Faire de l'anthropologie historique du Moyen Age aujourd’hui

Faire de l'anthropologie historique du Moyen Age aujourd’hui

Organisatoren
Elisa Brilli / Pierre-Olivier Dittmar, Groupe d’Anthropologie Historique de l’Occident Médiéval (GAHOM), Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS-CRH); Blaise Dufal, Groupe d’Anthropologie Scolastique (GAS, EHESS-CRH); Ecole doctorale de l’EHESS
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
21.11.2009 - 22.11.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Vanina Kopp, Graduiertenkolleg 1049 "Archiv - Macht - Wissen", Universität Bielefeld

Das 30-Jährige Bestehen der „Groupe d'anthropologie historique de l'occident médiéval“ (GAHOM) an der „Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales“ (EHESS) in Paris war der Anlass für eine zweitägige Tagung vom 21. bis 22. November 2008. Veranstalter waren Elisa Brilli, Pierre-Olivier _Dittmar und Blaise Dufal mit der Unterstützung der „Groupe d’Anthropologie Historique de l’Occident Médiéval“ (GAHOM, EHESS-CRH) und der „Groupe d’Anthropologie Scolastique (GAS, EHESS-CRH)“ sowie der „Ecole doctorale de l’EHESS“.

Im Gegensatz zu einer herkömmlichen Jubiläumstagung war eine programmatisch kritische und zukunftsorientierte Veranstaltung geplant worden. Ziel war es, aktuelle Forschungsarbeiten und Methoden der Historischen Anthropologie zu theoretisieren und auf das Mittelalter anzuwenden. Die Referenten waren fast ausschließlich Doktoranden und junge Forscher aus den beiden GAHOM-Arbeitsbereichen GAS und GAHOM, für die dies eine erste gemeinsame Veranstaltung war. Jene, die die Historische Anthropologie in Paris in den letzten drei Jahrzehnten als Professoren und Forscher geprägt hatten, hielten sich als Diskussionsteilnehmer im Hintergrund.

In der ersten Sektion wurden die Methoden und Theorien der Historischen Anthropologie für das Mittelalter und ihre Grenzen in der historiographischen Praxis problematisiert. In seiner Einführung machte PIERRE-OLIVIER DITTMAR (Paris) darauf aufmerksam, dass sich seit Levi-Strauss und Marc Bloch die vergleichende anthropologische Sichtweise auf das Mittelalter zwar großer theoretischer Zustimmung erfreue, diese aber in der Praxis kaum umgesetzt werde. Er plädierte deshalb für einen „comparatisme différentiel“, der es erlaube, das Mittelalter und die globalisierte Welt zu erfassen. In die gleich Richtung wies der Vortrag von MISGAV HAR-PELED (Paris / Baltimore), der die institutionelle Gründung des GAHOM durch Jacques LeGoff in Erinnerung rief, die vor allem auf die politischen und kulturellen Prozesse der Dekolonisierung und Mai 1968 aufbaue. Auf die kulturellen Beziehungen und besonders die Bedeutung der Analogien wies FLORENT COSTE (Dijon) in seinem Vortrag über Philippe Descolas' möglichen Beitrag für die historische Arbeit hin. Für ihn bilden diese Analogien die Möglichkeit, in einem diachronen Vergleich die Unterschiede zwischen heutigen und mittelalterlichen kulturellen Praktiken herausarbeiten zu können.

Einen näheren Einblick in die Anwendbarkeit der Ansätze der Historischen Anthropologie erlaubten die nächsten Vorträge. Hier führten die Referentinnen und Referenten aus, wie sie diese Methoden für ihre historischen Forschungen anwenden. Die Vorträge von CHLOE MAILLET (Paris), die das anthropologisch zentrale Konzept der Verwandtschaft für das Mittelalter vorstellte, ging dabei auf die Diskussion um biologische und sozial konstruierte Verwandtschaft ein, der sie die spirituell konstruierte Verwandtschaft in monastischen Gemeinschaften gegenüberstellte. EDUARDO AUBERT (Paris) führte in seinem Vortrag am Beispiel der mittelalterlichen Musikwissenschaft vor, wie diese seit dem 19. Jahrhundert von einem anthropologischen Marker durch den wandelnden Blick der Wissenschaftler und der Herausbildung der Disziplinen von einer eigenen Disziplin zu „primitiver Ethnomusik“ (de)klassifiziert wurde.

