Am 27. und 28. März 2008 fand in der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh eine wissenschaftliche Tagung zum Thema „Macht und Recht. Das Völkerrecht in den internationalen Beziehungen“ statt. Organisiert von ULRICH LAPPENKÜPER (Otto-von-Bismarck-Stiftung Friedrichsruh) und REINER MARCOWITZ (Université Paul Verlaine in Metz) und gefördert von der Otto-von-Bismarck-Stiftung sowie der Gerda Henkel Stiftung, stellte die Konferenz in gewisser Hinsicht eine Art Novum dar. Denn neben Historikern mit neuzeitlichem bzw. mittelalterlichem Forschungsschwerpunkt waren auch Vertreter aus der Politik-, der Sozial- und der Rechtswissenschaft geladen, so dass das komplexe Thema in einem historischen Längsschnitt vom Mittelalter bis zur Gegenwart und mit interdisziplinärem Zugriff beleuchtet werden konnte.
In seiner Einführung warf Lappenküper als Leitproblem der Konferenz die Frage auf, wieso einerseits die Kodifizierung seit der Entstehung des modernen Völkerrechts stetige Fortschritte verzeichnen konnte, in der Praxis der internationalen Beziehungen andererseits aber die Markenzeichen staatlicher Souveränität - das Recht auf Krieg, Intervention und Okkupation – eine weithin unangefochtene Rolle spielten und anscheinend noch immer spielen.
Nachdem das Programm offen gelegt und die Ziele markiert worden waren, untersuchte MARTIN KINTZINGER (Münster) in einem Impulsreferat die Entwicklung des Völkerrechts vom Römischen Imperium bis zur frühen Neuzeit. Abgeleitet aus dem ius naturalis, sei das ius gentium in Rom nicht als ein bindender Faktor zwischen untereinander gleichberechtigten Völkern anerkannt, sondern nur für die Bewohner des Imperiums als gültig erachtet worden. Eine erste Zäsur in der Entwicklung der Völkerrechts habe sich im frühen Mittelalter eingestellt, als Augustinus in Anlehnung an Vorstellungen Ciceros Bedingungen für einen gerechten Krieg definierte. Einen zweiten bedeutenden Wandel erlebte der Diskurs über das ius gentium im Spätmittelalter durch den Einzug kultureller Determinanten. Indem es als Teil des irdischen Herrschaftssystems verortet wurde, verlor das ius gentium sein göttlich-natürliches Fundament. Weitreichende Auswirkungen besaß diese Umwertung für das Verhältnis zwischen Kaiser und Papst. Da kein Fürst eine höhere Instanz über sich akzeptieren wollte und die eigene Souveränität als das vornehmste Ziel seiner Politik begriff, büßte das Oberhaupt der katholischen Kirche seine Superiorität und mit ihr seinen Rang als Richter bei weltlichen Konflikten ein. Damit einher etablierte sich die Ansicht, dass das Völkerrecht ein Recht sein müsse, das allen Völkern als gut erscheine. Diese „Suche nach den Inhalten eines allgemein gültigen Völkerrechts“, so Kintzinger resümierend, sei bis heute nicht beendet, wie die immer noch strittige Superioritätsfrage belege.
Im Anschluss an Kintzinger wandte sich JOHANNES BURKHARDT (Augsburg) der Frage zu, welche Strukturen des internationalen Systems in der frühen Neuzeit dazu beigetragen hätten, den Frieden zu verhindern. Ausgehend von der Tatsache, dass es im 17. Jahrhundert kaum ein Jahr ohne größeren oder kleineren Krieg gegeben habe, machte Burkhardt als entscheidenden Grund für den Bellizismus die unfertige Ausbildung der Staaten aus, die neben einem Egalitätsdefizit ein Institutionalisierungs- sowie ein Autonomiedefizit aufgewiesen hätten. Eine Ausnahme bildet seines Erachtens das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das über übergeordnete Instanzen wie den Reichstag oder das Reichskammergericht verfügt habe, die für alle Reichsfürsten bindend gewesen seien. Nur im Reich sei „Recht vor Macht“ gegangen.
