_Judaizantes_. Grenzgänger zwischen Judentum und Christentum

_Judaizantes_. Grenzgänger zwischen Judentum und Christentum

Organisatoren
Prof. Dr. Rainer Kampling, Freie Universität Berlin; Prof. Dr. Wolfram Kinzig, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Prof. Dr. Susanne Talabardon, Otto-Friedrichs-Universität Bamberg; Maria Theresia Zeidler M.A., Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2009 - 25.03.2009
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Von
Miriam Münch, Freiburg im Breisgau

Gemäß dem Anspruch, aktuelle Entwicklungen des jüdisch-christlichen Dialogs in differenzierter Weise mit historischer Forschung ins Gespräch zu bringen, begann die Fachtagung mit einer aktuellen Stunde, die die jüngsten Gefährdungen des jüdisch-christlichen Dialogs durch die Auswirkungen des Papstdekrets in den Blick nahm. Diese wurden durch die Tagungsteilnehmer/innen übereinstimmend als dialogverhindernd bzw. dialogzerstörend eingestuft und mit Beunruhigung und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Zwar wurde positiv erwähnt, dass so das Thema der christlich-jüdischen Beziehungen wieder in den Blick einer breiten Öffentlichkeit geraten sei; dies allerdings um den Preis der Gewissensnot vieler Katholiken, die in einer echten Zerreißprobe stünden.

Um Fragen von Gruppenidentität und Abgrenzung drehte sich dann die Diskussion um die Judaizantes. Wer waren sie? Handelte es sich um ein Individualphänomen oder gab es eine bestimmte Trägergruppe? War Judaizantes Selbstbezeichnung oder vorwiegend pejorative Außenwahrnehmung?

CLEMENS LEONHARD (Münster) führte in seinem Auftaktvortrag aus, dass judaisieren – unabhängig von der tatsächlichen Praxis – eine pejorative Außenwahrnehmung darstelle; keiner, so Leonhard, habe sich je selbst so bezeichnet. Aus der Quellenlage ergebe sich, dass judaisieren zum einen eine Zuwendung zu jüdischen Quellen, Liturgie und Lebensweise bezeichne, dass die Bezeichnung zum anderen aber auch zur Verunglimpfung von Gegnern diene; und dass sogar wie im Fall der spanischen conversos der Vorwurf das Phänomen erst hervorbringen könne. Die Konstruktion von Grenzgängern auf beiden Seiten diene in erster Linie der Festigung der eigenen Homogenität und begründe im Anfang sowie in Krisenzeiten die Identität als religiöse Gruppe.

Diese Sichtweise wurde durch das Referat von ANNETTE VON STOCKHAUSEN (Erlangen) untermauert, die sich dem Phänomen in Quellen aus der Spätantike aus dem Blickwinkel der „Kirchenleitung“ näherte. Die vorherrschende Bedeutung des iudaizein in christlichen Texten sei im Vergleich mit anderen Verben die auf -izein endeten, die Außen- oder Fremdbeschreibung von Menschen, die der anderen Gruppe nicht angehörten, sich aber entsprechend deren Gepflogenheiten verhielten; dies sei wie im Fall des barbarizein auch stets negativ konnotiert gewesen. Iudaizein könne sich jedoch auch auf die wörtliche Auslegung des Alten Testaments oder die Leugnung der Gottheit Jesu Christi beziehen; nur selten sei damit gemeint gewesen, mit allen Konsequenzen Jude zu werden. Dabei erfahre man aus den frühkirchlichen Canones vor allem etwas über das Judaizantes-Konzept ihrer Verfasser; was die vermeintlichen Judaizantes taten und warum, wurde kaum beschrieben. Unter Judaisieren verstanden die Synodalbeschlüsse und Äußerungen von Bischöfen offensichtlich eine Imitation jüdischer Praxis innerhalb des christlichen Kontextes vor allem hinsichtlich der Feste, was aus der Perspektive der Kirchenleitung als Gefährdung der schwächeren Gemeindemitglieder gesehen wurde. Die Anziehungskraft des Judentums habe in dieser Wahrnehmung in seiner Altehrwürdigkeit bestanden. Die Auseinandersetzung mit den Judaizantes diente also vornehmlich dazu, eine Außengrenze des Christlichen zu ziehen und könne damit als ein typisches Phänomen der sich im Fluss befindende Identität während der ersten Jahrhunderte betrachtet werden.

