere, demokratische Traditionsentwicklung als plausibel hervor. Gleichsam vom gegenüberliegenden Ende des Arguments herkommend widmete sich MARK MEYERS (Saskatoon) in „Representing Fascism, Remaking the Republic: France, 1944-1969“ der Fragestellung, wie die Abgrenzungsbewegungen gegen die Vichy-Regierung in Frankreich zur neuen Identitätsbildung im Nachkriegsfrankreich beigetragen haben und dabei auch in internationale Konflikte wie den Algerien- und Koreakrieg sowie die Wiederannäherung an die Bundesrepublik Deutschland übergegangen sind. Dies unterstrich Meyers insbesondere entlang von politischen Mustern der Abgrenzung gegen den Faschismus, des bewaffneten Widerstandes und der internationalen Koalitionen – Entwicklungen, die zunächst nicht allein von innenpolitischen und traditionshistorischen Gesichtspunkten ausgegangen waren.
Im anschlieβenden vierten Panel des Workshops wurde die Fragerichtung erneut umgedreht. Nun gerieten mehrheitlich individuelle, motivationale und emotionale Faktoren des gesellschaftlichen Engagements wie der politischen Theoriebildung in die Diskussion: Dabei stellte MARIE-JOSEE LAVALLEE (Montreal) in ihrem Beitrag „Sphère privée et sphère publique chez Hannah Arendt: esquisse d’un conflit?“ die theoretische Konzeption der politischen Meinungsbildung und des individuellen Engagements bei Hannah Arendt (1906-1975), etwa in ihre Auseinandersetzung mit dem Prozess von Adolf Eichmann (1906-1962) in Israel 1961, ein. Ohne nach den entwicklungspsychologischen Hintergründen zu fragen, ging es ihr vielmehr um die Neubestimmung demokratischer Werthaltungen, persönlicher Einstellungen wie auch des ethischen Rechtsempfindens in der Auseinadersetzung mündiger Bürger/innen mit nicht-rechtsstaatlichen Institutionen. IAN MACDONALD (Montreal) vertrat in seinem Beitrag „Cold, Cold, Warm: Democracy, Intimacy and Maturity in Adorno” die These, dass Theodor W. Adorno (1903-1969) von Immanuel Kant (1724-1804) zwar die Begrifflichkeit der politischen Mündigkeit übernommen, jedoch dessen individuellen Autonomiekonzept kritisch gegenübergestanden habe. In der amerikanischen Exilerfahrung sei für Adorno die Denkfigur Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770-1803) einer „entschiedenen Negation“ zum tragenden Konzept privater und alltäglicher Lebenserfahrung in der amerikanischen Konsum- und Massengesellschaft geworden. Dies öffnete eine Perspektive auf die bürgerliche Familie als eines „Hortes demokratischer Wertungen“ im (negativen) Kontext entsubjektivierender sozialer Umwelten. KARIN BAUER (Montreal) warf in ihrem Beitrag „Ulrike Meinhof and the Moral Rigor of the Radical Left” einen ganz neuen Blick auf die literarische und kommentatorische Tätigkeit der deutschen RAF-Terroristin Ulrike Meinhof (1934-1976) vor ihrer Aktivität im Untergrund. Sie überführte deren politische Aktivitäten in die Lebenswelt sowie den Bildungskontext protestantischer Kirchengruppierungen und machte hinsichtlich motivationaler Entscheidungen eine wichtige Abkehr der schreibenden Meinhof darin aus, dass ihre politische Sprache, der harte moralische Tenor sowie das Traditionsverständnis des deutschen Anti-Faschismus zu einer diskursiven Unerreichbarkeit weiter Gesellschaftsschichten in der BRD der 1960er- und 1970er-Jahre geführt hätten.
