Sprachgrenzen, Sprachkontakte und kulturelle Vermittler in der Geschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen

Sprachgrenzen, Sprachkontakte und kulturelle Vermittler in der Geschichte der europäisch-überseeischen Beziehungen

Organisatoren
Mark Häberlein, Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg; Alexander Keese, Historisches Institut der Universität Bern
Ort
Bamberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.05.2008 - 18.05.2008
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Von
Heinrich Lang, Institut für Geschichte, Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Auf der Jahrestagung 2008 der Gesellschaft für Überseegeschichte, unterstützt durch die Fritz Thyssen Stiftung, widmeten sich insgesamt zwanzig Referentinnen und Referenten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, den Niederlanden, Portugal, Kanada und den USA den Problemen der sprachlichen Verständigung und der interkulturellen Kommunikation in den europäisch-überseeischen Beziehungen zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert.
Im Einführungsvortrag steckte MARK HÄBERLEIN (Bamberg) das Thema ab. Eine Schlüsselrolle im Kontext der Sprachkontakte, die den Prozess der überseeischen Expansion zwischen Europäern und Außereuropäern begleiteten, wies Häberlein kulturellen Vermittlern zu, die vor allem in offenen interkulturellen Situationen, die Richard White als „middle ground“ beschrieben hat, entscheidende kommunikative Funktionen übernahmen. Europäische wie indigene Dolmetscher hätten interkulturelle Kompetenzen erworben, durch die sie Verbindungen zwischen lokalen Gemeinschaften und überregionalen Systemen hätten herstellen können. Vier Aspekte interkultureller Begegnungen, die stets das Risiko interkultureller Missverständnisse in sich bargen, hob Häberlein hervor: die kulturellen Anpassungsleistungen von Vermittlern, die unterschiedlichen Handlungsspielräume männlicher und weiblicher „broker“, die situativ unterschiedlichen ethnischen Zuschreibungen in zeitgenössischen Quellen sowie die Macht- und Manipulationsmöglichkeiten kultureller Vermittler.

Am Beginn der ersten Sektion stellte RENATE DÜRR (Kassel) die grammatikalischen und lexikographischen Arbeiten des einer Mischbeziehung entstammenden Jesuitenmissionars Antonio Ruiz de Montoya von 1613 bis 1639/40 vor. Die Bekehrung der indigenen Bevölkerung gestaltete sich auch als Sprachproblem, weswegen Missionare anfingen, die indigenen Sprachen systematisch zu erfassen: Dies habe zur Normierung der indigenen Sprachen nach europäischen grammatikalischen und begrifflichen Standards geführt. Ruiz de Montoya missionierte im Grenzgebiet zwischen Paraguay und Brasilien und erlernte die Guaranì-Sprache, um den christlichen Glauben in der indigenen Sprache vermitteln zu können. Dürr bewertete Ruiz de Montoyas Grammatik und „Vocabolario“ als Produkte der Alltagspraxis in den Missionen, in die christliche Glaubensinhalte und Dogmen nur zurückhaltend aufgenommen worden seien.
MICHAEL MÜLLER (Mainz) stellte den Jesuitenmissionar Bernhard Havestadt (1714-1781) vor, dessen philologische Tätigkeit sich im Kontext der Wandermission im südchilenischen Chiloë entfaltete. Bis zur Aufhebung der spanischen Jesuitenmissionen setzte sich Havestadt intensiv mit den indigenen Sprachen Chiles, die er später in einem umfangreichen Werk aufzeichnete, auseinander. In der Chilemission spielten Müller zufolge auch indigene Laienkatecheten als bilinguale Vermittler zwischen der indigenen Elite und den Jesuiten eine wichtige Rolle.
CHRISTIAN WINDLER (Bern) befasste sich mit der christlichen Mission im persischen Safavidenreich, die im Kontext der nur mäßig erfolgreichen Unionsbestrebungen der nachtridentinischen katholischen Kirche stand. Die Missionstätigkeit konzentrierte sich auf den Hof in Isfahan sowie auf den armenisch geprägten Vorort Neu-Julfa. Am Hof hätten gelehrte Missionare durch ihre Übersetzungen der Bibel sowie wissenschaftlicher und dogmatischer Literatur ins Persische die Wertschätzung persischer Gelehrter erlangt, erregten dadurch allerdings auch das Misstrauen anderer Missionare. Als Gelehrte, Diplomaten, Dolmetscher und Übersetzer entwickelten sich die Missionare Windler zufolge zu kulturellen Grenzgängern in „Dritten Räumen“.
In seinem Vortrag über die niederländisch-reformierte Mission im 17. Jahrhundert konzentrierte sich MARK MEUWESE (Winnipeg) auf deren Alphabetisierungsprogramm, das sich in der Errichtung protestantischer Schulen für die austronesische Bevölkerung Taiwans und die Tupí-Indianer Brasiliens niederschlug. In beiden Kolonien hätten indigene Lehrer eine wichtige Rolle gespielt. Der Unterricht in niederländischer Sprache habe zur Adaption europäischer Schriftlichkeit durch indigene Schüler geführt. Meuwese argumentierte, dass diese die Alphabetisierung zur Speicherung ihrer eigenen kulturellen Identität und somit als Instrument einer kulturellen Revitalisierung nutzen konnten. Jedoch hätten die Betroffenen den Unterricht auch als Machtinstrument der privilegierten niederländischen Handelsgesellschaften wahrgenommen und sich der protestantischen Mission widersetzt.
Die Sektion beendete SUSANNE LACHENICHT (Hamburg) mit einer Darstellung der französisch-indianischen Sprach- und Kulturbegegnungen in der „Nouvelle France“. Zunächst bewerteten französische Kolonisten und Missionare die „sauvages“ als potentielle Franzosen, deren „Zivilisierung“ vor allem die Christianisierung von Kindern und Jugendlichen dienen sollte. Das Programm einer Amalgamierung der Kulturen, das im 17. Jahrhundert unter anderem durch Heiratsprojekte zwischen französischen Adeligen und indianischen Häuptlingstöchtern gefördert werden sollte, wurde später aufgegeben, zumal die Erfahrung der französischen Waldläufer zeigte, dass der Akkulturationsprozess oft genau umgekehrt zu den Intentionen der französischen Zentrale verlief. Die französisch-indianischen Sprachkontakte in der „Nouvelle France“ hätten zur Herausbildung einer durch indianisches Vokabular angereicherten französischen Standardsprache, der Entstehung einer baskisch-algonkinischen Kreolsprache in Nordosten Kanadas und Formen der Mehrsprachigkeit im Landesinneren geführt.

