HT 2008: Grenzziehungen und Ausgrenzungen in neuzeitlichen Gesellschaften (16. bis frühes 20. Jahrhundert)

HT 2008: Grenzziehungen und Ausgrenzungen in neuzeitlichen Gesellschaften (16. bis frühes 20. Jahrhundert)

Organisatoren
Lutz Raphael, Universität Trier; Rudolf Schlögl, Universität Konstanz; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2008 - 03.10.2008
Url der Konferenzwebsite
Von
Elizabeth Harding, Graduiertenkolleg „Gesellschaftliche Symbolik in Mittelalter und Früher Neuzeit“, Münster

In mehrfacher Hinsicht überschritt die zu besprechende, die Frühneuzeit und Moderne umfassende, interdisziplinär ausgerichtete und ausdrücklich kulturwissenschaftlichen Ansätzen verpflichte Sektion institutionalisierte Grenzen der deutschen Historiographie. Unter der Leitung von Lutz Raphael und Rudolf Schlögl verfolgte die Veranstaltung, die in Korporation der Sonderforschungsbereiche „Fremdheit und Armut“ (Trier) und „Norm und Symbol“ (Konstanz) durchgeführt wurde, Prozesse der Differenzierung durch In- und Exklusion seit dem 16. Jahrhundert. Den beteiligten Referenten der Geschichts- und Literaturwissenschaft ging es insbesondere darum, nicht allein die Grenzziehung zum Gegenstand zu machen, sondern die Zwischenbereiche zu fassen, die als inkludierende Exklusion erscheinen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte die Sektion daher den im Dazwischen angesiedelten ‚Grenzfiguren’. An ihnen spiegelt sich, wie LUTZ RAPHAEL (Universität Trier) in seiner Einführung erläuterte, die Grenzziehung in wechselseitiger Verschränkung mit dem Eingeschlossenen. Eine Fokussierung auf diese Personengruppen, die über sie entwickelten Wissensordnungen sowie die im Kommunikationsgeschehen produzierten Ideenwelten ermöglicht einen Einblick in die kulturellen Bedingungen von sozialer Homogenisierung einerseits und gesellschaftlicher Differenzierung andererseits. Das Interesse der Sektion galt daher primär den zeitgenössischen Diskursen, die bestimmte Vorstellungswelten verbreiteten sowie semantisch verdichtet unterfütterten. Aus ihnen können gesellschaftliche Ordnungsprinzipien erkennbar werden, die auf für vormoderne, ständische und moderne, pluralisierte Gesellschaften gleichermaßen in höchstem Maße relevante Mechanismen der Systemstabilisierung verweisen.

Im Anschluss an die kurze Einführung durch Raphael, in der er die Kernfragen der Sektion anriss, richteten PATRICK OELZE (Universität Konstanz) und PHILIP HOFFEMANN-REHNITZ (Universität Konstanz) ihren Blick auf die frühneuzeitliche Stadt. In einem Doppelvortrag untersuchten sie das ambivalente Verhältnis von Grenzziehung und die Infragestellung solcher Grenzen. Am Beispiel der Störer und Quacksalber, die sich im Begriff des Pfuschers kreuzten, zeigten sie, dass zwar einerseits diese Grenzfiguren als Gefahr für die Ordnung wahrgenommen und daher bekämpft werden mussten, aber andererseits eben durch die diskursive Erörterung der Grenzziehung Trennungslinien zugleich konstituiert und fortgeschrieben wurden. Der Störer, dem sich Philip Hoffmann-Rehnitz zuwandte, war dem Handlungs- und Wissensfeld des städtischen Handwerks zugeordnet. Im zeitgenössischen Diskurs, der sich in Quellen seit etwa 1500 finden lässt, traten Störer vor allem als heimliche, nicht in die ständische Gesellschaft integrierte Personengruppe in Erscheinung. Durch ihre Anwesenheit in der Stadt wurden die Macht der Zünfte und die Ehrkonzepte der Handwerker angegriffen, die es, so Hoffmann-Rehnitz, besonders in Zeiten unsicheren politischen Status zu erhalten galt. Als Reaktion entwickelte die städtische Bürgergesellschaft eine Fremdbeschreibung im Sinne einer Negativfolie, in der der Störer als heimlich agierender, rastloser Antipode der guten Ordnung erschien.