THOMAS NICKLAS (Erlangen) ging sodann auf das „Janusgesicht“ des Westfälischen Friedens ein und stellte die Frage, inwieweit das in Münster und Osnabrück geschaffene System als gescheitert betrachtet werden müsse. Wesentlich für den Westfälischen Frieden sei das Verbot nichtstaatlicher Gewalt gewesen. Doch die Plünderung Roms (Sacco di Roma) oder die Versklavung der Indianer zeigten beispielhaft, dass dieses Verbot zum Teil mit Billigung von Staaten missachtet worden sei. Als Hauptursache für den willkürlichen Bruch einzelner Staaten mit den Friedensbedingungen von 1648 markierte Nicklas die Tatsache, dass die Expansion des Rechts nicht mit der Expansion des Staates Schritt gehalten habe.
Wie unterschiedlich die politischen Theoretiker der frühen Neuzeit - Machiavelli, Bodin und Montesquieu – die Frage beantworteten, ob der Staat ein Kriegstreiber per se sei, stand sodann im Mittelpunkt des Vortrags von MICHAEL PHILIPP (Augsburg).
In seinem großen Abendvortrag untersuchte DIETER LANGEWIESCHE (Tübingen) in kritischer Auseinandersetzung mit der These Herfried Münklers von den „Neuen Kriegen“, wie neu die neuen Kriege tatsächlich seien. Als zentralen Schwachpunkt des Münklerschen Deutungsmusters bezeichnete er die Tatsache, dass die militärischen Auseinandersetzungen der jüngsten Vergangenheit am europäischen Krieg in seiner „Hegungsära“ gemessen würden, die es jedoch nur in Europa und nur vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zum Ende des Ersten Weltkrieg gegeben habe. Wenn es in Öffentlichkeit und Wissenschaft dennoch so erfolgreich sei, liege das an einem Phänomen, das Langewiesche in den Satz bündelt: „Die Dramatik der Neuen Kriege, wie sie in der Öffentlichkeit beschworen wird, ist eine Folge der Globalisierung des Wahrnehmungsraumes und auch des Handlungsraumes“.
Als eine Epoche massiver Verletzungen des Völkerrechts und zahlreicher Bemühungen zu seiner Verbesserung charakterisierte MATTHIAS SCHULZ (Genf) zu Beginn der zweiten Sektion das „lange“ 19. Jahrhundert vom Wiener Kongress bis zum Ersten Weltkrieg. Nach der Niederringung des napoleonischen Empire hätten die internationalen Beziehungen 1815 durch die Multilateralisierung des Vertragswesens, die Einrichtung von Botschaften der Großmächte und die Verpflichtung zur Konsultationsgesprächen eine neue Qualität bekommen. Eine erste große Probe habe das neue System im Krimkrieg bestanden, und auch in der nun beginnenden Ära der Realpolitik sei eine Fortentwicklung der Wechselbeziehung zwischen Macht und Recht erkennbar gewesen, wie die Genfer Konvention oder der lebhafte Aufschwung der Schiedsgerichtsbarkeit verdeutlichten.
MILOŠ VEC (Frankfurt am Main) beleuchtete die Entwicklung der Verrechtlichung internationaler Beziehungen im 19. Jahrhundert am Beispiel des Interventionsrechts. In den publizierten Schriften zum Völkerrecht seien völkerrechtliche und politische Argumente voneinander getrennt worden, wobei den Theoretikern als gemeinsames Fundament die Anerkennung der Souveränität und als Messlatten ihres Denkens Natur und Vernunft gedient hätten. Als augenfällig bezeichnete Vec die Relativität der Formen von Intervention bzw. Nicht-Intervention sowie ihre Abhängigkeit von anderen maßgeblichen Kategorien der internationalen Beziehungen wie Gleichgewicht oder Solidarität.