In der nachfolgenden Diskussion verdeutlichte ALAIN BOUREAU (Paris) den unsicheren Status der Historischen Anthropologie daran, dass diese nur im Bereich der mittelalterlichen Forschung angewendet werde. Sie habe zwar mit der EHESS ihr institutionelles Zuhause gefunden, nicht aber ihre methodische Verankerung in der Forschungslandschaft. Ähnlich äußerte sich auch NICOLAS OFFENSTADT (Paris), für den die Historische Anthropologie mehr als nur ein epistemologisches Moment sei. Er schlug vor, sich an den Forschungsansätzen der hidden discourse oder subaltern studies zu orientieren. Anknüpfungspunkte sehe er auch bei Latour, dessen „Werkzeugkasten“ für die Historische Anthropologie offen stehe.

In der zweiten Sektion befassten sich die Referenten und Referentinnen mit dem Gegensatzpaar „ordinaire/extraordinaire“. In seiner Einführung legte GIL BARTHOLEYNS (Brüssel, Oxford) Wert auf den Ausnahmecharakter der historischen Produktion und Überlieferung. Quellendokumente entstünden nur in Krisenzeiten, und nur die Diskontinuität schaffe das singuläre Ereignis. In den Vorträgen wurde diesem Phänomen nachgegangen: MILTON MAZETTO (Sao Paolo) untersuchte in anthropologischer Perspektive den Platz der königlichen Rede (sermo regis) als Vermittler in der merowingischen Rechtsprechung. In ihrem Vortrag über Häresiographie unterstrich BENEDICTE GIRAULT (Paris) die Möglichkeit, ausgehend von einem einzelnen Ereignis bis zur Ausarbeitung der ersten Katechismen ein neues soziales Feld zu erschließen. Ähnlich argumentierte auch PAULINE LABEY (Paris) in ihrem Vortrag über die Geschichte der Kranken. Nicht nur der einzelne Kranke sei von Interesse, sondern die kollektiven Normen der Exklusion und Inklusion, die einen diskursanalytischen und anthropologischen Diskurs der Gesellschaft über den Kranken bilden. Ebenfalls um das Paar „ordinaire/extraordinaire“ drehte sich der Vortrag von TATIANA SILEC (Paris) über das Verhältnis zwischen Hofnarren und König in der englischen Gesellschaft des Mittelalters und der Renaissance. Ihr Vortrag verband die Analyse von zeitgenössischer Literatur sowie Miniaturen aus Handschriften und den Ansatz der „symbolischen Anthropologie“ um die Wandlung der Rolle des Hofnarren als Ergebnis kognitiver Prozesse, die nicht nur ihre Kultur widerspiegeln sondern diese auch gleichzeitig schaffen, herauszuarbeiten.

Die Diskutanten JACQUES BERLIOZ (Paris) und JEAN-PIERRE ALBERT (Paris) unterstrichen in ihren Kommentaren die Rückkehr des Singulären und des Individuums. In der weiteren Diskussion führte JEAN-CLAUDE SCHMITT (Paris) aus, dass sich die Historische Anthropologie mit Hilfe der Ethnologie Individuen besser annähern könne. Er warf die Frage auf, ob das Außergewöhnliche in der mittelalterlichen Gesellschaft existiere, oder sich im Gegenteil in einen eschatologischen Heilsplan einfüge, der somit das Gewöhnliche verarbeiten könne.

Die dritte Sektion beschäftigte sich mit der materiellen Kultur und dem Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Archäologie. In seinem Eingangsvortrag ging BLAISE DUFAL (Paris / Oxford) auf die diametral unterschiedlichen Plätze der Archäologie in der Geschichtswissenschaft ein. Während für Foucault die Archäologie eine historische Archäologie sei, sähe dies bei der disziplinären Einteilung in den Universitäten anders aus: In England gäbe es eine gleichwertige Nähe zwischen Archäologie und Geschichte, wohingegen der Unterschied in Frankreich besonders stark sei: hier sei die Archäologie bei der Kunstgeschichte angesiedelt, als bloße Hilfswissenschaft, die sich um die materiellen Reste kümmern solle, statt sich in die linguistischen und diskursiven Diskussionen der Geschichtswissenschaft einzuschalten, um sich aus jener Position zu befreien, der sie seit Levi-Strauss und Durckheim zugeordnet wurde.