Dem Pfuscher der Heilkunde, dem Quacksalber, widmeten sich laut Patrick Oelze die öffentlichen Diskurse erst seit dem 17. Jahrhundert. Ähnlich wie im Falle der Störer kritisierten die Zeitgenossen die Rastlosigkeit der Wanderärzte und fahrenden Operateure. Quacksalber waren nicht in das soziale Gefüge einer Stadt eingebunden, sondern in besonderem Maße „ortlos“. Ihre Fremdheit mussten sie mit einer öffentlichen Inszenierung kompensieren, wozu sie diverse Medien und ein ausgefeiltes Symbolprogramm verwendeten. Zugleich versuchten diese Grenzfiguren, wie Oelze erläuterte, durch die Selbstdarstellung Vertrauen in ihre Fähigkeiten herzustellen. Die Abgrenzungsbemühungen des akademischen Ärztestandes jedoch hatten schließlich im Verlauf des 18. Jahrhunderts zur Folge, dass neue Grenzen gezogen wurden, die Wanderärzte und Operateure pauschal stigmatisiert und die Wissenskonzepte über sie – vergleichbar dem Umgang mit den Störern – diskursiv homogenisiert wurden. Diese Zuschreibung erfolgte ungeachtet der eigentlichen Kompetenzen und war dennoch von großer Wirkmacht.

Mit der Transformation frühneuzeitlicher Grenzen beschäftigte sich ebenfalls der Literaturwissenschaftler BENJAMIN BÜHLER (Universität Konstanz). Am Beispiel der frühneuzeitlichen politischen Theorie und der Experimentalwissenschaft untersuchte er die zeitgenössische Semantik von Natur und Kultur, wie sie im Verhältnis von Mensch und Tier zu Tage trat. Eine diskursive Auseinandersetzung mit dem Menschen erfolgte zum einen durch die medizinisch-analytische Wissenschaft, die dessen anatomische und physiologische Merkmale zu bestimmen suchte. In der Medizin wurde der menschliche Körper traditionell in Analogie zum Tier erforscht. Im Zuge wissenschaftlicher Neuerungen im Verlauf der Frühneuzeit transformierte sich jedoch die zeitgenössische Vorstellungswelt. Infolge dessen trat das Besondere der menschlichen Anatomie in den Vordergrund. Das Tier diente nun allein zur analytischen Abgrenzung des Menschen und seiner Besonderheiten. Allerdings musste nicht zuletzt in der Experimentalwissenschaft am Tier als Vergleichsfolie festgehalten werden, da es bei der wissenschaftlichen Bestimmung als Substitut des Menschen diente. Der von der Experimentalwissenschaft angestoßene Diskurs löste sich somit nie endgültig vom Tier. Zum anderen erfolgte der Diskurs über die Mensch-Tier-Grenze in der politischen Semantik, wo das Tier als soziales Wesen erschien. Dies wurde am Beispiel der Grenzfiguren des Fuchses und des Hobbes’schen Leviathan deutlich. So zeigt sich etwa bei Machiavelli, dass der Fuchs, der in der Dichtungstradition zur Unterscheidung von Recht und Unrecht, Moral und Unmoral eingesetzt wurde, als machttechnische Gestalt umgedeutet und entmoralisiert werden konnte. Der schlaue Fuchs erschien dort als vorbildhaftes Tier, dessen Kalkül der idealen Staatspolitik entspricht. Vergleichbares stellte Bühler mit Blick auf den von Thomas Hobbes beschriebenen Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand im Leviathan fest. Staatsräson wurde bei Hobbes ebenfalls an der Grenze zwischen Mensch und Tier erörtert. So wird beispielsweise der Herrscher durch den Staatsvertrag zum besonders übermächtigen Wolf. Gleichzeitig wirke, so Bühler, die Staatsmacht jedoch ebenfalls auf die Bevölkerung, da sich selbst einer neuen Verfügungsmacht unterwirft. Die infolge dessen ihren Einzug haltende politische Ökonomie der Frühen Neuzeit habe zu einer veränderten, jedoch erneut die Semantiken der Natur betreffenden Herrschaftstechnik geführt.

