1979 entglitt Eberhard Ruhmer, dem verdienten Kenner des Leibl-Kreises, ein Wort, dessen implizite Wertung stellvertretend für einen Gutteil der älteren Kunsthistoriographie stehen mag: Der überragende Karl von Piloty habe „auffallend viele „Ostlichter“ an die … Akademie“ geholt, „wobei er übrigens keine schlechte Wahl traf.“1
Der viel mehr entschuldigende als anerkennende Nebensatz Ruhmers bezeugt eine Sichtweise, die das Künstlertum der ehemaligen „osteuropäischen“ Länder in ein nie mehr als holzschnittartig ausgearbeitetes, aber anhaltendes Gefälle gegenüber der Kunstmetropole stieß: Hier das nehmende Epigonentum, dort das gebende Kraftzentrum. Die vereinfachende Perspektive dehnte sich naturgemäß auf die Beurteilung des jeweiligen künstlerischen Wertes aus: Die Hohlformen der Münchner Stilvorgaben seien je nach Bedarf, entlang des jeweiligen nationalen Hintergrundes, lediglich mit neuem Inhalt gefüllt worden.
Diese wenig flexible Vorstellung konnte während der Zeit des Kalten Krieges nicht korrigiert werden und deswegen 2005 auf der einleitenden Tagung der seit 2003 bestehenden Forschergruppe „Nationale Identitäten und internationale Avantgarden. Forschungen zur Künstlerausbildung“ als überdauerter Problembestand erfasst werden.
Die Tagungsreihe der institutionenübergreifend operierenden Forschergruppe, die sich aus Wissenschaftlern der Akademie der Bildenden Künste München, des Zentralinstituts für Kunstgeschichte und der Ludwig-Maximilians-Universität (Institut für Kunstgeschichte und Institut für Kunstpädagogik) zusammensetzt, hat unter Beteiligung internationaler Fachkollegen, ausgehend vom „Magnetfeld“ der Münchner Kunstakademie, künstlerische Austausch- und Ausbildungsprozesse im 19. und 20. Jahrhundert in Europa in den Blick genommen. Sie lief parallel zu einem bemerkenswerten Quellenerschließungsprojekt, in dessen Rahmen die Akademie der Bildenden Künste in Kooperation mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte und der Bayerischen Staatsbibliothek eine digitale Edition der Matrikelbücher vorbereiten konnte.2 Mit dieser fünften Tagung findet die Reihe ihren einstweiligen Abschluss.
WALTER GRASSKAMP (Akademie der Bildenden Künste, München) bemerkte in seiner Einführung, dass Europa, während amerikanische Kunsthistoriker bereits über eine globalisierte Kunstgeschichte spekulierten, „erst am Beginn einer europäischen Kunstgeschichtsschreibung“ stünde, da „jener mitteleuropäische Kontinent der Kunst“ noch nicht genügend kartographiert sei. Mit Recht wurde deshalb nun, nachdem zwischenzeitlich Tagungen amerikanischen und griechischen Künstlern in München gewidmet worden waren, ganz dezidiert den künstlerischen Beziehungen zwischen München und den immer noch wenig erschlossenen südost- und ostmitteleuropäischen Kunstregionen mit einer eigenen, von Christian Fuhrmeister (Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München) und Lia Lindner (Augsburg) konzipierten Tagung nachgegangen.
Die Tagung umfasste insgesamt zehn Beiträge: Sechs Beiträge zu einer ungarischen und je zwei Beiträge zu einer rumänisch-bulgarischen Sektion, wobei jede Sektion von einem kritischen Kommentar zusammengefasst wurde. Der Grund für das quantitative Ungleichgewicht mag darin liegen, dass die ungarische Kunstgeschichtsschreibung bereits Ansatzpunkte zu einer europäischen Integration geknüpft hat und für rumänische und bulgarische Künstler erst in jüngerer Zeit erste Schneisen geschlagen werden. Das Programm wurde durch zwei Abendvorträge abgerundet.
Dass die Sektionen der Tagung nicht gleich von Beginn an entlang künstlerischer Phänomene, sondern nationaler Grenzen getrennt waren, mag mit an dem erwähnten Kenntnisstand zu rumänischen und bulgarischen Künstlern liegen.
Die alte Gefahr des Rückfalls, dass trotz einer kontinentalen Problemstellung in genau jene nationalen Diskurse zurückgefallen werden könnte, die zu dekonstruieren man sich seit der Wende gemeinsam müht, kam diesmal dennoch nicht auf.3 Dieser Umstand verdient besondere Hervorhebung, denn der Gegenstand der Tagung hätte dazu verführen können: Man hatte auch die als nationale Projektionsfläche vereinnahmte und in München lange Zeit so nachdrücklich gepflegte Historienmalerei zu thematisieren.
