„Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!“ Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968

„Stellt die Gitarren in die Ecke und diskutiert!“ Jugendbewegung und Kulturrevolution um 1968

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.10.2007 - 28.10.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Gudrun Fiedler, NLA-Staatsarchiv Stade; Jörg Endris Behrendt, Ludwigstein/Witzenhausen Email: <archiv@burgludwigstein.de>

Was passierte in den 1960er-Jahren, als die Bünde und Gruppen der klassischen bürgerlichen Jugendbewegung auf die neuen Formen des politisch-kulturellen Aufbruchs um 1968 stießen? Vor allem das Verhältnis der damaligen „Jugendbewegten“ zu den bestimmenden Akteuren der Protestbewegungen, die Veränderungen innerhalb der Jugendbewegung durch die Ereignisse um 1968 und die Einflüsse lebensreformerischer Strömungen und Konzepte auf den Zeitgeist waren auf der diesjährigen Tagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung von besonderem Interesse. Wie bereits Ludwigsteiner Tradition entwickelte sich auch dieses Mal wieder eine besondere Spannung durch das Zusammentreffen von Wissenschaftlern mit den zahlreich vertretenen jugendbewegten Zeitzeugen, die an der Tagung als Vortragende oder diskutierend teilnahmen. DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) und ALFONS KENKMANN (Leipzig), beide ausgewiesene Kenner westdeutscher Jugendkultur, gelang es als Organisatoren und Moderatoren der Tagung, den theoretisch analytischen Teil wie auch den Zugang zum Thema über die erinnernden Zeitzeugen zu einem interessanten und perspektivreichen Ganzen zusammenzufügen.

DETLEF SIEGFRIED führte in das Thema ein unter dem Titel „Dritte Wege. Konzepte der Emanzipation in den 60er Jahren“. Er wies darauf hin, dass weltweit Jugendliche, vor allem Studenten, aufbrachen, um neue Formen der Teilhabe an Politik und Kultur auszuprobieren. Dabei haben die seit den 1950er-Jahren in den USA, in Frankreich und England sich ausbreitenden Ideen einer ‚New Left’ eine große Rolle gespielt. Sozialistische Ideen galten als innovativ. Ziel sei es gewesen, Polarisierungen aufzubrechen, zwischen Kapitalismus und Sozialismus einen ‚dritten Weg’ einzuschlagen und neue Lebensformen auszuprobieren, auf den Feldern Politik, Kultur und im Alltag. Angestrebt wurde eine wirkliche Demokratisierung der Gesellschaft bei gleichzeitiger Emanzipation des Einzelnen, so unter anderem eine stärkere Beteiligung der Bürger an der Politik beispielsweise über Möglichkeiten der Selbstverwaltung. In der Bundesrepublik habe die jugendliche Revolte nicht den gesellschaftlichen Wandel in Gang gesetzt, sondern sozusagen ‚nachholend’ den notwendigen mentalen Anpassungsprozess auf bereits in den 1950er- Jahren einsetzende Modernisierungsprozesse beschleunigt.

TOM SCHROEDER (Mainz) beschrieb die Ereignisse und Diskussionen rund um das 1964 bis1969 stattfindende internationale Folklorefestival auf Burg Waldeck im Hunsrück als Ort einer neuartigen (Gegen-)Kultur. Von Kreisen der Bündischen Jugend gegründet, fanden sich hier Sänger, die deutsche Lieder auf neue Art singen wollten – nachdem deutsche Volkslieder durch den Nationalsozialismus instrumentalisiert worden waren. Im Rahmen des Festivals traten Nachwuchsliedermacher aus dem In- und Ausland auf, unter anderem Franz Josef Degenhardt, Reinhard Mey, Walter Moßmann, Christof Stählin.