Die zweite Sektion eröffnete ANJA BRÖCHLER (Köln) mit einer Analyse der Piktogramme im „Codex Florentinus“, einer in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstandenen Chronik der Conquista Mexikos und ihrer Vorgeschichte. Am Beispiel der Darstellung des Todes des Mexica-Herrschers Montezuma entwickelte Bröchler ihre These, dass die Bilder im „Codex Florentinus“ Botschaften vermitteln, die deutlich vom spanischen Text abweichen. Anders als im Text werde Montezuma in der Ikonographie des Codex als anmaßender und unrechtmäßiger Herrscher über Tlatelolco charakterisiert und der Adlige Iscuatsin als eigentlicher Gottkönig dargestellt. Die Bilder im „Codex Florentinus“ nähmen die Tradition der vorkolonialen indianischen Historiographie auf und erlauben die Rekonstruktion einer spezifischen indigenen Perspektive.
Anschließend entwarf FELIX HINZ (Kassel) auf der Grundlage von Einzelbeispielen eine Typologie der Dolmetscher, die im Kontext der spanischen Eroberung Amerikas in Erscheinung traten. Sowohl der Entdecker Kolumbus als auch die nachfolgenden Konquistadoren setzten systematisch gefangene Indios als Dolmetscher ein. Unter ihnen dürfte der getaufte und hispanisierte, von Kolumbus unter dem Namen Diego adoptierte Taino-Indianer, der auf Kuba als Vermittler und Informant diente, den „Normalfall“ repräsentiert haben, während die als Doña Marina bzw. Malinche bekannte Dolmetscherin und Gefährtin des Hernán Cortés aufgrund ihrer Nähe zu dem Eroberer und ihrer ungewöhnlichen Machtposition eine Sondererscheinung war. Generell gerieten Dolmetscher immer wieder in Loyalitätskonflikte, und ihre Mehrsprachigkeit stellte einen schwer kalkulierbaren Machtfaktor dar.
BEATRIX HEINTZE (Frankfurt am Main) wandte sich luso-afrikanischen Vermittlern in Angola zu. An der Küste hätten sich die Nachfahren portugiesischer Kolonisatoren und afrikanischer Frauen seit dem 17. Jahrhundert als einheimische Elite formiert, die die Verkehrssprachen Kimbundu und Luba beherrschte und in Handel, Militär und Verwaltung Schlüsselpositionen übernahm. Seit dem späten 18. Jahrhundert drangen die Ambakisten genannten Luso-Afrikaner zunehmend ins Landesinnere vor, wo sie in Häuptlingsfamilien einheirateten und eine eigene kulturelle Identität entwickelt hätten. Die Verdichtung und Ausweitung von Handelsnetzen zwischen der Küste und dem Landesinneren im 19. Jahrhundert sei mit intensiven kulturellen Austausch- und Aneignungsprozessen einhergegangen.