Einen anderen Blick auf die Judaizantes warf DORON MENDELS (Jerusalem). Davon ausgehend, dass es bereits vor der Zerstörung des Tempels eine große jüdische Diaspora gab, könne man aufgrund der language barrier von einer Dichotomie sprechen zwischen dem sich in Palästina entwickelnden rabbinischen Judentum mit dem oral corpus der Halacha und den griechisch sprechenden Judentum der Diaspora, dem nur die Septuaginta und die Apokryphen zur Verfügung standen. Aus dieser Perspektive handelte es sich bei den Judaizantes nicht um eine feste Gruppe, sondern um von der rabbinischen Führung im Stich gelassene biblical Jews der Diaspora. Von Palästina aus gesehen seien diese Westjuden „nur“ Judaizantes gewesen, weil sie keine Kenntnis der Halacha hatten. Folgerichtig wurde nach friedlicher Koexistenz von „Juden“ und „Christen“ in den ersten Jahrhunderten auch erst mit der Einführung der Mischna im Westen der Unterschied zwischen den Religionen deutlich, der zur Positionierung und Abgrenzung zwang. Was passierte dann mit den Judaizantes? Sie seien entweder zum Christentum übergetreten, als „Kryptojuden“ im Grenzbereich geblieben, manche hääten sich möglicherweise den paganen Kulten angeschlossen und wieder andere seienn nach Verschriftlichung der Mischna in das rabbinische Judentum integriert worden.

FOLKER SIEGERT (Münster) wagte sich an einen kühnen Entwurf einer Trägergruppe des Judaisierens, indem er die johanneischen Quartodezimaner als Gruppe mit originär jüdischer und direkt auf Jesus zurückgehender Festpraxis beschrieb. Die Johannesgemeinde in Ephesus habe das Passa in Kommemoration des Todes Jesu gefeiert; dies sei historisch korrekt im Vergleich zum als Passamahl gefeierten letzten Abendmahl der Synoptiker. Es habe also von Anfang an ein christliches Passa gegeben, das der Erinnerung des Todes Jesu diente und vom Johanneskreis als solches weitergetragen wurde. Damit machte sich Siegert für Kontinuität vom historischen Jesus zu den Quartodezimanern stark; Johannes sei ein gelungenes Beispiel für bruchlos gelebtes Judenchristentum; die antijüdische Polemik des Johannesevangeliums sei lediglich dem Überlieferungsprozess geschuldet.

In Form einer allegorischen Deutung der Erzählung von „Rabbi Nathanael, der den Feigenbaum verfluchte“ aus einer eher randständigen Chronik des frühen 16. Jahrhunderts von Abraham BEN Salomo aus Torrutiel gab SUSANNE TALABARDON (Bamberg) eine Einführung in den Umgang mit Grenzgängern im Kontext der Massenkonversionen im 14. und 15. Jahrhundert in Spanien. Dabei stellte sich die Identitätsfrage allen Beteiligten – den Betroffenen selbst, jüdischen Gemeinden im Exil, sowie den kirchlichen Behörden – unter der drohenden Gefahr, die eigenen jüdischen Traditionen ganz zu verlieren, immer dramatischer: Wie sollten die jüdischen Gemeinden mit den Konversionen und Rekonversionen umgehen? Ist „Israel, das gesündigt hat, noch Israel“, wie die nordfranzösisch-aschkenasische halachische Schule zunächst lehrte, um den Zwangsbekehrten die Rückkehr zu ermöglichen? Aber wie ließen sich Juden, Apostaten, conversos und Kryptojuden dann noch unterscheiden? Der Identitätskonflikt führte zu Ausgrenzung wie zur Abgrenzung und initiierte wiederum neue Konversionswellen. Die nach der Vertreibung in Iberien verbleibenden Gelehrten gingen dazu über, die conversos als verloren und damit als Apostaten (mischumadim) anzusehen. Hierin liegt das Besondere der Geschichte von Rabbi Nathanael, die als eine Erzählung über das wiedererstandene Israel gelesen werden könne, in das auch die Gelehrten wieder Hoffnung setzten. Die Brüche in der Erzählung stünden dann für die Brüche in der Identität. Nathanael ist Sünder, weil er seine eigene Tradition am Schabbat verbirgt, aber er ist kein Apostat, weil er sie wiederfindet und das Besitzrecht nicht verloren hat. Das Wiederfinden der eigenen Tradition wird als Hoffnung formuliert.

MARCEL POORTHUIS (Utrecht) verortete das Phänomen anhand der Bewegung der Amici Israel im 20. Jahrhundert, näherhin der schillernden Lebensgeschichten der zum Katholizismus konvertierten, jüdischen Künstlerin Sophie van Leer und des Mönchs Laetus Himmelreich. Absicht der 1926 gegründeten Priesterbewegung war es, die katholische Kirche vom Antisemitismus und Antizionismus abzubringen und den katholischen Geist vor dem Hintergrund chiliastischer Vorstellungen mit dem Judentum zu verbinden. Die Amici Israel, deren Ziel nicht die individuelle Mission, sondern die Rettung Israels durch Christus selbst war, wurden von hochrangigen Klerikern unterstützt. Bei aller historischen und theologischen Kritik am Chiliasmus ist festzustellen, dass die Pioniere für bessere Beziehungen zwischen Christen und Juden aus diesen Kreisen kamen. Der bereits 1928 wieder aufgelöste Priesterbund könne insofern als Vorgriff auf das Zweite Vatikanische Konzil betrachtet werden, sei aber aufgrund seiner sonderbaren Mischung von Chiliasmus, Kabbala, Zionismus und Katholizismus bleibend unzeitgemäß. Spätere Entwicklungen nähmen durchaus auch nicht alle positiven Aspekte des Chiliasmus auf: so enthalte die Erklärung Nostra Aetate keinen Bezug zu Israel als Volk und dessen Land. Die Gründungsgruppe der Amici Israel speiste sich aus einer Art intuitiver Amateurtheologie, die jedoch präziser ahnte, wie die Beziehungen zum Judentum sein sollten, als die offizielle Theologie aus ihrem eigenem Impuls, der auch im Nachhinein nicht in die Fluchtlinie von Nostra Aetate passe.