Den Abschnitt „Transformation der Jugendbewegung“ durch die Ereignisse um 1968 leitete CLAUS DIETER KROHN (Hamburg) ein mit seinen Ausführungen zur Sozialisation Jugendbewegter in den 1960er-Jahren, wobei er eigene persönliche Erfahrungen in einer so genannten „Kutter-Crew“, einer auch für Realschüler und Lehrlinge offenen Nachfolgeorganisation des Wandervogels, einst Kerngruppe der Jugendbewegung verarbeitete. Zwei Dinge, so Krohn, haben die Bündische Jugend nach dem Krieg in großen Teilen ausgezeichnet: Zum einen habe sie sich „auf der Suche nach einem naiven Internationalismus“ befunden, zum anderen hätten die Bünde keine eigene gruppenspezifische Einstellung zu den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der jungen Bundesrepublik gehabt. Wenn Mitglieder sich in diesen Bereichen engagiert hätten, dann nicht innerhalb der Gruppe, sondern über ihren eigenen, individuellen Weg innerhalb der unterschiedlichen Protestbewegungen, wie etwa als Demonstranten gegen eine atomare Bewaffnung der Bundesrepublik Deutschland oder als Teilnehmer von Ostermärschen.

JÜRGEN REULECKE (Gießen) setzte den Themenschwerpunkt mit seinem Vortrag über „Jugendbewegte Eltern und studentenbewegte Kinder“ fort. Er begann mit einem Verweis auf die eigene Biographie. Ihn beschäftigte zudem vor allem die Frage nach dem Werdegang der „Bündischen“, die etwa zwischen 1900 und 1910 geboren worden seien. Seine Thesen einer spezifisch deutschen Vater-Sohn-Problematik in vaterloser Gesellschaft ließen sich besonders anschaulich am Beispiel des 1947 in Wetzlar gegründeten Freideutschen Kreises darstellen. Wichtig für Reulecke sind bestimmte psychohistorische Zusammenhänge im Hinblick auf Generationenkulturen. So sei das Scheitern der Diskussion zwischen den Generationen „Jugendbewegung 1“ und „Jugendbewegung 2“ zu einer Zerreißprobe für den Freideutschen Kreis geworden, in dem sich älter gewordene Erwachsene, die aus den jugendbewegten Gruppen vor allem der Weimarer Republik stammten, zusammengefunden hätten. Die ältere Jugendbewegung habe die 1968er nicht beeinflussen können.

HERMANN KORTE (Hamburg) bestätigte in seinem Beitrag vom „Tod der Jungenschaft? Die Studentenbewegung als Zäsur“ die These von der Transformation der Jugendbewegung dahingehend, dass Jugendbewegte durchaus aktiv an der Kulturrevolution um 1968 beteiligt gewesen seien, jedoch insgesamt nicht zu den Impulsgebern zu rechnen seien. Kennzeichnende Merkmale des Bundes deutscher Jungenschaften seien beispielsweise das Naturerlebnis und die Ausbildung bestimmter Formen menschlichen Zusammenlebens gewesen. Politische Äußerungen des Bundes als Institution seien nicht erwünscht, politisches Engagement sei jedem Einzelnen selber überlassen gewesen. Letztendlich seien die Gruppen – auch aufgrund ihrer heterogenen Strukturen – dieser Belastung nicht gewachsen gewesen. Die klassische Jugendbewegung könne sozusagen als „Enklavebewegung“ angesehen werden.

STEFAN HEMLER (München) eröffnete mit seiner Analyse der Schwabinger Krawalle den dritten Teil der Tagung, der unter dem Thema ‚Orte und Protagonisten’ stand. Er veranschaulichte zunächst Hermann Kortes Kernaussage. Zwar seien Jugendbewegte zu Beginn an den Krawalle beteiligt gewesen, jedoch eher zufällig. Fünf Jungenschaftler hätten sich durch das Singen russischer Volkslieder, wie sie in den bündischen Gruppen der Jugendbewegung traditionell gesungen wurden, auf offener Straße in den Zeiten des kalten Krieges verdächtig gemacht und seien kurzzeitig in polizeilichen Gewahrsam genommen worden. Im Vordergrund stand denn auch die Fragestellung, ob es sich bei den Krawallen um den Auftakt zu den kulturrevolutionären Umbrüchen um 1968 handelte oder ob sie an die Halbstarkenproteste der Jahre 1956 bis 1958 anknüpften. Sowohl das fast vollständige Fehlen jeglicher inhaltlicher Forderungen während der Auseinandersetzungen mit der Polizei als auch die sich in den nachfolgenden Tagen ständige verändernde Zusammensetzung der Teilnehmer, die einen immer geringeren Akademisierungsgrad aufwies, sprachen dafür, dass die Krawallbeteiligten von 1962 und 1968 nicht unmittelbar in einen Generationszusammenhang gebracht werden können. Allerdings werde man den Schwabinger Krawallen bestimmte vorbereitende Funktionen für die nachfolgenden Auseinandersetzungen zuweisen können.