Die dritte Sektion begann mit der Untersuchung von ANDREAS WEBER (Leiden) über Sprache als Werkzeug kolonialer Expansion am Beispiel Adriaan David Cornets de Groots (1804-1829) auf Java. In den Beziehungen zwischen dem Fürstentum Surakarta und der niederländischen Kolonialverwaltung, die über Korrespondenzen, die Teilnahme an religiösen Zeremonien, Spione, den „patih“ (leitenden Minister) und persönliche Kontakte liefen, hätten sich Sprachkompetenzen als Schlüsselqualifikation erwiesen. Cornets sei durch seine Kenntnisse des Javanischen rasch aufgestiegen und habe zeitweilig eine zentrale Vermittlerrolle gespielt. Er hinterließ die erste, 1833 posthum veröffentlichte Darstellung der javanischen Sprache.
ALMUT STEINBACH (Konstanz) beschäftigte sich mit dem Beitrag der Sprachpolitik des Britischen Empire in Ceylon und den Malay-Staaten zur Ausbreitung des Englischen. Das Britische Kolonialreich und der Aufstieg der USA zur Weltmacht werden häufig als wichtige Faktoren für die Durchsetzung des Englischen als Weltsprache genannt, doch zeige die Analyse der Schulpolitik in den Kolonien, die neben Missionsabsichten auch den Arbeitsmarkt sowie die untere Verwaltung im Blick hatte, dass von einer planmäßigen Verbreitung des Englischen nicht die Rede sein kann. Obwohl Sprache im frühen 19. Jahrhundert häufig als Instrument einer kolonialen „civilizing mission“ angesehen wurde, sei die Literalität in Ceylon nach 1800 zunächst zurückgegangen, weil sich der Ausbau englischsprachiger Schulen auf Kosten des etablierten niederländischen Schulsystems durchgesetzt habe. Die Pläne für ein inselweites englischsprachiges Schulsystem seien weder in Ceylon noch im Malaiischen Archipel umgesetzt worden.
ARMIN OWZAR (San Diego) wandte sich Sprachenfragen in Deutsch-Ostafrika zu, wo der Islam seit etwa 1900 starken Zulauf erlebte. In der sprachpolitischen Diskussion standen sich die Interessen der deutschen Kolonialverwaltung und diejenigen der protestantischen Mission gegenüber. Die Behörden hätten den Unterricht in der Bantusprache Suaheli gefördert, weil Angehörige der Suaheli sprechenden muslimischen Bevölkerungsgruppe als Fachkräfte für qualifizierte Dienste benötigt wurden. Dagegen hätten die Missionare darin eine Förderung des Islam erkannt und sich für deutschsprachigen Unterricht bei den nicht-muslimischen Askari eingesetzt. Dabei entfalteten die Missionare in ihrer Argumentation eine anti-islamische Polemik, die sich nicht nur gegen das zur „lingua franca“ gewordene Suaheli richtete, sondern auf dem narrativen Code von Religion, Rassenzugehörigkeit und Sprache basiert habe.

