Aspekte der Wissenschaftsgeschichte im Rheinland

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte im Rheinland

Organisatoren
Aachener Kompetenzzentrum für Wissenschaftsgeschichte (AKWG); Institut „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität; Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Ort
Düsseldorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2007 - 15.02.2008
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Von
Jasmin Grande

Mit „Aspekten der Wissenschaftsgeschichte im Rheinland“ haben sich Wissenschaftler verschiedener Disziplinen in einem Kolloquium an der Heinrich-Heine-Universität auseinandergesetzt. Das in zwei Veranstaltungen realisierte Kolloquium fand am 23. November 2007 und am 15. Februar 2008 in den Vortragsräumen der Universitäts- und Landesbibliothek statt. Es wurde von der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Heinrich-Heine-Universität gefördert. Das Gemeinschaftsprojekt des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte (AKWG), des Instituts „Moderne im Rheinland“ an der Heinrich-Heine-Universität und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf kürt die ersten Ergebnisse einer intensiven Zusammenarbeit der drei Institutionen. Beginnend mit dem Thema Wissenschaftsgeschichte wird eine weitere gemeinschaftliche Projektarbeit angestrebt. Die Fruchtbarkeit des Gemeinschaftsprojekts lassen die unterschiedlichen wissenschaftlichen, universitären und kulturgeschichtlichen Interessen der Veranstalter erahnen: Gertrude Cepl-Kaufmann, Professorin i.R. für Neuere Deutsche Literatur, Leiterin des Instituts „Moderne im Rheinland“, Dominik Groß, Univ.Professor für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Sprecher des AKWG, sowie Georg Mölich, Historiker und Leiter der Fachstelle für Regional- und Heimatgeschichte des Landschaftsverbands Rheinland und Beirat des Arbeitskreises zur Erforschung der „Moderne im Rheinland“.

Die Vorträge des Kolloquiums fokussierten die Wissenschaftsgeschichte des Rheinlands unter verschiedenen Fragestellungen. Erstens wurde ausgehend von der Beobachtung, dass es besonders Raumkonstruktionen waren, die die universitäre Forschung ausgezeichnet haben, nach den evidenten Konzeptionen gefragt, die sich im Blick auf die Geschichte der Wissenschaften im Rheinland und die dortigen, vor allem im frühen zwanzigsten Jahrhundert herausragenden wissenschaftlichen Schulen in den Universitäten oder deren Umfeld erkennen lassen, von den Abendland-Konstruktionen der Philosophen über die geopolitische Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaftler bis hin zur „Westforschung“ der Historiker. Der Einfluss dieser Forschungen bleibt dabei nicht auf die Wissenschaft beschränkt, sondern wird im gesellschaftlichen Umfeld wahrgenommen und dient der Unterfütterung politischer Ideologien nicht zuletzt aufgrund der ausschließlich westeuropäischen Perspektive dieser Ansätze. Hier soll das Spektrum zwischen genuinen theoretischen und methodischen Ansätzen in den unterschiedlichen Universitätsdisziplinen und den zeittypischen Instrumentalisierungen ausgeleuchtet und damit zugleich Wissenschaftskritik geübt werden. Die Vorträge von Marc Engels, Susanne Hilger, Thomas Müller, Cristina Parau und Leo Haupts widmeten sich den historisch markanten Ansätzen im Rheinland.

Zweitens wurde der heutige Wissenschafts- und Forschungsbetrieb im Rheinland, auch aufgrund der spezifischen Konstellation der Initiatoren des Projekts, untersucht. Das AKWG hat sich einer Auffassung von Wissenschaftsforschung zugewandt, die weitaus deutlicher der Vielfalt von aktuellen Forschungsansätzen gewidmet ist, als der Aufarbeitung historischer Positionen. Diese wissenschaftliche Praxis galt es exemplarisch vorzustellen und in einen wissenschaftskritischen Diskurs einzubringen. In bemerkenswerter Weise sind auch in dieser Selbstpositionierung der Einzeldisziplinen Raumkonzeptionen virulent. Sie wurden in einem höchst anregenden Disput als solche erkennbar und ließen sich zu einer Analyse des heutigen Umgangs mit Wissenschaft in Bezug auf das Rheinland verdichten, so durch Beiträge von Gereon Schäfer, Jan Steinmetzer, Bianca Lenertz, Silke Peters und Stephanie Jordans.