Den Blick für das 19. Jahrhundert öffnend und somit die Schwelle zur Neuzeit überschreitend widmete sich die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin IULIA-KARIN PATRUT (Universität Trier) ‚Zigeunern’ und Juden. Sie ging dabei der Frage nach, welche gesellschaftliche Funktion die Marginalisierung einer Personengruppe für eine Gemeinschaft hatte. Als Quellengrundlage dienten ihr sowohl literarische Werke als auch ethnographische und anthropologische Texte aus dem 16. bis 20. Jahrhundert. Anhand dieser Schriftzeugnisse spürte sie die Grenzziehungen einer sich zunächst als Volk, später auch als Nation entwerfenden Gesellschaft gegenüber ‚Zigeunern’ und Juden auf. Als Hintergrund der Grenzziehung im 19. Jahrhundert, auf die Patrut ihr Hauptaugenmerk legte, machte sie die um 1800 auftretende Konjunktur des Konzepts der Nation fest. Indem sich das Volk bzw. die Nation als eine soziale Gemeinschaft imaginierte, wurden zugleich Diskussionen über die Grenzen dieser Gesellschaft angestoßen. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Wahrnehmungen der Juden und ‚Zigeuner’ als differente Personengruppen an diesen Grenzen fielen dabei konträr und widersprüchlich aus. Johann Gottfried Herder etwa hielt eine Inklusion nach umfassender Integration und Assimilation für möglich. Dies äußerte sich auch in der rechtlichen Inklusion im neuen Staatsbürgerrecht von 1871. Andere Autoren sahen die sich aus ihrer Wesensart ergebende Differenz dieser ‚Grenzfiguren’ als unüberwindbar. Besonders am Beispiel der Mobilität, dem der zweite Abschnitt des Vortrags gewidmet war, zeigte sich, dass diese Exklusionssemantiken auf einer langen Tradition fußten. Diese Semantiken, und insbesondere die Vorstellung von der Wurzellosigkeit dieser Gruppen, wurden jeweils in unterschiedlichen Kontexten aktualisiert und angepasst. Allerdings, so konnte festgestellt werden, korrelierte diese Grenzziehung offensichtlich nicht mit der politischen Ebene. Denn allein in der Frage der Mobilität erfolgte laut Patrut eine Abgleichung zwischen der überwiegend exkludierend ausgerichteten Wissensproduktion und der ansonsten eher integrativ wirkenden politischen Verordnungsebene.

Die mit sozialer Mobilität verbundene gesellschaftliche Herausforderung griff BEATE ALTHAMMER (Universität Trier) erneut auf. Sie untersuchte den Vagabunden im ausgehenden 19. Jahrhundert, der sich zwar am Rande der Gesellschaft befand, allerdings ebenfalls politisch-rechtlich dem Staatsverband angehörte. Nach Ansicht der Sozialreformer der 1880er-Jahre, in denen die Vagabundenfrage aufgrund von Sozialreformen aufflammte, waren Vagabunden zu integrieren. Denn die prekäre Stellung des Vagabunden erschien in den Augen der Justiz, der Verwaltung und den Wohltätigkeitsvereinen als eine direkte Folge seiner wirtschaftlichen Lage. Inklusion mittels rechtlicher Intervention galt als Ideal des Verwaltungsstaates der 1880er-Jahre. Das Bild des Vagabunden, des armen Taugenichts, wandelte sich jedoch bald zur Vorstellung, dass es sich bei diesen Bettlern und Landstreichern um geistig defekte Menschen handle, deren Daseinsform somit pathologisch zu begründen sei. Hintergrund dieses Umbruchs war der mangelnde Erfolg von Integrationsversuchen, infolge dessen sich Psychiater für die Vagabunden zu interessieren und diese über wissenschaftliche Methoden zu erforschen begannen. Aus den detailreichen Studien resultierte dieses neue, bald zustimmend von diversen Bevölkerungsgruppen übernommene Wissenskonzept. Nicht nur formten die vorgestellten Psychiater damit eine neue Terminologie und Vorstellung biologischer Ungleichheit, die im 20. Jahrhundert von der Rassenhygiene fanatisch radikalisiert werden konnte, auch brachte sie neue gesellschaftliche Antworten hervor, wie mit diesen Menschen umzugehen sei. Nicht Inklusion erschien, so Althammer, nunmehr erstrebenswert, sondern eben die fürsorgerische Dauerinternierung. Da die Masse der Defekte von Vagabunden als erblich bedingt oder angeboren eingeschätzt wurde, sei folglich nach Ansicht der Zeitgenossen auch das soziale Scheitern bereits in ihrem Körper eingeschrieben gewesen.