PAUL CIUPKE (Essen) konnte in seinem Vortrag zur ‚Politischen Bildung zwischen Jugendbewegung und 1968’ aufzeigen, dass für viele erwachsene Jugendbewegte, die sich zur Mitte der 1960er-Jahre neu orientierten, die politische Bildungsarbeit durchaus zu einer neuen beruflichen Heimat werden konnte. Durch die sich ständig verbreiternde Basis der Bildungseinrichtungen seit den 1950er-Jahren, habe es auch hinreichend Möglichkeiten gegeben, kritische Wissenschaft der Öffentlichkeit zu vermitteln. Zudem hätten sich viele Protagonisten nicht nur in den außerschulischen Bildungseinrichtungen, sondern auch bei den Gewerkschaften engagiert.

Mit WALTER MOßMANN (Freiburg) leitete ein ehemaliger Aktiver eine Diskussionsrunde über „Jugendbewegung und 1968“ ein. Walter Moßmann, profilierter Vertreter des pointierten politischen Songs unter anderem auf Burg Waldeck, verwies darauf, dass die 68er Revolten von sehr viel Musik und Tanz begleitet worden seien. Jedoch haben die Sänger und Liedermacher im Lauf der Jahre ihre Überraschungsmomente verloren und auch der Charakter der Musikinterpretationen habe sich stark verändert, was sich beispielhaft an der Entfremdung der Gitarre durch deren Elektrifizierung aufzeigen ließe. Durch die umfassendere Verstärkertechnik seien z.B. auch die Besucher der Musikfestivals von vormals aktiv „Mitsingenden“ und „Mitgestaltenden“ zu passiven Konsumenten degradiert worden. Für die Anfangszeit ließen sich durchaus Beziehungen zu den Bündischen mit ihrem reichhaltigen Liederrepertoire herstellen und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass das Singen als eine neue Form der Demonstrationskultur genutzt werden könne. Dennoch ließen sich Verwerfungen im Verhältnis der ehemals bündischen Jugendlichen und der 68er Generation nicht leugnen, da die Jüngeren nicht nur mit dem althergebrachten „Männergehabe“ nichts anzufangen gewusst, sondern auch deren Vergangenheitsbewältigung als unbefriedigend empfunden haben. So bliebe festzuhalten, dass eine direkte Wirkung der Jugendbewegung auf die Studentenunruhen nicht auszumachen sei.

Die Tagung schloss mit dem Aspekt „Kulturrevolution und Lebensreform“. MEIKE SOPHIA BAADER (Hildesheim) stellte fest, dass gerade die Erziehungswissenschaften zum Themen-Komplex ‚1968er-Jahre’ bisher keine nennenswerten Beiträge geliefert hätten. Die historische Rekonstruktion des Zusammenlebens als „Männer – Frauen – Kinder“ in den Familien stünde noch aus – dies trotz hitzig geführter Debatten über die – seit den 1970er-/1980er-Jahren als gescheitert geltende – antiautoritäre Erziehung. Baader wies darauf hin, dass durch die Kinderläden die bisher private Angelegenheit der Kindererziehung öffentlich gemacht werden sollte („Das Private ist Politisch“). Gleichzeitig seien damit bestimmte Aspekte der Emanzipation der Frauen und die Ablehnung der bisherigen geschlechterspezifischen Erziehung verknüpft gewesen. Dies sei ein Ausdruck neuer weiblicher Subjektivität. Wie die neuen gesellschaftlichen Strukturen für eine kollektive Erziehung geschaffen werden sollten und wie gegen eine politische Instrumentalisierung der enormen Zuspruch erfahrenden Kinderläden vorzugehen sei, darüber sei vor allem in akademischen Kreisen der Mittelschicht heftig gestritten worden.