So wurde in Beiträgen wie jenem von ZSUZSANNA BAKÓ (Ungarische Nationalgalerie, Budapest) deutlich, dass die Münchner Akademie vor allem als Zentrum der Historienmalerei – gegenüber z.B. Düsseldorf mit Landschaftsmalerei – eine herausragende Bedeutung für die Akademien der jungen Länder Südost- und Ostmitteleuropas innehatte. Ihr Beitrag legte offen, wie sich im Kreise des späteren ungarischen Kultusministers József Eötvös, der zu in München tätigen ungarischen Künstlern wie Gusztáv Keleti regen Briefkontakt unterhielt, die Idee durchsetzte, dass die Entstehung einer genuin ungarischen Malerei just von der Gattung der Historienmalerei zu erwarten sei.
In seinem Beitrag arbeitete dann ANDRÁS ZWICKL (Ungarische Nationalgalerie, Budapest) eine historische Gegenposition heraus: Károly Lyka fand in der Plein-air-Landschafterei der zu München ebenfalls in Beziehung stehenden Schule von Nagybánya den „neuen progressiven Geist“ der neueren ungarischen Malerei inkarniert.
LIA LINDNER (Augsburg) deckte im Anschluss auf, dass besonders für die zweite Künstlergeneration von Nagybánya ein in der Auseinandersetzung mit dem Historismus entwickeltes Naturverständnis kennzeichnend ist, das zum Ausgangspunkt einer eigenständigen ideengeschichtlichen Filiation der ungarischen Avantgarde bis hin zu László Moholy-Nagy und Victor Vasarely wurde, die ihrerseits als ein wesentlicher Beitrag der ostmitteleuropäischen zur europäischen Moderne gesehen werden dürfte.
MONIKA WUCHER (Hamburg) stellte in ihrem Beitrag am Beispiel von Hans Mattis Teutsch und Lajos Kassák fest, dass die von der Kunsthistoriographie akzeptierte Zuordnung von originärem Kunstschaffen und Nachahmung auf Zentrum und Peripherie im Selbstverständnis der südosteuropäischen Avantgarde gelegentlich sogar eine selbstbewusste Umkehrung erfahren hatte: „Aus entlegenen Gebirgskesseln“ bricht sich das Schöpferische in die Metropolen Bahn und wird dort „zum Nährboden urbanen Lebens“.
Das Beziehungsgefüge der Avantgarde ließ sich in keiner Hinsicht als ideengeschichtliche Einwegstraße oder selbst, wie ERNŐ MAROSI (Forschungszentrum für Kunstgeschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest) in seinem Kommentar zur ungarischen Sektion betonte, als lineare Geschichte schreiben, vielmehr sei von einem Netzwerk zu sprechen, in dem Filiationen und Blickwechsel genauer herauszuarbeiten sind.
Wie die ungarischen, so bedienten sich auch die rumänischen und bulgarischen Künstler, die Regionen mit bis ins 19. Jahrhundert beinah ungebrochenen christlich-orthodoxen Bildtraditionen entstammten, dieser Netzwerke je nach den individuellen künstlerischen Zielen entsprechend, um überhaupt erst eine säkulare Malerei zu entwickeln.
Hatte die bisherige rumänische Forschung die Pariser Akademie als monolithisches Vorbild der rumänischen Akademiegründungen verkündet, so konnten zwei Beiträge die Bedeutung der französischen Metropole relativieren. IOANA VLASIU (Universität Bukarest) erörterte beispielhaft die durch die Münchner Sezession ermutigte Tätigkeit der Bukarester künstlerischen Vereinigung „Tinerimea Artistică“ („Künstlerjugend“) und das als Gesamtkunstwerk gestaltete Leben des Künstlerpaares Friedrich Storck und Cecilia Cutescu Storck als Echo auf die Salonkultur in Münchner Künstlerhäusern.
ROLAND PRÜGEL (Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg), dessen Dissertation zur künstlerischen Avantgarde in Rumänien 1920-30 – der erste fundamentale Überblick zur rumänischen Avantgarde überhaupt – kürzlich erschienen ist, stellte innerhalb seines Gesamtbildes rumänischer Akademiegründungen in Bukarest und Jassy die von der rumänischen Königin Carmen Sylva protegierte Vorbildfunktion Münchens heraus.