Drittens wurde die Zusammenführung von historischer und aktueller Ebene diskutiert. Ziel der gemeinsamen Diskussionen und Vorstellungen war eine Metaebene zur Konturierung eines Forschungsschwerpunktes „Wissenschaftsgeschichte im Rheinland“. Hierzu zählte die Vorstellung der je eigenen Ansätze, die die jeweiligen Aktivitäten leiten. Der Leiter und Initiator des AKWG, DOMINIK GROß, stellte in seinem Vortrag das Selbstverständnis und die Aufgabensetzung des Kompetenzzentrums als Ort des Metadiskurses der Aachener Universitätslandschaft vor. GERTRUDE CEPL-KAUFMANN und GEORG MÖLICH präsentierten Geschichte, Aufgaben und Ziele des Instituts „Moderne im Rheinland“. Der Blick auf die fast zwanzigjährige interdisziplinäre und kulturhistorische Tätigkeit des Instituts machte dabei den Einfluss desselben auf die Wahrnehmung der Regionalforschung in der Wissenschaft und in der Kultur erkennbar. Über diesen selbstreferentiellen Zugang hinaus wurde im Kontext dazu von KAROLINE RIENER ein Nachkriegsphänomen bewusst gemacht: Sie stellte die juristische und politische Problematik des Benennungsstreits der Düsseldorfer Universität als Teil der Selbstpositionierung in der Germanistik der 60er und 70er Jahre und der Heine-Rezeption unter wissenschaftskritischem Aspekt und als Beispiel aktueller Verortungen des Rheinlands in der Wissenschaftsgeschichte dar. Ansätze einer diziplinorientierten Wissenschaftsforschung stellte MARCEL LEPPER im Hinblick auf die Genese und den Forschungsansatz der wissenschaftshistorischen Abteilung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar dar. Hier ging es darum, einen Referenzhorizont philologisch orientierter Wissenschaftsforschung auszumachen, der auch für die „rheinischen“ Aktivitäten normgebend sein muss.

MARC ENGELS setzte sich mit dem Kölner Wirtschaftswissenschaftler Bruno Kuske und dessen Wirtschaftsraumforschung auseinander. Bemerkenswert waren nicht nur die 400 von Kuske betreuten Promotionen, die den Begriff der „kuskeniden Forschung“ prägten, sondern insbesondere Kuskes geopolitische Schule. Sie stellt ein Beispiel dar für die Außenwirkung von Universitäten im frühen zwanzigsten Jahrhundert. Daran anschließend entfaltete THOMAS MÜLLER am Beispiel von deutsch-völkischen Konzepten der Westgrenze zwischen 1870 und 1930 die Entwicklung von ideologisch besetzten Raumkonstrukten. Besonders anschaulich wurde dies an der Unterwerfung des Begriffs unter die jeweiligen Raumkonzepte. So kursierte der Westen in völkisch-konservativen Strömungen als „Westland“, in militärischen Grenzvorstellungen als „Westmark“ und zu nationalsozialistischen Zwecken als „Westraum“. Insbesondere letzteres diente den Nationalsozialisten weniger der Be-„grenzung“ des Landes, sondern vielmehr der Ausweitung auf eine „Lebensraum“-Ideologie mit territorialen Ansprüchen. Der „Westraum“ geriet zum Propagandabegriff, um deutschnationale Strömungen in den angrenzenden Staaten zu fördern. Unterstützt durch Inhalte des „Volkstums“ und der „Rasse“ sollte er auf die Ausweitung des Reiches und die Entvölkerung und Neubesiedlung ganzer Regionen vorbereiten. Mit LEO HAUPTS Beitrag zur 1936 gegründeten „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ an der Universität zu Köln, die nach dem Krieg von Bruno Kuske weitergeführt wurde, schließt sich der Kreis. Hier offenbarten sich noch einmal Brüche und Kontinuitäten in den Raumkonzeptionen von der Weimarer Republik bis zum Dritten Reich.