Die vierte Sektion eröffnete MARKUS MESSLING (Berlin), der die Vorstellung von der im 19. Jahrhundert verwissenschaftlichten Philologie als reiner Erfüllungsgehilfin europäischer kolonialer Durchdringung in Frage stellte. Im Gegensatz zu Edward Saids Diktum, das Philologen zu Legitimationsgebern europäischer kultureller Überlegenheit erklärt, thematisierte Messling eine zeitgenössische Gegenströmung, welche die Eigenständigkeit außereuropäischer Sprachen herausstellte und ihre immanente wissenschaftliche Erforschung forderte. So erhob Jean-Pierre Abel-Rémusat, seit 1814 erster Inhaber eines Lehrstuhls für Sinologie an der Sorbonne, gegenüber der Philologie den selbstkritischen Vorwurf, zur europäischen Besitzergreifung außerhalb des eigenen Kontinents beizutragen. Wilhelm von Humboldt und Eugène Jacquet kritisierten in ihrer Korrespondenz die Missionarsgrammatiken und die alphabetische Transkription indigener Sprachen als Irrweg, stattdessen hätten sie eine „science de l’ethnographie“ gefordert.
JÜRGEN G. NAGEL (Hagen) behandelte einen Zeitraum, in welchem angesichts verstärkter Kolonisationsbemühungen auch die Institutionalisierung der Sprachausbildung im Mutterland vorangetrieben wurde. Das 1887 gegründete, unter der Trägerschaft des Auswärtigen Amtes und des Preußischen Kultusministeriums stehende Berliner ‚Seminar für orientalische Sprachen’ sollte verschiedene Personengruppen aus dem Deutschen Reich sprachpraktisch ausbilden. Das ohne strikte Qualifikationsvoraussetzungen aufgebaute Seminar habe zunächst vor allem Unterricht in ostasiatischen und orientalischen Sprachen erteilt, auf Wunsch kolonialer Planer auch afrikanische Sprachen wie Suaheli, Hausa, Herero und Ewe. Aus Nagels Sicht hatte die Vorbereitung der Kurse auf lange Sicht auch eine Vereinheitlichung des Sprachmaterials zur Folge.
Für die russische Expansion in Zentralasien hatte die Erschließung der Sprachen der neuen Untertanen einen noch weitaus dringlicheren Charakter, wie die gezielte Förderung der Orientalistik durch das russische Innen- und Außenministerium zeigt. EVA-MARIA STOLBERG (Bonn) legte dar, dass Philologen wie Nikolaj Il’minskij Tendenzen zur Ersetzung der zentralasiatischen Sprachen im Sinne einer gegen die „kaukasische Gefahr“ und den Islam gerichtete Russifizierung vorantrieben. Demgegenüber seien nichtrussische Orientalisten wie der Kasache Čokan Valichanov für ein Nebeneinander russischer und nichtrussischer Sprachen eingetreten, hätten sich aber dem Zarenreich gegenüber betont loyal verhalten. Die Arroganz russischer Orientalisten habe allerdings dazu geführt, dass indigene Vertreter die imaginäre Einheit der Turkvölker mit dem Ruf nach einer gemeinsamen Literatursprache beschworen.
Der sprachliche Zusammenhalt sollte selbst für die sowjetischen Regierungen zum Problem werden, welche die Situation des Zarenreiches gewissermaßen erbten. DMITRY SHLAPENTOKH (South Bend, Indiana) verdeutlichte, dass ähnlich wie andere Staaten auch die Sowjetunion einer verbindenden nationalen Ideologie zur Machtlegitimation der führenden Eliten bedurfte. Nachdem die sowjetische Führung ihren Machtapparat etabliert hatte, sei man von der anfänglichen universellen Sicht auf Sprache und Kultur abgerückt und habe stattdessen das sowjetisch ausgerichtete Modell des Eurasianismus propagiert. Im geopolitischen Rahmen der 1920er-Jahre wurde dieses bald schon niedergehende Konzept eines zivilisatorischen Mix, als dessen Protoypen die Mongolen erschienen, den kulturellen Ansprüchen Polens und anderer slawischer Nationen Osteuropas entgegengesetzt.