Wie sich in den Vorträgen von DENITZA KISSELER (Sofia) und IRINA GENOVA (New Bulgarian University, Sofia) zeigte, war die bulgarische Akademiebewegung ebenfalls von dem Gedanken einer „Europäisierung“ der bulgarischen Gesellschaft getragen. Genova stellte heraus, dass bulgarische Künstler sich während ihrer Ausbildung nicht auf eines der europäischen Kunstzentren beschränkten, sondern sich bewusst einen Querschnitt der kulturgeographisch unterschiedlichen künstlerischen Diskurse aneignen wollten, dadurch letztlich oft zu einer nur schwer kategorisierbaren, eigenen Kunstsprache fanden und, zurück in Bulgarien, ihre Werke nicht zuletzt vor einem gänzlich anderen sozial- und kunsthistorischen Hintergrund schufen – so dass auch Kisseler erneut konstatieren konnte, dass sich die westlichen Begriffe des „Modernismus“ oder „Symbolismus“ nur unter Abwandlung ihrer Konnotation auf die gleichzeitige bulgarische Kunst übertragen ließen.
Das Kurzgreifen einer derart verfahrenden Kunsthistoriographie, die z.B. auch, wie Zwickl moniert hatte, für die bisherige Einstufung der Schule von Nagybánya als provinzialisiertes Derivat einer fortschrittlichen Münchner Kunstlehre gesorgt hatte, wurde spätestens im Abendvortrag von LÁSZLÓ BEKE (Forschungsinstitut für Kunstgeschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, Budapest) als Teil eines grundsätzlicheren Problems jener Kunstgeschichtsschreibung deutlich, die mittel- ost- und südosteuropäische Kunstäußerungen einem kanonisierten, westeuropäisch ausgerichteten Ordnungs- und Begriffssystem unterzuordnen bemüht ist. Trotz deutlicher Bezüge könne die ungarische Plein-air-Malerei, wie László Beke betonte, nicht mit dem Begriff eines auf neue Motivfelder angewandten Impressionismus charakterisiert werden.
Der Hauptgedanke des Abendvortrags von STEVEN MANSBACH (University of Maryland, College Park, MD) lässt sich mit diesem grundsätzlichen Problembestand verknüpfen. Mansbach konstatierte, dass die vor politischer Verfolgung aus Europa in die Vereinigten Staaten geflohenen Kunsthistoriker „Kunstgeschichten“ - gewissermaßen unter Integrationsdruck – verfasst hätten, die auf eine sozialgeschichtliche und politische Kontextualisierung – die brisante linkspolitische Dimensionen impliziert hätte - zugunsten einer rein formalen Betrachtungsweise verzichtet und damit zur Verdeckung des ideologischen Substrates geführt hätten.
Die Einpassung der „osteuropäischen“ Moderne in ein an westlichen Kunstäußerungen entwickeltes Begriffssystem könnte so in der Konsequenz einer von den Opfern des politischen Terrors mitgeschriebenen Kunstgeschichte stehen. Der Verlust des ideengeschichtlichen Substrats mag jedenfalls dazu beigetragen haben, dass heute wieder adäquate Maßstäbe zur Charakterisierung der „osteuropäischen“ Avantgarden gesucht werden müssen. Für die Zukunft bleibt lediglich noch die Frage zu klären, ob die kommunistischen Diktaturen auf einige – andere - Bereiche der Kunstgeschichtsschreibung des zwanzigsten Jahrhunderts nicht eine ähnliche Wirkung gehabt haben.
