Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945

Organisatoren
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.12.2008 - 20.12.2008
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Von
Michael Busch, Friedrich-Schiller-Universität Jena

In jeder Gesellschaft – in vergangenen wie gegenwärtigen – werden individuelle Erinnerungen an vergangene Ereignisse von denen weitergegeben, die „dabei“ gewesen sind. Und es gibt ein Bedürfnis derer, die abwesend waren, zuzuhören und Sinn daraus zu ziehen. Was macht eine solche Tradierung subjektiver Erfahrungen zu einer Erzählung, die heute unter das Label der „Zeitzeugenschaft“ gestellt wird? Wie wandelten sich Aufgaben und Funktionen des Zeitzeugen?1 Und was bedeutet die Deutungsmacht seiner Erinnerung für die Zeitgeschichtsforschung? Antworten auf diese Fragen suchten die Teilnehmer der interdisziplinären Tagung „Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945“ zu geben. Die Geburtsmetapher des Titels begründete dabei gleichsam die Ausgangsthese der Tagung: Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust habe die Figur des Zeitzeugen hervorgebracht.

MARTIN SABROW (Potsdam) verwies in seinem Eröffnungsvortrag auf die verbindende Funktion des Zeitzeugen, welcher zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelt: Durch den Zeitzeugen findet die Jetztzeit unmittelbaren Zugang zum Vergangenen. Seine Erinnerungen müssen jedoch in den Werthorizont der Gegenwart eingepasst werden. Zudem verbindet der Zeitzeuge den kathartischen, auf Distanzierung bedachten Grundzug historischen Denkens mit dem auratischen, Unmittelbarkeit vermittelnden Grundzug. Im Zeitzeugen löst sich daher der Widerspruch zwischen Sehnsucht nach und Distanzierung zur Vergangenheit auf. Sabrow konstatierte einen Rollenwechsel des Zeitzeugen während der letzten dreißig Jahre: Vormals Medium einer demokratischen Gegenerzählung tritt er heute als Figur auf, die die einstige Gegenerzählung nur noch affirmativ bestätigt.

Über die Sammlung des sogenannten Zeugenschrifttums am Institut für Zeitgeschichte (vom Jahr 1953 an), so SYBILLE STEINBACHER (Jena), versuchte eine jüngere Generation von Zeitgeschichtsforschern, die Entscheidungsprozesse des NS-Staates durch Interviews ehemaliger Funktionsträger nachzuvollziehen. Im Ausblenden der Opferperspektive und dem Versuch, „sachliche“ und „objektive“ Wissenschaft zu betreiben, zeigt sich jedoch kein antijüdisches Ressentiment, sondern vielmehr eine Überforderung im Umgang mit dem Holocaust.

Durch die Zeugenaussagen im Eichmann-Prozess durchliefen die Kenntnisse über die Shoah in der israelischen Öffentlichkeit einen Transitionsprozess von der Information, in Wissen und später in Bewusstsein, wie HANNA YABLONKA (Beer Sheva) ausführte. Die mediale Verbreitung hat zu öffentlichen Diskussionen geführt und bedeutsame Folgen nach sich gezogen: Erstens sind die Überlebenden als Opfer und als integraler Teil der israelischen Gesellschaft anerkannt worden. Die Shoah hat zweitens die Bedeutung einer nationalen Katastrophe erhalten und bildet die Grundlage der israelischen kollektiven Identität.

Am italienischen Resistenza-Paradigma zeigte FILIPPO FOCARDI (Padua), wie sich Deutungshoheiten im Vergangenheitsdiskurs auf die Auswahl bestimmter Zeitzeugengruppen auswirken. Die Umdeutung des vormaligen italienischen Gründungsmythos hat nach 1968 zu sozialgeschichtlichen Fragestellungen und der Analyse vermehrt mündlicher Zeugnisse geführt. Die Infragestellung des Resistenza-Paradigmas durch die Regierungen des rechten Flügels seit 1994 führt nun auch zur Anerkennung von Zeitzeugen mit ehemals faschistischem Hintergrund.

DIETMAR SÜSS (Jena) stellte „Mass-Observation“ vor, ein ambitioniertes, außerakademisches Projekt zur Analyse von Verhältnissen und Handlungsmustern der Arbeiterklasse im Großbritannien der 1930er- und 1940er-Jahre. Diese freiwillige Beobachtung, der zeitweise bis zu 5.000 Mitwirkende angehörten, hat schon vor 1945 eine „soziale Praxis der Zeitzeugenschaft“ hervorgebracht. Die Autorität dieser Berichte ist nach 1945 für die Etablierung der britischen Zeitgeschichtsforschung bedeutsam geworden.