Während des letzten inhaltlichen Panels am Samstag entwarf JAMES KRAPFL (Montreal) in seinem Vortrag „A Revolution of Ethics: Czechoslovakia, 1989“ ein grundständig anderes Bild der friedlichen Revolution in der Tschechoslowakei, weil er die Entwicklungen der späten 1980er-Jahre nicht aus der Perspektive groβpolitischer Ereignisse oder gesamtökonomischer Entwicklungen heraus besprach: Krapfl ging es statt dessen um das tiefe Bedürfnis weiter Bevölkerungsschichten, sich eine neue basisdemokratische Grundordnung zu geben und in kontingenten Gruppierungen nach Neuordnungen kommunikativer, gesellschaftlicher und politischer Beziehungen zu suchen. Seines Erachtens lässt sich hierin eine der Kernerklärungen für den Zerfall der vorherigen Tschechoslowakei ausmachen. So war diese zwar von politischen und ökonomischen Eliten gewollt, nicht aber von der Gesamtbevölkerung geteilt worden – wie sich dies in der Abwesenheit eines entsprechenden politischen Referendums deutlich widerspiegelt. MATHIEU DENIS (Montreal) charakterisierte in seinem Vortrag „Intimité et conflits du travail en régimes non-démocratiques: le cas de la RDA” einige Momente der Mitbestimmung in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) während der Endphase ihres politischen Bestehens. In interessanter Weise entwickelte er eine Figur aus politischem Bedürfnis (Fragen der Arbeitsbedingungen und Löhne), privater und häuslicher Autonomie (Erstellung von Petitionen und Eingaben an die Parteizentralen) sowie der Verfestigung und Rekonstitutionalisierung von Autoritäten durch Reiterierung akzeptierter, disziplinierter sowie sanktionierter Formen politischer Beteiligung im Sozialismus der DDR. Im letzten Vortrag dieses umfassenden Workshops „Fears, Dreams and Delusions: Imagining Muslim Intimacy as a Counterpoint to Contemporary European Morality” machte ESRA ÖZYŰREK (San Diego) den rezenten Umgang mit muslimischen Minoritäten in Deutschland vor allem an „Sexual Identities“ fest. Es sei auffallend, dass gerade diejenigen Streitpunkte in der Auseinandersetzung um die Andersartigkeit von Türken/innen wie auch anderer muslimischer Bevölkerungsgruppen in Deutschland betont würden, die sexuelle und Gender-Konnotationen trügen: Die Verschleierung muslimischer Frauen (als Rückzug aus dem säkularen Mating-Geschehen interpretiert), Heiratsregeln (als Ausdruck patriarchalischer Familienbedingungen verstanden) oder Fragen nach der Ablehnung von Homosexualität durch türkische Migranten/innen (als Zurückweisung grundständiger liberaler Wertevorstellungen aufgefasst) würden die politischen Auseinandersetzungen als intime Kernkonflikte deutlich werden lassen.
In der Abschlussdiskussion „Qu’est-ce que l’histoire morale de l’Europe d’après-guerre, et pourquoi l’étudie-t-on?” wurde noch einmal besonders auf den Zusammenhang der Kategorien von „Demokratie“, „Moralität“ wie „Intimität“ und die Frage nach der Entwicklung von Gesetzgebung abgestellt. Wie der Nachvollzug der oben genannten Diskussionen deutlich werden lässt, war dieser Workshop disparat besetzt und lief teilweise sogar in inkohärente Teildebatten ein. Aber dies markierte die Schwächen wie die Stärken dieser internationalen Tagung zum historischen Selbstverständnis und den liberalen Gesinnungen in den modernen europäischen Gesellschaften: Auf der einen Seite imponierte die fehlende Engführung auf terminologische Fragen nach „Demokratie“, „Liberalismus“, „Recht“, „Ethik“, „Intimität“, „Moralität“, von „Sex“ und „Gender“ wie auch „Emotion“. Frei von philosophischen Vorabbestimmungen über diese Begriffe konnte somit deren historische Entwicklung, individuelle Semantik wie Fruchtbarkeit für das historiografische Arbeiten diskutiert werden. Dies wurde dem Charakter des Workshops im Sinne der Erarbeitung von Grundperspektiven für ein zukünftiges Forschungsprojekt auch im Rahmen der durch DAAD und andere geförderten Aufgabenstellung des CCEAE (Universität von Montreal) sicher gerecht. Andererseits fiel aber ein Auseinanderklaffen teilweise inkommensurabler Perspektiven eines Teilnehmerkreises mit Zentralinteressen an der politischen Gesamtgeschichte Europas gegenüber derjenigen, an Fragen von „Intimität“, „Körperlichkeit“ und „Emotionalität“ interdisziplinär besetzten Gruppierung aus Anthropologen/innen, Soziologen/innen, Medizinhistorikern/innen und Literaturwissenschaftlern/innen auf.