Für KLAUS SCHLICHTE (Magdeburg) stellte die internationale Politik des 19. Jahrhunderts reine Machtpolitik dar, die allerdings durchaus Verregelung und Verrechtlichung zugelassen habe. Da die Setzung von Recht nach Max Weber einen rechtsetzenden Staat voraussetze, war das Völkerrecht des 19. Jahrhunderts seines Erachtens kein Recht, sondern eine Sammlung von Konventionen.
Mit Blick auf die Entwicklung der internationalen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit hob FRIEDRICH KIESSLING (Erlangen) hervor, dass es keine legitime Rechtsordnung, lediglich nationale Ordnungsvorstellungen gegeben habe. Trotz der Verheerungen des Ersten Weltkrieges hätten in der neuen Institution des Völkerbundes macht- und interessenpolitische Kalküle eine große Rolle gespielt und die Friedensarbeit massiv blockiert. Von Anbeginn an geschwächt durch die Nichtmitgliedschaft der USA, sei der Völkerbund am Ende vor allem an der Diversität der politischen Modelle der Mitgliedsstaaten gescheitert.
In seinem Beitrag über die Aufgaben des Völkerrechts und die transnationalen sowie internationale Verflechtungen der Zwischenkriegszeit bestätigte PETER KRÜGER (Marburg) diesen Befund. Die Fortentwicklung des europäischen in ein universales Völkerrecht habe aufgrund der sich verschränkenden Krisenszenarien letztlich nicht ausgereicht, die Entgrenzungskräfte in der internationalen Politik zu bändigen.
Aus der Sicht der Theorie des Neo-Realismus erklärte WERNER LINK (Köln) die These vom Gegensatz zwischen Machtpolitik und Völkerrecht für ebenso „fragwürdig“ wie die vom Fortschritt des Völkerrechts nach dem Ersten Weltkrieg, dem in den 1930er Jahren ein Rückschritt gefolgt sei. Der Völkerbund habe nicht die „Logik der Machtpolitik“ außer Kraft gesetzt und auch nicht den anarchischen Systemcharakter geändert. Das historisch Neue im Verhältnis von Macht und Völkerrecht seien „die Kriminalisierung des besiegten Deutschland“ im Versailler Vertrag und in der Mantelnote vom 16. Juni 1919 gewesen, in der Deutschland als „criminal state“ bezeichnet worden sei, sowie der Kriegsächtungspakt von 1929, dessen völkerrechtlicher „Fortschritt“ darin bestanden habe, dass Kriege als Verteidigungskriege hätten gerechtfertigt werden müssen.
Zum Auftakt der letzten Sektion unterstrich CHRISTIAN HILLGRUBER (Bonn), dass die maßgeblichen Vertreter des Völkerrechts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer „zyklischen Wellenbewegung“ gleich mehrfach „zwischen überbordendem Zukunftsoptimismus und grundsätzlichem Zweifeln an der Möglichkeit wirksamer rechtlicher Einhegung internationaler Politik geschwankt“ hätten. Das nach dem Zweiten Weltkrieg inaugurierte kollektive Sicherheitssystem der UNO bedeute „keinen völkerrechtlichen Quantensprung“. Der Fortschritt habe lediglich darin bestanden, dass das Angriffskriegsverbot „zu einem grundsätzlich strikten allgemeinen Gewaltverbot ausgedehnt worden“ sei und der UNO-Sicherheitsrat darüber befinde, ob es zu friedenssichernden Maßnahmen komme. Wenngleich Hillgruber den Vereinten Nationen Erfolge auf einer Reihe „weniger politisch sensibler Felder“ nicht absprechen mochte, beurteilte er das System der UNO insgesamt als eines der verschleierten Machtpolitik. Daher sei die Völkerrechtslehre auch aufgerufen, die vom Machtstreben bestimmten Realitäten der internationalen Politik nicht zu ignorieren, ja, die „anscheinend unüberwindbare Grenze“ der Leistungsfähigkeit des Völkerrechts als „Recht ohne Macht“ zu akzeptieren.