LUTZ NIETHAMMER (Jena) verwies in seinem Kommentar auf das unterschiedliche Begriffsverständnis des Begriffs „Zeitzeuge“. Er verband dies mit einer grundlegenden Kritik des Begriffs, der sich für eine wissenschaftliche Verwendung nur wenig eignet. Zudem werden an der Diskussion Deutungskonkurrenzen zwischen Wissenschaft und Medien für die Bearbeitung der Zeitgeschichte sichtbar. DETLEV CLAUSSEN (Hannover) hob hingegen die Bedeutung des Zeitzeugen für den jeweiligen Zeitkontext hervor. In seiner Formierungsphase hat er durchaus einen aufklärerischen Impuls transportiert. In der heutigen emotionalen Aufbereitung steht die Figur jedoch für Pragmatismus und Entideologisierung eines theoriefernen Zeitverständnisses.

Die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ stand im Mittelpunkt von JUDITH KEILBACHs (Utrecht) Vortrag. Für die Formierungsphase des Zeitzeugen bildet die Ausstrahlung des Vierteilers eine Zäsur, jedoch nicht den Auslöser für seine Entstehung. Schon vorher hat es zahlreiche Sammlungen von Überlebendenzeugnissen gegeben. Medienhistorisch hat der Eichmann-Prozess nachhaltiger gewirkt, da mit ihm eine spezifische Form der Thematisierung des Holocaust im Fernsehen begann: Über die Schilderung persönlich erlittenen Leids ist der Zuschauer affizierbar. Ferner ist die Veränderung der Medientechnik – Tonband, Kamera, Videorekorder – für die Entwicklung des Zeitzeugen hervorzuheben.

HANNO LOEWY (Hohenems) untersuchte, wie die Figur des Überlebenden in fiktionalen Narrativen filmischer Produktionen eingebunden wurde. In den späten 1940er- und 1950er- Jahren liegt häufig das Muster des moralisch siegreichen Abenteuers zugrunde, teils eingebunden in die auftretende Systemkonkurrenz. In den 1960er-Jahren erkannte Loewy eine Neudefinition des Überlebenden: Dieser übernahm die Rolle des Zeugen für die „Untergegangenen“ (Levi), doch zeigten seine Auftritte auch moralische Ambivalenzen; er wurde als Problem dargestellt. Diese Fantasie tritt noch in heutigen populären Produktionen auf, auch wenn die Plotstrukturen sich weiterhin veränderten.

DOROTHEE WIERLING (Hamburg) betonte die Unterschiede zwischen dem Zeitzeugen und dem Interviewpartner der Oral History. Der Zeitzeuge wird ausgewählt, um den definierten Deutungsrahmen eines Beitrags zu beglaubigen: Er ermöglicht einen empathischen Zugang zu einer eindeutigen Erzählung, die kollektiv sinnstiftend wirkt. Die Oral History, so Wierling, zielt demgegenüber auf die Mehrdeutigkeit und die Widersprüchlichkeit individueller Erinnerung. Eine Gefahr im letztendlichen Umgang besteht für beide Erzählformen: Für den Zeitzeugen, dessen Bericht angepasst und beschnitten wird – für den Interviewpartner, dessen offenbarte Subjektivität als historische Erkenntnis formuliert am Ende gegen ihn verwendet werden kann.

WOLF KAISER (Berlin) hob die Brückenfunktion für einen Einsatz von Zeitzeugen in der Geschichtspädagogik hervor: Sie befördern durch Kognition und Emotion gleichermaßen Einsichten über historische Vorgänge und deren Folgen. Nötig seien jedoch vorherige Kenntnisse über die Vergangenheit, um das Gesagte zu kontextualisieren, sowie eine empathische Haltung, die ein ausreichendes Vorstellungsvermögen gestatte.

In seinem Kommentar betrachtete CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam) vier Problemkomplexe: 1) Im Zeitzeugen verschmilzt die kognitive mit der emotionalen Dimension, was in medialen Aufmerksamkeitsökonomien bedeutsam ist. 2) Er wird je nach öffentlichem Zugang verschieden geprägt. 3) In seiner Darstellung dominiert gegenwärtig der empathische Opferbegriff. 4) Es besteht ein Forschungsdesiderat zu seiner Rezeption. Auch CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) schlug verschiedene Dimensionen für die Abgrenzung des Zeitzeugen vor: 1) Epistemologie: Generiert der Zeitzeuge Wissen oder erfüllt er zunehmend andere Bedürfnisse, wie auratische Legitimation? Welche Rolle spielen die technischen Arrangements? 2) Performanz: Die Vorträge hätten unterschiedliche performative Typen mit verschiedenen öffentlichen Bezügen gezeigt. 3) Empathie: Welches Verhältnis besteht zwischen Publikum und Zeitzeugen? Welche Kommunikationsakte dominieren?