Mit einem Vortrag über die Ausbreitung des Persischen in Indien und Zentralasien öffnete BERT FRAGNER (Wien) in der fünften Sektion die Perspektive auf Herrschafts- und Verkehrssprachen vor der europäischen Kolonisierung. Im Mogul-Reich habe Persisch nicht nur als Sprache von Hof, Verwaltung und Historiographie, sondern auch als Kontaktsprache innerhalb des multilingualen Subkontinents fungiert. Während entlang der Seidenstraße im 6. bis 8. Jahrhundert zunächst das Soktische als durch Kaufleute verbreitete „lingua franca“ gesprochen wurde, habe später Persisch als bis ins 18. Jahrhundert gängige Zweit- und „proto-globale“ Kontaktsprache im vorkolonialen Zentralasien dominiert.
MARIA J. SCHOUTEN (Covilhã, Portugal) beschäftigte sich mit Malaiisch und Portugiesisch als Kontaktsprachen in der südostasiatischen Inselwelt. Als die Portugiesen um 1500 Südostasien erreichten, herrschte dort das Malaiische als Sprache der Kaufleute vor. Während Missionare Malaiisch bei ihren Christianisierungsbemühungen eingesetzt hätten, hätten die Niederländer, die sich um 1600 im Malaiischen Archipel festsetzten, vor der Ausbreitung der englischen und französischen Kolonialreiche auf das kreolisierte, durch die portugiesische Expansion zur „lingua franca“ gewordene Portugiesische zurückgegriffen. Eine wichtige Rolle als interkulturelle Vermittler hätten die portugiesischsprachigen asiatischen Frauen niederländischer Beamter und Kaufleute gespielt.
MIORITA ULRICH (Bamberg) widmete sich den sprachlichen Entdeckungen der ersten Weltumsegelung durch Fernando Magellan 1519-22. Ihr Hauptaugenmerk galt den Wortlisten, die der mitgereiste Sekretär Magellans, Antonio Pigafetta, anfertigte. Das Spektrum dieser in pragmatischer Absicht angefertigten Zusammenstellungen reicht von einer knappen Liste von Begriffen der brasilianischen Tupí-Sprache bis hin zu einer mehrere hundert Wörter umfassenden Liste des Malaiischen.
Die Sektion beschlossen SWINTHA DANIELSEN (Nijmegen) und KATJA HANNß (Stirling) mit einem Vergleich aussterbender Sprachen auf der Grundlage ethnolinguistischer Feldforschung. Sie beschrieben den fortschreitenden Prozess des Aussterbens einer Sprache (bilingual situation, language shift, language decay, language death) und erläuterten ihre Vorgehensweise bei der Aufnahme von indigenen Sprachen Boliviens am Beispiel des Baure und des Uru. Danielsen charakterisierte den Zustand des Baure als einer von nur 60 Sprechern in der Nähe der brasilianischen Grenze gesprochenen und vom Aussterben akut bedrohten Sprache. Hannß hielt dem die Rekonstruktion des vom Aymara abgelösten Uru entgegen, das allein aus historischen Dokumenten rekonstruiert werden kann. Durch die Aufsplitterung der Uru-Sprachgemeinschaft infolge der arbeitsmarktbedingten Landflucht am Ende des 19. Jahrhunderts und die Einschränkung der sprachlichen Weitergabe wegen der Ausbreitung der spanischen Schulen sei diese indigene Sprache verschwunden.

In seinem Resümee zeigte der Mitveranstalter ALEXANDER KEESE (Bern) mit dem Verweis auf die flexiblen Praktiken des Sprachgebrauchs in interkulturellen Kontaktsituationen, die die europäische Expansion begleiteten, Perspektiven der Forschung auf. Kolonisierung zeige sich nicht als Top-Down-Prozess, denn die europäischen Mächte scheiterten häufig mit ihren Versuchen, ihre Sprachen durchzusetzen. Infolge des massenhaften Transports afrikanischer Sklaven nach Amerika hätten sich afrikanische Sprachen im 19. Jahrhundert zu „Gegensprachen“ und damit zu Kristallisationspunkten afro-amerikanischer Identität sowie des Widerstands von Sklaven entwickeln können. Zum Zeitpunkt der Durchdringung Afrikas hätten die europäischen Kolonisatoren bereits über eine professionalisierte Sprachwissenschaft verfügt: Sie hätten die europäischen Sprachen als Elitesprachen etabliert, während Missionare afrikanische Sprachen benutzt und die lokalen Verwaltungen häufig eigene, der Situation vor Ort angepasste Sprachregelungen getroffen hätten. Schließlich könnten die kolonisierten Außereuropäer keineswegs nur als passiv angesehen werden. Vielmehr hätten Vertreter der indigenen Bevölkerung die Aufgaben lokaler Vermittler übernommen, lokale Anführer die Eindringlinge manipuliert, und einheimische Eliten sprachliche Kompetenzen als Distinktionsmerkmal eingesetzt und eigene kulturelle Identitäten geformt. Die Nationalbewegungen in den Kolonien hätten oftmals auf vorhergehende sprachliche Standardisierungsversuche unter kolonialer Herrschaft rekurriert.

Insgesamt bot die Tagung einen weit gefächerten thematischen und räumlichen Überblick über Forschungen zur Bedeutung von Sprachenerwerb und –politik sowie Vermittlerrollen im Prozess der europäischen Expansion und deren Rückwirkung auf die Kolonisatoren. Vor allem innovative Ansätze konnten die Globalität der vorgestellten Schwerpunkte umklammern. Erfreulich wäre, wenn die Gesellschaft für Überseegeschichte ihre Jahrestagung auch weiterhin für eine derartige Standortbestimmung nutzen könnte.