In seinem Kommentar schließlich akzentuierte RUDOLF SCHLÖGL (Universität Konstanz) einige Schwerpunkte der Vorträge, indem er gezielt Fragen an die einzelnen Referenten richtete. Er hob dabei vor allem auf Devianzvorstellung und deren Veränderbarkeit sowie das vieldiskutierte gesellschaftliche Problem der regionalen Mobilität ab. Diesen Aspekt betonte Schlögl ebenfalls in seinem Ausblick, den er anschließend als Bündelung seiner allgemeinen Beobachtungen präsentierte. Dabei unterstrich er erneut den gesellschaftlich-konstitutiven Stellenwert von Grenzfiguren für eine soziale Ordnung und ihre Beständigkeit. Diese Stabilität resultiert nicht zuletzt auch aus neuen Diskursen, die (vermeintliche) Unterschiede benennen und somit folglich eine Ausgrenzung befördern. Da diese Prozesse jedoch überwiegend auf der Ebene der Semantiken angesiedelt sind, betonte Schlögl ferner die augenscheinliche Wissenschaftlichkeit der Grenzziehung. Abschließend widmete er sich der Frage nach den Unterschieden zwischen der Moderne und Vormoderne. Scheinbar ungeachtet des Prozesses funktionaler Differenzierung, so resümierte Schlögl, verlaufen Grenzziehungen entlang einer weitgehend einheitlichen Semantik. Dies konnte er etwa daran verdeutlichen, dass Zugehörigkeit durch Geburt auch in der Moderne ein entscheidendes Kriterium sozialer Bestimmung und Unterscheidung sein kann.

Die Sektion „Grenzziehungen und Ausgrenzungen in neuzeitlichen Gesellschaften“ hat einen Einblick in die Arbeitsformen und bisherigen Ergebnisse der Sonderforschungsbereiche gegeben. Deutlich wurde dabei das Erkenntnispotential interdisziplinärer und epochenübergreifender Ansätze. So erhellten sowohl die Vorträge als auch die Diskussion, inwiefern die Vergleichsperspektive dazu beitragen kann, vermeintliche Unterschiede zwischen den Epochen in Frage zu stellen. Dies zeigte sich etwa mit Blick auf die Frage der Mobilität und dem Ort des Sozialen. Entgegen klassischen Vorstellungen veränderte die funktionale Differenzierung in der Moderne, wie es scheint, das soziale Bedürfnis, Grenzfiguren zu verorten und verfügbar zu machen, nicht nachhaltig. Wanderschaft, Wurzellosigkeit und unrechter Aufenthalt können auch moderne Gesellschaften irritieren und als Begriffe argumentativ erfolgreich zur Grenzziehung eingesetzt werden.

Allerdings ist eine solche Ausrichtung trotz unbestrittenen Erkenntnisgewinns mit Problemen verbunden. „Semantiken langer Dauer“ verstellen den Blick für die Wandelbarkeit der hinter den Begriffen stehenden Konzepte. In der Diskussion ist daher betont worden, dass neben dem Diskurs auch die Praxis der Handelnden und Behandelten zu berücksichtigen ist. Damit würde im stärkeren Maße die Breitenwirkung der Wissens- und Ordnungsvorstellungen Berücksichtigung finden. Diese wurde weitgehend in den Vorträgen ausgeklammert, ist jedoch folgenreich für die Grenzziehung, Zuweisung und Identität der Grenzfiguren. Mit Blick auf die epochalen Unterschiede eröffnet diese erweiterte Perspektive dann vielleicht doch neue Sichtweisen auf die qualitativen Unterschiede der Grenzziehung in Vormoderne und Moderne. Dass jedoch gesellschaftliche Ordnung auf Mechanismen der Inklusion und Exklusion beruht und daher die Erforschung der Wissensproduktionen dazu beitragen kann, die kulturellen Begebenheiten sozialer Ungleichheit der Neuzeit zu erhellen, belegten die diskutierten Beiträge eindrücklich.

Sektionsübersicht:

Lutz Raphael (Trier) / Rudolf Schlögl (Konstanz): Moderation/Kommentierung

Philip Hoffmann-Rehnitz (Konstanz) / Patrick Oelze (Konstanz): Grenzfiguren und soziale Ordnung in der fruhneuzeitlichen Stadt

Benjamin Buhler (Konstanz): Zwischen Tier und Mensch. Grenzverschiebungen in der politischen Theorie und den Experimentalwissenschaften der Frühen Neuzeit

Iulia-Karin Patrut (Trier): ‚Zigeuner’ und Juden: Grenzfiguren mehrheitsgesellschaftlicher Selbstkonstruktion

Beate Althammer (Trier): Der Vagabund im psychiatrischen Blick: Nichtsesshaftigkeit als pathologisches Symptom

Rudolf Schlögl (Konstanz): Kommentar