In der Diskussion wurden zwei Punkte besonders hervorgehoben: 1) Die Standardisierung von Aussagen: Die Serie „Holocaust“ führte zu einer Angleichung, da sich viele Überlebendeninterviews an der konsistenten Persönlichkeit des dargestellten Überlebenden im Film orientierten (Kugelmann). Die technische Entwicklung trüge ebenfalls zur Angleichung bei: Unterschiedliche Aufnahmemodi generieren unterschiedliche Formen von Aussagen (Keilbach). 2) Die Sinngebungsfunktion des Zeitzeugen: Die Sinngebung liegt allein bei den Mittelinstanzen (Niethammer). Für den Holocaust sei faktisch kaum Neues zu bezeugen, die Folge wären Steigerungseffekte. Doch befriedigt der Zeitzeuge auch ein Bedürfnis nach Emotion auf der Rezipientenseite, das durchaus ernst zu nehmen ist (Wierling).

Anhand von Beispielen geschichtsbezogener Sendeformate der ZDF-Redaktion Zeitgeschichte verdeutlichte WULF KANTSTEINER (Binghamton/Jena) die zeitlich abgrenzbaren, unterschiedlich medialen Einbindungsformen des Zeitzeugen. Authentizitätssuggestion wird bereits seit den 1960er- und 1970er-Jahren eingesetzt, ohne jedoch die Deutungsmacht des Interviewpartners signifikant zu beschneiden. Seit Ende der 1990er-Jahre beglaubigt der Zeitzeuge – visuell anonymisiert und austauschbar – überwiegend den Kommentar. Dies hat erheblichen Einfluss auf die transportierte Wertung; Täter- und Opferperspektiven vermischten sich visuell. Dieser Wandel ist eingebunden in einen grundlegenden medialen Umbruch, der sich in den geschichtsbezogenen Produktionen zugunsten des Transports von visuell-atmosphärischen Stimmungsbildern auswirkt.

HEIDEMARIE UHL (Wien) kontextualisierte in ihrem Vortrag den Bedeutungswandel von Zeitzeugenschaft mit den jeweiligen – generational verschiedenen – Vorstellungen von Gesellschaft und den damit verknüpften Erinnerungsbedürfnissen. In den 1970er-Jahren hat das Widerstandsmotiv der Zeitzeugen einerseits als Gegenerzählung zur Verharmlosung von Nationalsozialismus und Holocaust gewirkt. Andererseits sind damit ideologische und sozialstrukturelle Segmentierungen narrativ verbunden worden. Die auratische Aufladung der Erzählungen seit Ende der 1980er-Jahre richtet sich demgegenüber allein auf den empathischen Nachvollzug der Opferschaft und enthält die Imagination einer postnationalen und entideologisierten Gesellschaft. Der jeweilige performative Rahmen, der bestimmte Präsentationsformen und Erzählstrukturen hervorbringt, wird aber in jedem Fall von den Mittelinstanzen hergestellt.

DARIUSZ STOLA (Warschau) verglich den Stellenwert von Zeugnissen anhand zweier polnischer Diskussionen über die Vergangenheit. So hätte die Veröffentlichung von Zeugnissen den polnischen Konsens über Holocaust und deutsche Okkupation seit den 1990er-Jahren aufgebrochen. Der Akt des Bezeugens, so Stola, erhält damit gegenüber zeitlichen und räumlichen Veränderungen Bestand und verpflichtet dazu, öffentliche Wirksamkeit herzustellen. In den Diskussionen über die kommunistische Vergangenheit herrscht hingegen eine Konstellation, in der die Akten des ehemaligen „Ministeriums für öffentliche Sicherheit“ den Einfluss von Zeugen in der öffentlichen Diskussion unterminierten.

JOSÉ BRUNNER (Tel Aviv) wies auf einen Wandel in der Betrachtung Holocaust-Überlebender hin. Seit den 1960er-Jahren werden die Charakteristika ihrer Sprechakte als Symptome einer chronischen Traumatisierung gedeutet: Geschichte wurde so als Ursache einer traumatischen Störung anerkannt und der Zeuge „medikalisiert“. Als Folge verwischten die Grenzen gesellschaftlicher Sphären. Der Therapeut wird zum Zeugen des Leides von Unrecht und Gewalt. Der Gerichtssaal hingegen wird zum Ort der Therapie, das Bezeugen zu einem Teil der Heilung. Diese Überschneidungen interpretierte Brunner als Ratlosigkeit im Umgang mit den Überlebenden: Für sie gibt es weder wirkliche Gerechtigkeit noch wirkliche Heilung.

