Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit

Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Arbeitskreis für die Vormoderne in der Erziehungsgeschichte“ (AVE); Juliane Jacobi, Potsdam; Jean-Luc Le Cam, Brest; Hans Ulrich Musolff, Bielefeld
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.03.2009 - 13.03.2009
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Von
Anne Conrad, Institut für Katholische Theologie, Universität des Saarlandes Saarbrücken

Die Frage danach, wie weit Bildungswege in der Frühen Neuzeit einerseits normiert und durch soziale Erwartungen vorgegeben und beschränkt waren, wie weit es andererseits möglich (oder gar selbstverständlich?) war, sich über vorgegebene Raster hinwegzusetzen, und welche Konsequenzen dies schließlich für die Identitätsfindung und Subjektkonstitution frühneuzeitlicher Menschen haben konnte, waren Themen der 12. internationalen und interdisziplinären Tagung des „Arbeitskreises für die Vormoderne in der Erziehungsgeschichte“ (AVE), die, organisiert von Juliane Jacobi (Potsdam), Jean-Luc Le Cam (Brest) und Hans Ulrich Musolff (Bielefeld) und gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung, im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld stattfand.

Ausgangpunkt war die Überlegung, dass in der Vormoderne die Bildungsmöglichkeiten wesentlich durch Stand, Religion und Geschlecht bestimmt waren, dass zugleich aber auch eine Vielzahl an Alternativen dem „normalen“ Bildungsweg entgegenstand. Leitfragen der Vorträge waren daher, inwiefern sich in diesen Alternativen die kulturellen Differenzierungen der frühneuzeitlichen Gesellschaft widerspiegeln, und wie das Verhältnis von sozialer Erwartung und Zwang einerseits und offener oder subversiver Normüberschreitung andererseits einzuordnen und zu bewerten ist. Die Beiträge der Tagung widmeten sich diesen Fragen aus unterschiedlicher Perspektive. Allen gemeinsam war der analytische Blick auf „Selbst- und Fremdzeugnisse“ als zentralem Quellenmaterial und die Überlegung, wie weit individuelle Bildungswege als exemplarische Biographien zu sehen und im weiteren Horizont der frühneuzeitlichen Gesellschaft zu verorten sind. Als heuristisches Leitmotiv fungierte das von WILLEM FRIJHOFF (Amsterdam) für die Erforschung individueller Bildungsprozesse in der Frühen Neuzeit vorgeschlagene Konzept der „Seitenwege“. Gemeint sind damit Bildungs- und Entwicklungswege, die persönliche („autonome“) Identitäten konstituieren, und zwar jenseits und/oder unabhängig von vorgegebenen Pfaden, aber ohne die bestehenden Strukturen und Normen grundsätzlich in Frage zu stellen.

Im Anschluss an einen Grundsatzvortrag von FRIJHOFF, in dem dieser sein Konzept an einem Fallbeispiel erläuterte, gliederten sich die Tagungsbeiträge in sechs Sektionen, die methodisch und inhaltlich recht unterschiedliche Zugänge markierten. Unter der geographischen Kategorie „Frankreich“ referierten SERGE TOMAMICHEL (Lyon) über die intendierten und tatsächlichen Bildungswege der savoyardischen Stipendiaten am 1545 gegründeten und bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts einflussreichen Collège de Savoie in Löwen, DOMINIQUE PICCO (Bordeaux) über die Resonanz der Mädchenbildung in Saint-Cyr und PASCALE MORMICHE (Versailles) über die Erziehung des Prinzen Louis III de Bourbon-Condé in den 1680er-Jahren.

In der Sektion „Individualbiographien und Probleme ihrer Auswertung“ stellte MICHAELA BILL-MRZIGLOD (Saarbrücken) Luisa de Carvajal (1566-1614) vor, eine an der Spiritualität und Pädagogik der Jesuiten orientierte Spanierin, deren Bildungsgang durch Selbst- und Fremdbeschreibungen gut dokumentiert ist. EVA KORMANN (Karlsruhe) und HANS RUDOLF VELTEN (Berlin) legten dann den Akzent vor allem auf die methodischen Fragen, die sich bei der Auswertung von Autobiographien als literarischen, aber nicht-fiktionalen Texten quellenkritisch stellen. KORMANN ging dabei exemplarisch auf weibliche Autobiographien aus dem 17./18. Jahrhundert ein. VELTEN bezog sich auf autobiographische Selbstzeugnisse von Männern aus dem 16. Jahrhundert. In der dritten Sektion („Schüler und Lehrer“) gab JULIANE JACOBI Einblick in ein Sample von etwa 500 Berichten, in denen der Werdegang der im Halleschen Waisenhaus zwischen 1695 und 1730 erzogenen Jungen dokumentiert wurde- HANS-ULRICH MUSOLFF widmete sich lutherischen, reformierten und katholischen Gymnasiallehrern in Steinfurt, Münster, Hamm, Dortmund und Soest.