Tagungen wie diese sind Marksteine auf dem Weg zu einer europäischen Kunstgeschichtsschreibung, für die in mehrfacher Hinsicht ein Wandel vorausgesetzt werden muss: Zum einen ist es die gegenwärtige Ausdifferenzierung des Methodenspektrums für die „osteuropäische“ Kunstgeschichte: Die von der Kunstgeschichtsschreibung der kommunistischen Zeit vernachlässigten sozialgeschichtlich-kontextualisierenden Methoden blühen auch für die südosteuropäischen Kunstlandschaften wieder auf. Daneben ist der Wandel der Perspektiven seit der Wende eindeutig: Die Frage nach den Charakteristiken „nationaler“ Kunstäußerungen wird zugunsten der Erörterung künstlerischer Probleme zurückgestellt. Gleichzeitig zeigt man sich für Faktoren, die zur Wert- oder Geringschätzung der Avantgarden geführt haben, also auch für ideologische Vereinnahmungen in der Historiographie zu den Avantgarden – historische und gegenwärtige - sensibilisiert, so dass, wie FRANK BÜTTNER (Ludwig-Maximilians-Universität München) festhielt, der Boden für eine tatsächlich europäisch ausgerichtete Kunstgeschichtsschreibung von allen Seiten aus bereitet scheint. Das Studienanliegen und die Reisebewegungen der Künstler, das war deutlich geworden, erfolgten viel eher aufgrund der individuellen, dezidiert künstlerischen Ziele des einzelnen Künstlers als dem Anliegen, nationale Identität durch Kunst zu stiften – selbst wenn einzelne Interessengruppen mit Forderungen dieser Art an die Künstler herantraten. Die Münchner Kunstlehre wurde dabei nicht schlichtweg „exportiert“, sondern produktiv weiterverwandelt und in der Konfrontation mit den künstlerischen und kulturellen Gegebenheiten vor Ort gelegentlich soweit transformiert, dass der Begriffsapparat der westlich geprägten Kunstgeschichtsschreibung sich nicht ohne weiteres auf die jeweiligen örtlichen Strömungen übertragen lässt.
Konferenzübersicht:
Wolf Tegethoff (München)
Begrüßung
József Kovács (Generalkonsul der Republik Ungarn)
Brandusa Petrescu (Generalkonsulin von Rumänien)
Atanas Krastin (Generalkonsul der Republik Bulgarien)
Bertold Flierl (Ministerialrat, Bayerische Staatskanzlei)
Grußworte
Walter Grasskamp (München)
Einführung
Sektion Ungarn
Moderation: Walter Grasskamp
Anna Szinyei Merse (Budapest)
Ungarische Bahnbrecher der neueren Bestrebungen in der Münchner Kunstszene 1870-1896
Zsuzsanna Bakó (Budapest)
Einige Gedanken zur Interpretation der ungarischen Historienmalerei als nationale Kunst oder “nationaler” Stil
Annamária Szőke (Budapest)
Die Grundsätze der Kunst. Bertalan Székelys Versuche, die akademische Tradition neu zu begründen.
András Zwickl (Budapest)
München und die Künstlerkolonie von Nagybánya in den Schriften des Kunstkritikers Károly Lyka
Abendvortrag:
László Beke (Budapest)
Schlachtenbilder in “plein air”? Überlegungen zur Bedeutung Münchens für die Genese der ungarischen Moderne
Monika Wucher (Hamburg)
„Von irgendwoher aus dem großen Ungehobelten ...“ Mattis-Teutsch und die Bestimmung von Metropole und Provinz in der Avantgarde
Lia Lindner (Augsburg)
Gibt es eine spezifische „Struktur des Sehens“ in der ungarischen Malerei? Beobachtungen zur ungarischen Moderne und Avantgarde bis Ende der 20er Jahre
Ernő Marosi (Budapest)
Kommentar
Sektion Rumänien und Bulgarien
Moderation: Frank Büttner und Christian Fuhrmeister
Ioana Vlasiu (Bukarest)
The Cult of Art(ists). How experiences in Munich were transferred to Romania, 1900-1915
Roland Prügel (Nürnberg)
Paris oder München? Zur Rolle europäischer Kunstzentren für die Moderne in Rumänien
Denitza Kisseler (Sofia)
München und die modernen Entwicklungen der bulgarischen Kunst
Irina Genova (Sofia)
Modernization and Modernism. The Early 20th Century Bulgarian Art Scene and the Impact of Munich
Ruxandra Demetrescu (Bukarest)
Kommentar
Abendvortrag:
Steven Mansbach (College Park, MD)
Another History of Modern Art
Anmerkungen:
1 Eberhard Ruhmer, „München um 1875: Schnittpunkt internationaler Kunstbeziehungen, in: Münchner Schule : 1850-1914. Ausstellungskatalog Bayerische Staatsgemäldesammlung und Haus der Kunst München, 28.7.-7.10.1979, München 1979, S. 75.
2 <http://matrikel.adbk.de/> (27. 11. 2008)
3 Zur Relevanz nationaler Konstruktionen im aktuellen ostmittel- und südosteuropäischen Diskurs vgl.: Monika Wucher: Tagungsbesprechung zu: „Ostmitteleuropäische Kunsthistoriographien und der nationale Diskurs“. Humboldt-Universität zu Berlin, 28.-30. Juni 2001. In: ArtHist, 02.08.2001.
URL: http://www.arthist.net/download/conf/2001/010802Wucher.pdf