RAINER GRIES (Jena) blickte in seinem Kommentar auf zwei Aspekte der Rezeption des Zeitzeugen: 1) Die Authentizitätsfunktion: Beim Publikum existiert ein Bedürfnis nach der Wahrnehmung von Authentizität, die gegenwärtig über den biographischen Gehalt einer Produktion transportiert wird. 2) Die „Passivität“ des Zeitzeugen: Über das Internet emanzipiert sich der Zeitzeuge zunehmend von seinen einstigen Mittlerinstanzen und wird selbst aktiv. JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena) hob anhand des Umgangs mit der kommunistischen Vergangenheit hervor, dass das Verhältnis zwischen massenmedial vermittelter Zeitzeugenschaft und den Wertmaßstäben der Gegenwart nochmals überdacht werden sollte.

MOSHE ZIMMERMANN (Jerusalem) wies in der abschließenden Podiumsdiskussion auf den eindeutig deutschen Bezug des Themas hin. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zeitzeugen erscheint problematisch, da er medialen Hierarchisierungs- und Repräsentationsmechanismen unterworfen ist.

Unterschiedliche Phasen von Zeitzeugenschaft skizzierte IRINA SCHERBAKOVA (Moskau) für die ehemalige Sowjetunion und den postsowjetischen Raum. Vom Jahr 1956 an ist eine Vielzahl von persönlichen Erfahrungsgeschichten über das Leben in den Gulags entstanden. Nach der Amtszeit Chruschtschovs ist jedoch anstelle der Gulag-Erfahrung der Veteran als dominantes Zeugenbild installiert worden. Erst „Glasnost“ hat eine erneute Beschäftigung mit der individuellen Biographie ermöglicht, ohne diese jedoch professionell aufzuarbeiten. Seit Mitte der 1990er-Jahre herrscht im postsowjetischen Raum ein „Krieg der Erinnerungen“, in dem ältere mythologisierte Muster mit neuen Narrativen verknüpft werden.

SILKE SATJUKOW (Jena) führte aus, wie der Zeitzeuge frühzeitig von den Machthabern in SBZ und DDR für zentrale Vermittlungsaufgaben eingesetzt wurde. Die transportierten Inhalte sollten nicht nur die Gründung eines neuen Staates legitimieren. Beide Zeitzeugentypen – der antifaschistische Widerstandskämpfer und der sowjetische Soldat – sollten zugleich die Vielen von ihrer eigenen Schuld entlasten. Die mobilisierenden Zeugnisse haben anhand des persönlichen Schicksals emotionalisiert und dabei den marxistisch-leninistischen Offizialdiskurs transportiert. Seit den 1970er-Jahren haben die Zeitzeugen ihre emotionale Bindungskraft eingebüßt.

CILLY KUGELMANN (Berlin) ging der Frage nach, wie die moralische Zukunftsmission der Überlebenden nach deren Tod weitergetragen werde könne. Das Museum bietet diese Schnittstelle; das Zeitzeugeninterview kann als Exponat diese Funktion übernehmen. Ein neues Format von Zeitzeugenschaft erblickte Kugelmann im Zeichentrickfilm, dessen stilistische und visuelle Möglichkeiten einen ähnlichen emotionalen Zugang ermöglichen, wie es in den 1960er- und 1970er-Jahren den Zeitzeugen selbst gelang.

In seinem abschließenden Fazit hob NORBERT FREI (Jena) nochmals den Entstehungskontext von Zeitzeugenschaft hervor: Das Phänomen des Zeitzeugen entstand aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. In der frühen Bundesrepublik hat jedoch auch die Erfahrung von Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung Bedeutung erhalten und Einfluss genommen auf das Interesse am Zeitzeugen und auf dessen Berichte. Auch zukünftig lohnt sich ein Blick auf dieses Kulturphänomen. So muss seine Rezeption untersucht werden sowie die kommerziellen Verwertungsinteressen, die hinter seinem medialen Auftritt stehen.