In seiner geschichtswissenschaftlichen Analyse des Verhältnisses von Macht und Recht von der Konferenz von Jalta bis zur Entstehung der neuen Weltordnung gelangte JOST DÜLFFER (Köln) zu ähnlichen Ergebnissen. Rechtsbegriffe seien für die Staaten im Kalten Krieg stets Kampfbegriffe gewesen. Dementsprechend sei die UNO von ihren Mitgliedern stets als Instrument der Konfrontation und der Machtpolitik benutzt worden. Als Erfolgsgeschichte bezeichnete Dülffer hingegen die Integration des sich als gleichartig empfindenden Rechtsraumes der Europäischen Gemeinschaft und der Nordatlantischen Allianz. Positiv bewertete er auch die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die nicht auf dem Fundament eines völkerrechtlichen Vertrags beruhe, aber gerade deshalb zum Ausgleich der konfligierenden Interessen von Ost und West habe beitragen können.
In Übereinstimmung mit Dülffer und anderen Referenten hob WILFRIED VON BREDOW (Marburg) in seinem Beitrag über die Weltpolitik sei 1945 die Notwendigkeit hervor, bei der Analyse von Macht und Recht in den internationalen Beziehungen sowohl auf die Akteure als auch auf das System zu schauen.
Zentrale Ergebnisse der Tagung thesenhaft zusammenfassend, hinterfragte REINER MARCOWITZ (Metz) zu Beginn der Schlussdiskussion kritisch jene Stimmen, die das Völkerrecht als „schönen Schein“ und nachgeordnete Distanz der Macht begreifen würden. Wenngleich der Blick in die Geschichte zahlreiche Belege dafür biete, dass Macht und Recht nicht selten als Gegensatz gewirkt hätten, habe es doch auch immer wieder Symbiosen zwischen ihnen gegeben, die Fortschritte in der Entwicklung des Völkerrechts ermöglichten. Neben der Erkenntnis dieser Prozesshaftigkeit seiner Entstehung und Entfaltung stand am Ende der zweitägigen Debatten zugleich der Eindruck, dass das Völkerrecht überfordert würde, wenn man ihm die Aufgabe aufbürdete, die Macht einzuhegen.
Resümierend lässt sich sagen, dass die Tagung dank ihrer historischen Tiefendimension und des interdisziplinären Zugriffs ein voller Erfolg war. Sie eröffnete den Teilnehmern tiefschürfende Einsichten in ein Kernproblem der internationalen Beziehungen und gab zugleich mannigfache Impulse für die aktuellen politischen und wissenschaftlichen Debatten über die Bewahrung völkerrechtlicher Standards in einer durch die USA geprägten Weltordnung.
Konferenzübersicht:
Ulrich Lappenküper, Einführung
Martin Kintzinger, Impulsreferat Antike / Mittelalter: Bellum Iustum – gerechter Krieg oder Recht zum Krieg?
Sektion I: Frühe Neuzeit: Zwischen Bellizismus und Kodifizierung
Johannes Burkhardt, Geschichtswissenschaft
Thomas Nicklas, Völkerrecht
Michael Philipp, Politikwissenschaft
Abendvortrag : Dieter Langewiesche, Wie neu sind die „neuen“ Kriege?
Sektion II: 19. Jahrhundert: Verrechtlichung contra Realpolitik?
Matthias Schulz, Geschichtswissenschaft
Miloš Vec, Völkerrecht
Klaus Schlichte, Politikwissenschaft
Sektion III: 20. Jahrhundert: “Jahrhundert der Weltkriege“ und „Jahrhundert des Völkerrechts“? – Erster Weltkrieg und erste Nachkriegszeit
Friedrich Kießling, Geschichtswissenschaft
Peter Krüger, Völkerrecht
Werner Link, Politikwissenschaft
Sektion IV: Zweiter Weltkrieg und zweite Nachkriegszeit
Jost Dülffer, Geschichtswissenschaft
Christian Hillgruber, Völkerrecht
Wilfried von Bredow, Politikwissenschaft
Schlussdiskussion
Reiner Marcowitz, Moderation