Dass Überlegungen zu diesem eigenwilligen Forschungsansatz nicht nur von Wissenschaftlern angestellt wurden, sondern auch von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern, zeigte CRISTINA PARAU am Beispiel des geschichtlichen Raumes bei Josef Ponten. Anhand von Pontens Schriften zum Rhein arbeitete sie die metaphysische, auf Metaphern beruhende Staatsidee des Schriftstellers heraus und wies im zweiten Teil des Vortrags die Möglichkeit Pontens einer Doppelexistenz zwischen Ablehnung und Zustimmung im Nationalsozialismus durch metaphysisches Sprechen nach. NIKOLA DOLL konnte im Blick auf Raumkonstruktionen in der Kunstgeschichte und NORBERT JERS anhand der Musikwissenschaft im Rheinland die These, dass sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg mit der Pointierung einer regional orientierten Wissenschaftspraxis ein gesellschaftlicher Bonus gewinnen und die eigene Wissenschaft zu Bedeutung führen ließ, erhärten. Die Politisierung von Räumen in der Wirtschaftswissenschaft bearbeitete die Düsseldorfer Wirtschaftshistorikerin SUSANNE HILGER. Sie untersuchte die Zusammenhänge von sozialem Kapital und regionaler Wirtschaftsentwicklung exemplarisch an der Stadt Düsseldorf im 19. und 20. Jahrhundert. Von Interesse waren dabei die Genese von Öffentlichkeitstheorien in den Wirtschaftswissenschaften und der Transfer in wirtschaftspolitische Kontexte. Parameter und Kriterien wie die messbare Relevanz von Marktchancen machen das Interessante an diesem Transferfeld zwischen Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaft aus. Hier ließ sich zeigen, wie eine ortnahe Umsetzung wissenschaftlicher Methodik genutzt werden konnte.

Eine weitere institutionelle Position sowie den davon geprägten Blick auf die Forschungen präsentierte MARCEL LEPPER. Als Leiter der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik des Deutschen Literaturarchivs in Marbach zeigte er die Möglichkeiten und Aufgaben einer Wissenschaftsgeschichte der Philologien. Zu den Hauptaufgaben der Arbeitsstelle, die 1972 als Reaktion auf Eberhard Lämmerts Appell zur Aufarbeitung der Rolle der Germanistik während des Nationalsozialismus auf dem Münchner Germanistenkongress 1966 gegründet wurde, gehört zunächst einmal der Erwerb und die Erschließung von Gelehrten- und Intellektuellennachlässen. Einen umfassenden ersten Forschungsbeitrag leistete die Publikation des dreibändigen Germanistenlexikons 2003. Neben der, dem Gründungsgedanken gemäßen ideologiegeschichtlichen Reflektion des Faches, hat sich die Arbeitsstelle außerdem die Konstituierungsgeschichte des Gegenstands sowie die Programm-, Editoren- und Ideengeschichte auf die Fahnen geschrieben.