Als Fazit der Tagung wurde von WOLFRAM KINZIG (Bonn) festgehalten, dass die Klärung der Begrifflichkeit anhand des historischen Befundes wichtig ist. Die Leitkategorien zur Bestimmung des Phänomens der Judaizantes müssten deshalb die Frage der Zugehörigkeit und die der pejorativen Außenwahrnehmung sein. Dabei müsse versucht werden, die conviventia aus sozialen Gründen (Nachbarschaft, Mischehen, Tischgemeinschaft) von religiös motiviertem Judaisieren zu differenzieren. Bei aller Unschärfe des Begriffs ergebe die Quellenlage neuralgische Punkte des Judaisierens: Demnach seien Probleme immer dort aufgebrochen, wo etwas „nach Gesetz roch“ (Sabbat, Fasten, Rituale). Dabei betreffe das Phänomen des Judaisierens in allen Jahrhunderten die Frage nach der eigenen und der fremden Identität. Massenkonversionen brächten dabei immer die Kluft des Misstrauens zwischen vollzogenem Ritual und Gesinnung mit sich; während es bei den jüdischen Konvertiten um die Frage nach dem Platz der eigenen alt(ehrwürdig)en Tradition in der neuen Lebensweise gegangen sei, fragten sich die christlichen Judaizantes in der Antike bis letztlich zur Gegenwart nach dem eigenen Platz in der Verlängerung der Heilsgeschichte Israels. Dies sei bis heute eine Frage der dialogischen Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. Hier knüpft auch das im Plenum vereinbarte Thema der nächsten Fachtagung vom 22. bis 24. März 2010 an, die sich dezidiert mit der Frage nach Judenmission – Mission von Juden beschäftigen wird – einer Frage, die das Verhältnis der beiden Religionen bis heute belastet. Dabei soll ausdrücklich der Gegenwartsbezug zu neueren christlich-zionistischen Strömungen hergestellt werden. Einvernehmlich wurde zum Ausdruck gebracht, dass neue Wege gesucht werden sollten, mit mehr jüdischen Forschern ins Gespräch zu kommen. Besonderes Interesse bestand daran, junge israelische Forscher mit ins Boot zu holen. Wie auch im Jahr zuvor wurde die faire und konstruktive Atmosphäre der Fachtagung gelobt; diese könne als Beispiel gelingender Interdisziplinarität gelten. Vor allem angesichts jüngster Ereignisse im katholischen Bereich stellt der ökumenische Austausch in einem geschützten Rahmen, der dem gemeinsamen freien Denken und Diskutieren verschrieben ist, einen unschätzbaren Wert, nicht nur für das jüdisch-christliche Gespräch dar. Die im Hintergrund stehende Frage der Fachtagungen bleibt dabei, wie die eigene Identität im Dialog und ohne polemische Abgrenzung gelebt und entwickelt werden kann.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Aktuelle Stunde Christlich-jüdischer Dialog: Ein Blick auf jüngste Entwicklungen

Rainer Kampling, Freie Universität Berlin
Wolfram Kinzig, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Judaizantes - Befunde aus liturgiewissenschaftlicher Perspektive

Clemens Leonhard, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

A Split Jewish Diaspora and the Judaizers. A New Approach
Doron Mendels, Hebräische Universität Jerusalem

Das Phänomen der Judaizantes aus dem Blickwinkel von "Kirchenleitung" in der Spätantike
Annette von Stockhausen,Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Textarbeit Teil I
1) "Iudaizantes" in der Alten Kirche (Wolfram Kinzig)
2) Überall und Nirgends: auf den Spuren des werdenden Christentums in rabbinischen Texten (Susanne Talabardon, Otto-Friedrich-Universität Bamberg)
3) Befunde aus dem Neuen Testament (Rainer Kampling)
4) Judaizantes zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Paul Billerbeck und sein Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch (Christina Biere, Universität Greifswald)

Die Passahfeier des johanneischen Christentums. Vom historischen Jesus zu den Quartodezimanern
Folker Siegert, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vom Umgang mit Grenzgängern. Eine Konversionsgeschichte zwischen Aschkenas und Sefarad vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit
Susanne Talabardon

Die "Amici Israel"
Marcel Poorthuis, Faculteit Katholieke Theologie te Utrecht

Abschließendes Podium mit Plenumsgespräch zur Konsolidierung des Theologischen Forums Christentum-Judentum


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