Ein Indiz dafür, dass die Ansätze der Genderforschung inzwischen auch in die historische Bildungsforschung selbstverständlichen Eingang gefunden haben, ist vielleicht, dass in nahezu allen Vorträge die Kategorie „Geschlecht“ reflektiert und in die Deutung einbezogen wurde. Vertieft wurde dies in der Sektion „Mädchen und Frauen“ durch ULRIKE GLEIXNER (Wolfenbüttel), die die Funktion der Privatbibliotheken für die Bildungspraxis fürstlicher Frauen thematisierte, und KATJA LISSMANN (Halle an der Saale), die mit sicherem Blick für die methodischen und quellenkritischen Probleme eine Annäherung an den „pietistischen Brief“ als Medium der „Subjektkonstitution“ gerade von Frauen versuchte.

Eine eigene Sektion befasste sich exemplarisch mit der Auswertung serieller Quellen: JEAN-LUC LE CAM stellte die Ergebnisse einer detaillierten Analyse von Leichenpredigten aus zwei Jahrhunderten (1520-1720) vor; PIA SCHMID (Halle/Saale) untersuchte in ihrem sehr anregenden Vortrag anhand der in Herrnhut üblichen schriftlichen „Lebensläufe“ die (selbst)bildende Funktion der Frömmigkeitspraktiken der in Herrnhut lebenden Kinder und Jugendlichen. Die letzte Sektion stellte schließlich „Adel und Eliten“ als eigene gesellschaftliche Gruppe in den Mittelpunkt. JILL BEPLER (Wolfenbüttel) widmete sich dem Spannungsverhältnis in Bildungsgängen jüngerer Fürstensöhne in Bezug zu den erstgeborenen Fürstensöhnen im 17. Jahrhundert, MARTIN HOLY (Prag) der Ausbildung der Präzeptoren des böhmischen und mährischen Adels und HARALD TERSCH (Wien) dem Sonderfall der Sängerknaben des Klosters Heiligenkreuz in Niederösterreich im 17. Jahrhundert.

Insgesamt bestätigte sich das in den vergangenen Jahren bereits erfolgreich erprobte Konzept der AVE-Tagungen: Der ausgeprägt interdisziplinäre und internationale Ansatz befördert intensive und differenzierte Diskussionen, und die thematische Fokussierung auf die Frühe Neuzeit, die seit 2002 für den AVE kennzeichnend ist, ermöglicht eine inhaltliche Kontinuität, die der Qualität einer solchen Tagung sehr zugute kommt. Wie bereits auf den vorhergehenden Tagungen 2004 („Elementarbildung und Berufsbildung, 1450-1750“) und 2006 („Säkularisierung vor der Aufklärung“) war auch dieses Mal die Kooperation zwischen deutschen und französischen Bildungshistorikern sowohl in der Vorbereitung als auch während der Tagung besonders ertragreich. Als anregend erwies sich auch, dass vorab die Referenten und Referentinnen gebeten worden, sich mit Frijhoffs Konzept der „Seitenwege“ auseinanderzusetzen, „einen gründlichen Blick auf individuelle Lebenszyklen in der frühneuzeitlichen Epoche“ zu werfen und dabei besonders auf „ersichtliche Unregelmäßigkeiten“ und auf „bemerkenswerte Fälle selbst gewollter Erziehung und individueller Autonomie“ zu achten. Damit war ein gemeinsamer Bezugspunkt gegeben, mit dem sich die meisten Referate allerdings recht kritisch auseinandersetzten. Einmal mehr zeigte sich am Beispiel der „Bildungsgänge“, wie sehr die Differenziertheit der frühneuzeitlichen Gesellschaft einer begrifflichen Vereinfachung entgegensteht. Eine Publikation der Tagungsbeiträge soll 2010 in der Reihe „Beiträge zur Historischen Bildungsforschung“ (Böhlau Verlag, Köln, Weimar) erscheinen. Das Thema der kommenden 13. Tagung des „Arbeitskreises für die Vormoderne in der Erziehungsgeschichte (AVE)“, die von Stephanie Hellekamps, Jean-Luc Le Cam und Anne Conrad für November 2011 vorbereitet wird, lautet „Schulbücher und Lektüren in der Unterrichtspraxis“.