MATHIAS DUPUIS (Paris) begann seinen Vortrag mit dem Verweis auf Jacques LeGoffs Forderung, dass die „histoire totale“ alle Arten von Dokumenten der Vergangenheit, also auch die archäologischen, einbeziehen müsse. Er unterstrich, dass für Alltags- und Wirtschaftsgeschichte die Archäologie bessere Quellen liefern könne als die schriftlichen Dokumente. Ähnlich argumentierte auch DAVID MOREL (Clermont-Ferrand). Er stellte den Beitrag der Baugeschichte im französischen Massif central zur Sozial- und Alltagsgeschichte vor. Für ihn besitzen nicht nur die verwendeten Techniken einen identitätsbildenden Charakter, sondern auch der Bau selber sei eine mentale Aneignung der sozialen Umwelt. Der Kommentator JEAN CHAPELOT (Paris) ermunterte die Mittelalter-Archäologen, für eine Erneuerung der Disziplin unbedingt auf die Anwendung historischer Fragestellungen und die Zusammenarbeit mit Historikern einzugehen, nicht nur bei der Feldforschung, sondern auch innerhalb der Universitäten. Etwas aus diesem archäologischen Rahmen fiel der letzte Vortrag dieser Sektion von PHILIPPE CORDEZ (Paris, Hamburg). Er ging der Frage nach, inwiefern Objekte und Historiker miteinander in Verbindung treten. Während der Historiker zwischen der Rationalität und Irrationalität wandle, müsse er in Betracht ziehen, dass das „Objekt“ an sich erst seit dem 14. Jahrhundert existiere.

Der Kommentator JEAN-PIERRE ALBERT schloss hier mit der Frage an, ob die Archäologie als Disziplin der materiellen Kultur nicht auch die Objekte des Alltags einbeziehen müsse; auch solche, die nicht aus der Erde ausgegraben worden seien. JEAN-CLAUDE SCHMITT merkte an, dass heute nicht das Objekt erforscht werde, sondern der Historiker sein Objekt bestimme. Auch der Begriff der materiellen Kultur sei zu beschränkt für die Archäologie. Als Gegenbeispiel führte er die polnische Nationalgeschichtschreibung an, die sich auf Grund der fehlenden schriftlichen Überlieferung fast ausschließlich auf archäologische Quellen stützen müsse.

In der letzten Sektion wurde der Frage nach einer historischen Anthropologie der Bilder nachgegangen. Im Eingangsvortrag stellte ELISA BRILLI (Paris / Rom) fest, dass mit der Geschichte der Repräsentationen automatisch die Geschichte der visuellen und materiellen Bilder gemeint sei, auch wenn sich die mentalen Bilder über die materiellen Bilder legen würden. Doch während sich die Studien über Bilder und Darstellungen vermehren, werde das Literarische an den Rand gedrängt. Dagegen versuchte MAUD PEREZ-SIMON (Paris) in ihrem Vortrag, die schriftliche Tradition mit der bildlichen zu verbinden, in dem sie literarische Stilelemente auf mittelalterliche Miniaturen aus Handschriften anwendete. Am Beispiel des Alexanderromans konnte sie diese Rhetorik der Bilder illustrieren, die es dem Leser erlaubt hätte, den Bildern und Szenen in allen seinen visuell-narrativen Details zu folgen.

Theoretische und historiographische Gedanken spielten beim Vortrag von CECILE VOYER (Bordeaux) eine große Rolle. Von Aby Warburg ausgehend bis hin zu Werner Boas zeichnete sie die Verbindungen zwischen Kunstgeschichte und Anthropologie nach sowie die Kunstkonzepte der Anthropologen. Denn jedes symbolische Verständnis der Bilder beruhe auf einem anthropologischen Konzept, dessen Erarbeitung der Kunstgeschichte beim Verständnis der Bilder weiterhelfen könne. Im letzten Vortrag des Tages betonte THOMAS GOLSENNE (Aix), dass der Historiker einen neuen Blick auf die Bilder brauche. Er meine damit nicht nur das materielle Bild an sich und seine Rezeption, sondern die Repräsentation des Bildes, seine ganze mentale Struktur. Die materielle Ausarbeitung des Bildes habe eine abstrakte Bedeutung. Für ein besseres Verständnis der Bilder schlug er eine erweiterte Geschichte vor, die auch den Ausdruck der Künstler in all seinem „Werken“ miteinbeziehe.

In der folgenden Diskussion hob ETIENNE ANHEIM (Saint-Quentin-en-Yvelines) hervor, dass es für den historischen Anthropologen immer schwierig sei, mit Bildern zu arbeiten. Dennoch müsse man eine Methode erarbeiten, wie man die Rhetorik der Bilder und das, was sie darstellen, erfassen könne. Für die Historische Anthropologie müsse sich daraus ganz natürlich ergeben, dass die Grenzen zwischen sozialer und kultureller Praxis und Darstellung verschwimmen. SCHMITT unterstrich das Primat der Sprache, auch bei der Arbeit mit Darstellungen. Hier stelle sich für den Historiker die Frage, wie man mit linguistischer Analyse an die Bilder und Darstellungen herankomme, vor allem im Rahmen einer Mikroanalyse.