Der Beitrag JOCHEN ZIMMERS (Duisburg) zum Verhältnis „Natur und Gesellschaft. Auf- und Umbrüche in der Naturfreundejugend“, skizzierte die Neuanfänge der 1926 gegründeten Jugendabteilung der Naturfreundebewegung nach 1945, die unter anderem sozialistische Bildungsarbeit leisteten und Sportangebote machten. Der Verband der Naturfreundejugend sei Zeit seines Bestehens ein heterogenes Gebilde mit mehr oder weniger stark untereinander konkurrierenden Gruppen gewesen. Zum Ende der 1960er-Jahre hin hätte er einem großen Teil der antiautoritären Jugendbewegung und der revoltierenden Studenten eine ideologische Heimat geboten, später habe sich der Verband in der Antiatomkraftbewegung engagiert und zur Szene der Umweltaktivisten gehört, aber bereits seit den 1970er-Jahren unter anderem mit dem Aufkommen der Bürgerbewegungen einen Teil seiner Anziehungskraft verloren.

In einer die Tagung abschließenden Diskussionsrunde wurde noch einmal zum Ausdruck gebracht, wie sehr die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstandene bürgerliche Jugendbewegung mit dem bildungsbürgerlichen Milieu in Deutschland verbunden gewesen ist. Die Gruppe hätten den heranwachsenden Söhnen die Chance geboten, sozusagen über ein Moratorium, langsam in das Erwachsenenalter einzutreten (‚Enklavenkultur’). Doch dieser Schutzraum habe sich mit der sich verändernden bundesrepublikanischen Gesellschaft seit den 1950er-Jahren endgültig aufgelöst (‚Wirtschaftswunder’, Westernization’, Freizeitgesellschaft, Frauenbewegung und Veränderung des männlichen Selbstbildes). Die fest verankerten sozialen Milieus mit ihren spezifischen Lebensformen seien untergegangen. Es seien neue, milieuunabhängige Formen und Stile aufgetreten (Jazz, Pop-Kultur, Jeans, Bikini, Oben-Ohne etc.). Die Gruppen hätten den Jungen kein angemessen Lebenskonzept mehr anbieten können. Wer von den Bündischen den Anschluss an die neuen Bewegungen bekommen wollte, der habe dies individuell für sich ausprobieren müssen. Der erweiterte Blick auf jugendliche Gesellungsformen in Europa seit 1900 könne hier durchaus noch weitere Erkenntnisse bringen.

Insgesamt wurde auf der Tagung die Jugendbewegung als Phänomen der klassischen Moderne gewertet. Konnten sich die Gruppen um 1900 noch als Avantgarde begreifen unter dem Motto ‚Mit uns zieht die neue Zeit’, so zeichnete die bündischen Gruppen um 1968 aus, dass viele ihrer Mitglieder sich als Einzelne der ‚neuen Zeit’ öffneten und mit ihr mit zogen. Die Vorträge der Tagung werden im Band 2008 des Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (Historische Jugendforschung NF 5/2008) veröffentlicht.

Konferenzübersicht

1. Einführung
Detlef Siegfried, Kopenhagen: Dritte Wege. Konzepte der Emanzipation in den 1960er Jahren
Tom Schroeder, Mainz: Die Festivals auf Burg Waldeck

2. Transformation der Jugendbewegung
Claus Dieter Krohn, Hamburg: Sozialisationsvariablen Jugendbewegter in den 1950er Jahren
Jürgen Reulecke, Gießen: Jugendbewegte Eltern und studentenbewegte Kinder
Hermann Korte, Hamburg: Tod der Jungenschaft? Die Studentenbewegung als Zäsur

3. Orte und Protagonisten
Stefan Hemler, München: Auftakt eines kulturrevolutionären Umbruchs. Die Schwabinger Krawalle
Paul Ciupke, Essen: Politische Bildung zwischen Jugendbewegung und 1968

4. Jugendbewegung und 1968. Eine (selbst-)kritische Rückschau
Walter Moßmann, Freiburg: Brüche und Widersprüche. Einführende Thesen

5. Flucht aus der Gesellschaft? Kulturrevolution und Lebensreform
Meike Sophie Baader, Hildesheim: Kinderläden und antiautoritäre Erziehung
Jochen Zimmer, Duisburg: Natur und Gesellschaft. Auf- und Umbrüche in der Naturfreundejugend

Kontakt

Archiv der deutschen Jugendbewegung
Dr. Susanne Rappe-Weber
Burg Ludwigstein
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Tel. 05542 - 501720
Fax 05542 - 501723
E-Mail archiv@burgludwigstein.de

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