Konferenzübersicht:

Mark Häberlein: Sprachenvielfalt und europäische Expansion: Forschungsgeschichte und Forschungsperspektiven

1. Sektion: Frühneuzeitliche Missionare als Philologen und kulturelle Vermittler, Sektionsleitung: Johannes Meier (Mainz)
Renate Dürr: Antonio Ruiz de Montoya SJ (1585-1652) und sein Guaraní-Wörterbuch (1639)
Michael Müller: Das ethnolinguistische Werk des Chilemissionars P. Bernhard Havestadt SJ
Christian Windler: Religiöser Anspruch und sprachlich-konzeptionelle Grenzen: Jesuitenmissionare und Armenier im Safavidenreich im späten 17. Jahrhundert
Mark Meuwese: Language, Literacy, and Conversion: Indigenous Peoples and Dutch Protestant Missions in Northeastern Brazil and Taiwan, 1624-1662
Susanne Lachenicht: Mehrsprachigkeit, kultureller Austausch und Multikulturalität in der Nouvelle France (16.-19. Jahrhundert)

2. Sektion: Sprache und Kommunikation in Handels-, Eroberungs-, und Kontaktsituationen (16. – 19. Jahrhundert), Sektionsleitung: Michael Zeuske (Köln)
Anja Bröchler: From Pictograms to Pictures: The Tlacuiloque of the Florentine Codex as Mediators between Two Worlds
Felix Hinz: Traduttore, traditore. „Gefangene“ und „befreite“ Dolmetscher als argwöhnisch betrachtete Kulturvermittler während der spanischen Conquista Amerikas
Beatrix Heintze: Luso-afrikanische Dolmetscher und kulturelle Vermittler in Angola im 19. Jahrhundert

3. Sektion: Sprachliche Grundlagen unter europäischer Herrschaft: Koloniale Durchdringung und indigene Reaktion, Sektionsleitung: Markus A. Denzel (Leipzig)
Andreas Weber: Sprache als Werkzeug kolonialer Expansion im frühen 19. Jahrhundert: Die Erschließung des Javanischen am Beispiel Adriaan David Cornets de Groots (1804-1829)
Almut Steinbach: Imperial Language Policy in the 19th and early 20th Century: A Study on the Spread of English under British Rule in Ceylon and the Federated Malay States
Armin Owzar: Suaheli oder deutsch? Zum Verhältnis von Sprache und Religion in Deutsch-Ostafrika

4. Sektion: Verwissenschaftlichung von Sprache und Sprachenpolitik in Kolonialreichen des 19. und 20. Jahrhunderts, Sektionsleitung: Gita Dharampal-Frick (Heidelberg)
Markus Meßling: Linguistik der Befreiung. Das Erbe der Missionarsgrammatiken und Selbstkritik der Philologie in Zeiten ihrer Ermächtigung (Wilhelm von Humboldt, Eugène Jacquet, Jean-Pierre Abel-Rémusat)
Jürgen G. Nagel: Sprachschule oder kolonialwissenschaftliches Zentralinstitut? Das Berliner Seminar für orientalische Sprachen zwischen linguistischer Forschung und kolonialer Praxis, 1887–1914
Eva-Maria Stolberg: „Die Entdeckung Asiens“: Die russische Orientalistik im Zarenreich
Dmitry Shlapentokh: Language as the Tool of Empire Formation: The Case of “Eurasianism” in the USSR

Junges Forum, Leitung: Hermann Hiery (Bayreuth) mit Germain Nyada, Kristina Starkloft, Andreas Leipold, Katharina Diener und Dominik Schieder

5. Sektion: lingua franca, Mischsprachen, Verkehrssprachen, Sektionsleitung: Hermann Wellenreuther (Göttingen)
Bert Fragner: Was Persian a Native Language in India and Central Asia? A Comparative Assessment of Linguistic Strategies under Colonial Rule in British India and in Russian Central Asia
Maria J. Schouten: Malay and Portuguese as Contact Languages in the Southeast Asian Archipelago, 16th–18th Centuries
Miorita Ulrich: Sprachliche Entdeckungen der ersten Weltumsegelung (1519-1522). Magellans Sekretär Antonio Pigafetta als "naiver" Linguist
Swintha Danielsen/Katja Hannß: Working with dying languages – Two Bolivian cases in comparison

Alexander Keese: Zusammenfassung und Ausblick


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