Konferenzübersicht:

Einleitender Grundsatzvortrag
(Moderation: Jean-Luc Le Cam, Brest)

Willem Frijhoff, Amsterdam: Parcours éducatifs et circuits culturels. Mise en perspective d’une problématique à partir d’une étude de cas (les élèves de Zutphen, Moyen Age – époque moderne)

Sektion I: Frankreich
(Moderation: Jürgen Helmchen, Münster)

Serge Tomamichel, Lyon: Les boursiers du collège de Savoie à Louvain de 1550 à 1614: dispositions règlementaires, trajectoires collectives et destins individuels

Dominique Picco, Bordeaux: La perception de l’éducation reçue à Saint-Cyr par les éléves, par leur famille, par les visiteurs

Pascale Mormiche, Versailles – Saint Quentin en Yvelines: Le parcours éducatif d’un prince de sang très surveillé: Louis III de Bourbon-Condé de 1684 à 1690

Sektion II: Individualbiographien und Probleme ihrer Auswertung
(Moderation: Juliane Jacobi, Potsdam, und Stephanie Hellekamps, Münster)

Michaela Bill-Mrziglod, Saarbrücken: Der Bildungsgang Luisa de Carvajals (1566 - 1614)

Eva Kormann, Karlsruhe: Frühneuzeitliche Inszenierungen der eigenen Bildungsgeschichte: Zwischen Selbstbehauptung und Selbstverleugnung

Rudolf Velten, Berlin: Die Konstruktion von Bildungswegen in frühen autobiographischen Texten (1450-1600). Methodische Überlegungen aus literaturwissenschaftlicher Perspektive

Sektion III: Schüler und Lehrer
(Moderation: Stefan Ehrenpreis, München)

Juliane Jacobi, Potsdam: Geförderte Lebensläufe? Werdegänge Hallescher Waisenkinder (1695-1730)

Hans-Ulrich Musolff, Bielefeld: Bildungsgänge und Seitenwege westfälischer Gymnasiallehrer 1600 - 1750

Sektion IV: Mädchen und Frauen
(Moderation: Anne Conrad, Saarbrücken)

Ulrike Gleixner, Wolfenbüttel: Fürstinnen und ihre Bibliotheken (1500 – 1750)

Katja Lißmann, Halle a. d. Saale: Subjektkonstitution im pietistischen Brief - Frauen aus dem Umkreis des Halleschen Pietismus in ihren Korrespondenzen

Sektion V: Serielle Quellen
(Moderation: Stephanie Hellekamps, Münster)

Jean-Luc Le Cam, Brest: Reproduktion, Ausdifferenzierung und Aufstieg: Bildungsgänge in Bürger- und Kaufmannsfamilien im Spiegel von Leichenpredigten (1520 – 1720)

Pia Schmid, Halle an der Saale: Bildungsgänge im Spiegel Herrnhuter Lebensläufe

Sektion VI: Adel und Elite
(Moderation: Andrea Hofmeister, Göttingen, und Alwin Hanschmidt, Vechta)

Jill Bepler, Wolfenbüttel: Für den Notfall ausgebildet. Zum Spannungsverhältnis der Bildungsgänge jüngerer Fürstensöhne im 17. Jahrhundert

Martin Holý, Prag: Die Bildungsgänge der Präzeptoren des böhmischen und mährischen Adels (1500 – 1620)

Harald Tersch, Wien: Die Flucht der Sängerknaben des Klosters Heiligenkreuz (Niederösterreich) 1683

Kontakt

Stephanie Hellekamps, hellekam@uni-muenster.de
Jean-Luc Lecam, jean-luc.lecam@univ-brest.de
Anne Conrad, a.conrad@mx.uni-aarland.de.


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