Die abschließenden Worte von JEAN-CLAUDE SCHMITT kamen auf die Vorträge der letzten zwei Tage zurück und wagten einen Ausblick auf die Zukunft. In der Optik einer „histoire totale“ sei es erstrebenswert, Forschungsthemen mit Hilfe der Archäologie und Linguistik neu zu besetzen, ohne dabei die klassischen anthropologischen Themen wie Verwandtschaft, Rituale und Mythen zu vernachlässigen. Das Mittelalter eigne sich besonders für einen anthropologischen Blick, denn es sei eine „totale“ Welt, deren Zusammenhänge und Strukturen nur durch die historische Anthropologie aufzudecken seien. Aber auch andere Neuerungen müssten berücksichtigt werden, wie die Historizität älterer Arbeiten.

Zum Schluss lässt sich feststellen, dass in den Vorträgen und Diskussionen klar geworden ist, dass trotz der „Totengräberstimmung“ zu Beginn der Tagung die Fragen, die die Historische Anthropologie an die Geschichte und ans Mittelalter im Besonderen stellt, noch immer aktuell sind. Auch dreißig Jahren nach Gründung des GAHOM an der EHESS mangelt es dem Arbeitsbereich nicht an interessanten Forschungsperspektiven. Die Anzahl der Besucher (circa 120 Teilnehmer trotz eines Wochenendtermins, darunter auch Forscher anderer Pariser Institutionen) bestätigte das große Interesse. Vor allem dank der ständigen Aufmerksamkeit der Organisatoren war es möglich, mit unterschiedlichen Vertretern und Vertreterinnen der Forschung in einer freundlichen Atmosphäre und trotz einer babylonischen Sprachvielfalt bis über die simple Tagung hinaus das dichte Programm und die hohe Qualität der Beiträge aufzunehmen. Die Vorträge liegen teilweise in elektronischer Form vor und können erfragt werden unter <anthropologie.historique@hotmail.com>. Eine Veröffentlichung als Tagungsband ist geplant.

Konferenzübersicht:

Sektion 1:
QUELLE ANTHROPOLOGIE POUR LE MOYEN ÂGE ?

Einführung : P.-O. DITTMAR (EHESS)
Du comparatisme pour l'anthropologie historique ?

M. HAR-PELED (EHESS / Johns Hopkins University)
Décoloniser l'histoire occidentale

F. COSTE (Université de Bourgogne)
Vers une étude symétrique du Moyen Âge

C. MAILLET (EHESS)
A quelle anthropologie de la parenté se réfèrent les historiens ?

E.H. AUBERT (EHESS)
Une ethno-musicologie historique du Moyen Âge est-elle souhaitable ?

Diskutanten: A. BOUREAU (EHESS), N. OFFENSTADT (Paris I).

Sektion 2:
COMMENT ARTICULER ORDINAIRE ET EXTRAORDINAIRE ?

Einführung: G. BARTHOLEYNS (Université Libre de Bruxelles / Université d'Oxford)
L'histoire comme art de la crise

M. MAZETTO (Université de Sao Paolo)
Le sermo regis: pouvoir royal et règlement de conflits à l'époque mérovingienne

B. GIRAULT (EHESS)
Discours théologique et espace social : un cas d'hérésiologie

T. SILEC (Paris IV)
Le fou et son roi dans l'iconographie médiévale : portrait d'une
relation singulière

P. LABEY (EHESS)
Écrire une histoire du malade

Diskutanten: J.-P. ALBERT (EHESS), J. BERLIOZ (EHESS / ENC).

Sektion 3:
LA CULTURE MATERIELLE ENTRE ARCHEOLOGIE ET HISTOIRE

Einführung: B. DUFAL (EHESS - Maison française d'Oxford)
Archéologie et sciences sociales : retour sur un malentendu

M. DUPUIS (Paris X)
Réflexions sur la définition et le rôle de la documentation archéologique

D. MOREL (Université de Clermont Ferrand)
Archéologie du bâti et anthropologie

P. CORDEZ (EHESS / Universität Hamburg)
L'historien, les objets et l'anthropologie

Discutants: F. JOULIAN (EHESS), J. CHAPELOT (CNRS).

Sektion 4:
DE L'HISTOIRE DES REPRESENTATIONS A L'ANTHROPOLOGIE DE L'IMAGE ?

Einführung: E. BRILLI (EHESS / La Sapienza, Roma)
L'essor de l'image et l'éclipse du littéraire : quelques réflexions sur les pratiques de l'histoire des représentations

M. SIMON (Paris III):
Une rhétorique de l'image ?

C. VOYER (Université de Bordeaux)
Histoire de l'art et anthropologie ou la définition complexe d'un champ
d'étude

T. GOLSENNE (Université de Provence)
L'image contre l'oeuvre d'art, tout contre

Diskutanten: J.-Cl. SCHMITT (EHESS), E. ANHEIM (Université de
Versailles-Saint-Quentin-en-Yvelines).