Nicht nur die Einzelpositionen selbst, sondern ein zukünftiges Forschungsprojekt zu einer Moral History of 20th Century Europe wird sich diesen Fragen neu zu stellen haben. Und dies wird unabhängig davon gelten, ob der Schwerpunkt nun weg von der analytischen Mesoebene eher zur Makroebene oder zur Mikroebene hin verschoben wird. So gesehen könnte sich das Projekt methodologisch zwischen der erweiterten Perspektive Michel Foucaults (1926-1984) in Giorgio Agambens biopolitischem Denken 1 wie auch als Neuinterpretation des Forschungsansatzes der französischen Ecole des Annales bewegen 2. Wie diese Entscheidungen auch immer ausfallen, der mit Wissenschaftlern/innen aus Deutschland, Kanada, den USA, Israel, der Türkei, Frankreichs sowie Groβbritanniens besetzte Workshop war in seiner Spannbreite für alle Anwesenden hochinteressant und auf die Anschlussentwicklungen dürfen wir in naher Zukunft getrost gespannt sein.
Konferenzübersicht:
Till van Rahden (Universität von Montreal): Democracy and Intimacy: Reflections on the Moral History of Postwar Europe
Panel 1
Norman Ingram (Concordia Universität, Montreal): Une Faiblesse larvée: French Democracy, the Ligue des droits de l’homme, and the Origins of Two World Wars
MICHAEL GEYER (Chicago): „On Friendship, Love and (possibly) Beauty, or Why a Certain Weimar Engrossment Has Disappeared from Sight” [Der Beitrag wurde von Laurence McFalls verlesen]
Kommentator: Laurence McFalls (Universität von Montreal)
Panel 2
Jennifer Evans (Ottawa): Reconstruction Sites: The Moral Regulation of Space in Postwar Berlin
Devin Pendas (Boston College): The Fate of a Man: The Murder of Dr. Hans Hannemann, April 25, 1945
Annette F. Timm (Calgary): Private Vice and Public Order: “Lebensborn” and its Legacy in Postwar West Germany
Panel 3
Pamela Swett (Hamilton, ON): The Nazi Advertisement Council and Planning for Victory, 1940-42
Talbot Imlay (Laval): Defining Socialist Internationalism: Cooperation and Confrontation between British, French and German Socialists, 1945 to 1960
Mark Meyers (Saskatoon): Representing Fascism, Remaking the Republic: France, 1944-1969
Kommentatoren: Carl Bouchard (Universität von Montreal) und Matthias Fritsch (Concordia Universität, Montreal) [der 2. Kommentar wurde von Till van Rahden verlesen]
Panel 4
Marie-Josée Lavallée (Universität von Montreal): Sphère privée et sphère publique chez Hannah Arendt: esquisse d’un conflit?
Ian MacDonald (Universität von Montreal): Cold, Cold, Warm: Democracy, Intimacy and Maturity in Adorno
Karin Bauer (McGill Universität, Montreal): Ulrike Meinhof and the Moral Rigor of the Radical Left
Kommentatorin: Myrtô Dutrisac (Universität von Quebec in Montreal)
Panel 5
James Krapfl (McGill Universität, Montreal): A Revolution of Ethics: Czechoslovakia, 1989
Mathieu Denis (Universität von Montreal): Intimité et conflits du travail en régimes non-démocratiques: le cas de la RDA
Esra Özyürek (San Diego): Fears, Dreams and Delusions: Imagining Muslim Intimacy as a Counterpoint to Contemporary European Morality
Kommentatorin: Barbara Thériault (Universität von Montreal)
Anmerkungen:
1 Agamben, Giorgio, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, dt. Űbers. (ital. 1995), Frankfurt am Main 2002.
2 Burke, Peter, Offene Geschichte. Die Schule der ‚Annales’, dt. Űbers. (engl. 1990) Berlin 1991; Raphael, Lutz, Die Erben von Bloch und Fevre: Annales-Geschichtsschreibung und nouvelle histoire in Frankreich. 1945-1980, Stuttgart 1994.