Was also macht den Zeitzeugen aus? Das Phänomen der Zeitzeugenschaft definiert sich über ein wechselseitiges Verhältnis von Berichtenden und Öffentlichkeit. Der Zeitzeuge geht auf ein öffentliches Interesse ein, dass seiner persönlichen Erinnerung am Vergangenen entgegengebracht wird. Einblicke in seine Erfahrungswelt gewährt er eigenständig; in der Mehrheit werden sie jedoch vermittelt transportiert. Dabei variieren die Modi von Öffentlichkeit wie auch die Formen der Präsentation: Der Zeitzeuge ist stets unterschiedlich gerahmt. Sein öffentlicher „Auftritt“ ist bestimmt durch jeweils verschiedene Performanzstrukturen, die sowohl seine Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit beeinflussen als auch die Art des transportierten Wissens. Im Zeitzeugen findet nicht nur die Gegenwart die Suggestion des unmittelbaren Zugangs zur Vergangenheit. In seinem Auftreten als Person findet sich zugleich die Verkörperung des eigenen Narrativs: Kognitive und sinnliche Elemente werden miteinander verknüpft. Diese Fähigkeit zur Affizierung der Rezipienten bindet Zeitzeugenschaft untrennbar an den Auf- und Ausbau der Mediengesellschaft. Der jeweilige Sinn jedoch – ob eigenständig oder vermittelt transportiert – bleibt abhängig von Vergangenheitsdiskursen und Erinnerungsbedürfnissen. Für den (alt-)bundesrepublikanischen Hintergrund kristallisierten sich auf der Tagung vier Phasen von Zeitzeugenschaft heraus: erstens eine Formierungsphase von 1945 bis in die 1960er-Jahre, zweitens die Phase der Anerkennung und Durchsetzung des Zeitzeugen in den 1970er- und 1980er-Jahren, drittens die Phase seiner medialen Dominanz im Geschichtsdiskurs während der 1990er-Jahre und viertens eine gegenwärtig beginnende Emanzipation des Zeitzeugen, der sich mit Hilfe der neuen Medien von den Mittlerinstanzen Wissenschaft und Publizistik löst.

Konferenzübersicht:

Eröffnung

Martin Sabrow (Potsdam)
Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten

I. Zeitzeugenschaft und "Vergangenheitsbewältigung" in der Nachkriegszeit

Moderation: Thomas Schaarschmidt (Potsdam)

Sybille Steinbacher (Jena)
Zeitzeugenschaft und die Etablierung der Zeitgeschichte in der Bundesrepublik

Hanna Yablonka (Beer Sheva)
Nazi Era Trials and Survivors of the Holocaust in Israel

Filippo Focardi (Padua)
The Rise and Fall of a Paradigm: Contemporary Witnesses and the Resistenza in Italy

Dietmar Süß (Jena)
Zeitzeugenschaft als soziale Bewegung. "Mass-Observation" und britische Zeitgeschichte

Kommentar: Lutz Niethammer (Jena) / Detlev Claussen (Hannover)

II. Zeitzeugenschaft und die Medialisierung der Erinnerung seit „Holocaust“

Moderation: Andrea Genest (Potsdam)

Judith Keilbach (Utrecht)
Die Rezeption des Films „Holocaust“ und die Rolle des Zeitzeugen in internationaler Perspektive

Hanno Loewy (Hohenems)
Zweideutige Zeugen? Die Überlebenden als Autorität und Abgrund zwischen "Shoah" und "Schindler's List"

Dorothee Wierling (Hamburg)
Zeitzeugenschaft und Oral History

Wolf Kaiser (Berlin)
Der Zeitzeuge in der Geschichtspädagogik

Kommentar: Christoph Classen (Potsdam) / Constantin Goschler (Bochum)

III. Zeitzeugenschaft im Zeitalter der entgrenzten Erinnerung

Moderation: Axel Doßmann (Jena)

Wulf Kantsteiner (Binghamton/Jena)
Der Zeitzeuge als Medienereignis: Inszenierung und publizistische Personalisierung

Heidemarie Uhl (Wien)
Generationelle Erinnerungskonkurrenzen im ausgehenden 20. Jahrhundert

Dariusz Stola (Warschau)
Competing Memories in Poland

José Brunner (Tel Aviv)
Die Medikalisierung des Zeitzeugen. Politische Gewalt, Erinnerung und Trauma

Kommentar: Rainer Gries (Jena) / Joachim von Puttkamer (Jena)

IV. Zeitzeugenschaft und die Kulturen der Erinnerung
Gesprächsleitung: Norbert Frei (Jena)
Es diskutierten: Moshe Zimmermann (Jerusalem), Irina Scherbakova (Moskau), Silke Satjukow (Jena), Cilly Kugelmann (Berlin)

Anmerkung:
1 „Zeitzeuge“ wird im Folgenden geschlechtsneutral verwendet.


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