Die Referenten des AKWG, die in zu jeweils vier Vorträgen gebündelten Abschnitten ihre Forschungsergebnisse vorstellten, beschäftigten sich vornehmlich mit der Verbindung von natur- und geisteswissenschaftlichen Denkbildern, wie z.B. JAN STEINMETZER in seinen beiden Vorträgen zur sozialen Konstruktion der medizinischen „Wissenschaft“ im 16. Jahrhundert und einer Lektüre von George Forsters „Reise um die Welt“ unter medizingeschichtlichen Gesichtspunkten. BIANCA LENERTZ und SILKE PETERS stellten in dem Aachener Projekt zu „Sinne und Synapsen“ die Frage nach Reaktionen und Umgang in Kunst und Literatur mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Wahrnehmung am Ende des 20. und des 21. Jahrhunderts. Erkenntnistheoretischen Fragestellungen widmeten sich auch SABINE MÜLLER im Werk Giordano Brunos und CATARINA CAETANO DA ROSA im Werk Johann Heinrich Lamberts. STEPHANIE JORDANS verwies auf die Raumreflexionen in Ernst Meisters Lyrik. Wie im Beitrag von Cristina Parau wurde auch hier erkennbar, dass es nicht nur Wissenschaftsdiskurse sind, die von Raumkonzepten bestimmt werden, sondern dass vor allem Schriftsteller mit der ästhetischen Dimensionierung des aktuellen Bewusstseins gewirkt haben. Aachen mit seinem Forschungsschwerpunkt in der Ernst Meister-Philologie hat mit der Bereitstellung solcher Analyseergebnisse eine besondere Bedeutung für die gattungspoetische Erforschung solcher Wirkmuster. GEREON SCHÄFER arbeitete die Medizin des Dritten Reichs am Beispiel Aachens aus und STEFAN KREBS stellte anhand des Aufstiegs der Aachener Eisenhüttenkunde Überlegungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit an.

Insgesamt zeigte sich, dass der so gern mit dem Romantischen markierte Rheinlandbegriff in den Raumkonstruktionen und Wissenschaftsdiskursen der Moderne eine sehr vielfältige Aufladung mit militaristischen, völkisch-nationalen und ideologischen Bedeutungen erfahren hat und dass die „Provinz“ Rheinland damals wie heute Zentrum und Gegenstand wissenschaftsgeschichtlicher Auseinandersetzungen war und ist.

Konferenzübersicht:

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte im Rheinland

Gertrude Cepl-Kaufmann/Georg Mölich: Raumkonzeptionen und Wissenschaftsdiskurse
Marcel Lepper: Wissenschaftsgeschichte der Philologen am Beispiel der Forschungen im Deutschen Literaturarchiv Marbach
Norbert Jers: Musikwissenschaft im Rheinland und die nationalistische Idee einer Deutschen Musik
Nikola Doll: Raumkonstruktionen in der Kunstgeschichte in den 20er und 30er Jahren
Marc Engels: Bruno Kuske (1876-1964) und die Kölner Wirtschaftsraumforschung
Dominik Groß: Das AKWG (Aachener Kompetenzzentrum für Wissenschaftsgeschichte) - Konzepte und Ergebnisse
Sabine Müller: Paradigma Organismus vs. Paradigma Mechanismus - Zwei wissenschaftstheoretische Leitbilder
Stephanie Jordans: Raumreflexionen in Ernst Meisters Lyrik
Jan Steinmetzer: Zur sozialen Konstruktion der medizinischen "Wissenschaft" im 16. Jahrhundert
Stefan Krebs: Der Aufstieg der Aachener Eisenhüttenkunde. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit
Thomas Müller: Deutsch-völkische Konzepte der Westgrenze zwischen 1870 und 1933
Susanne Hilger: Soziales Kapital und regionale Wirtschaftsentwicklung – Das Beispiel Düsseldorfs im 19. und frühen 20. Jahrhundert
Leo Haupts: Die "Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung" an der Universität zu Köln
Cristina Parau: Die Konstruktion des geschichtlichen Raumes in Josefs Pontens virtueller Geo-Graphie der Rheinlande
Jan Steinmetzer: Medizinisch-naturwissenschaftliches Wissen in Georg Forsters "Reise um die Welt"
Catarina Caetano da Rosa: "Ob wir nun Copernicanisch sind?" Über kosmologische Komparative bei Johann Heinrich Lambert
Sabine Müller: Giordano Bruno und die evolutionäre Erkenntnistheorie
Gereon Schäfer: Medizin im Dritten Reich: das Beispiel Aachen
Bianca Lenertz und Silke Peters: Das Projekt „Sinne und Synapsen“ an der RWTH Aachen


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