German Society in the Nazi Era. “Volksgemeinschaft” between Ideological Projection and Social Practice

German Society in the Nazi Era. “Volksgemeinschaft” between Ideological Projection and Social Practice

Organisatoren
Horst Möller / Bernhard Gotto, Institut für Zeitgeschichte, München/Berlin; Andreas Gestrich / Martina Steber, Deutsches Historisches Institut London
Ort
London
Land
United Kingdom
Vom - Bis
25.03.2010 - 27.03.2010
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Von
Janosch Steuwer, Ruhr-Universität Bochum

Am Anfang dieser Konferenz stand der Hinweis auf eine frühere: Im Mai 1979 veranstaltete das Deutsche Historische Institut London (DHIL) unter dem Titel „Herrschaftsstruktur und Gesellschaft des Dritten Reiches“ eine Tagung, die vor allem durch ihre überaus heftigen und erbitterten Auseinandersetzungen in Erinnerung blieb.1 Die Konferenz bot damals der Diskussion zwischen „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“ ein Forum zur direkten Auseinandersetzung, befeuerte damit aber auch selbst die Debatte noch weiter.2 Nicht zuletzt trugen dazu die Auseinandersetzungen um die rückblickende Bewertung der Konferenz bei, bei der vor allem ein Vortrag allgemein lobenswert erschien:3 Lothar Kettenacker hatte sich dafür stark gemacht, „den Begriff der ‚Volksgemeinschaft‘ nicht bloß als Propagandaphrase abzutun“, sondern anzuerkennen, dass diese über den „propagandistischen Rang hinaus für die Bevölkerung durchaus Realität besaß“.4 Was Ende der 1970er-Jahre in der polarisierten Auseinandersetzung zwischen „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“ als vergleichsweise unstrittiger Befund galt,5 ist seit einigen Jahren zum Gegenstand intensiver Diskussionen geworden, denen nun wiederum das DHIL in Kooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte ein Forum zur direkten Auseinandersetzung bot.

Den Nutzen des „Volksgemeinschafts“-Ansatzes für die NS-Forschung – gerade im deutsch-britischen Dialog – zu diskutieren, bildete denn auch das übergeordnete Tagungsinteresse, wie MARTINA STEBER (London) und BERNHARD GOTTO (München) in der Einleitung ausführten. Sie plädierten dafür, „Volksgemeinschaft“ als „imaginierte Ordnung“ zu verstehen, die einen handlungsleitenden Charakter besessen und deshalb die Gesellschaft des Nationalsozialismus entscheidend geprägt habe. Entsprechend müsse die gesellschaftliche Dynamik, die von der gleichermaßen utopische Versprechung wie politisches Programm bildenden „Volksgemeinschaft“ ausgegangen sei, in unterschiedlichen Dimensionen – mit Blick auf soziale Distinktion und Ungleichheiten, auf gesellschaftliche Kohäsion, auf Mechanismen sozialen Wandels und auf die Einordnung in längerfristige Entwicklungen des 20. Jahrhunderts – ernst genommen werden. Dabei bilde die Anschlussfähigkeit an verschiedene theoretische Zugänge und Methoden eines der zentralen Potenziale des „Volksgemeinschafts“-Ansatzes.

Entsprechend verfolgten die Vorträge der Tagung unterschiedliche Perspektiven. Eine erste Gruppe von Vorträgen behandelte die strukturellen Ungleichheiten der Gesellschaft des Nationalsozialismus. CLAUS-CHRISTIAN SZEJNMANN (Loughborough) befasste sich in seinem Vortrag mit den Kategorien „Klasse“ und „Rasse“ und argumentierte, dass „Klasse“ im Nationalsozialismus deutlich an Bedeutung verloren habe. Zwar seien die sozialen Klassenverhältnisse weitgehend bestehen geblieben, hätten aber auf Einstellungen, Mentalitäten und Lebensstile nur noch wenig Einfluss gehabt. Demgegenüber habe „Rasse“ gerade auf dieser Ebene einen Wandel produziert, in dem die Zeitgenossen – auch wenn eine Gesinnungsrevolution nicht erreicht worden sei – ihre soziale Umwelt zunehmend mit rassistischen Kategorien betrachtet hätten. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kam auch WINFRIED SÜß (Potsdam). Ausgehend von der These, dass sich mit der sozialen Ordnungsidee der „Volksgemeinschaft“ Praktiken der Inklusion und Exklusion verbanden, fragte er nach der Veränderung bestehender und der Entstehung neuer sozialer Ungleichheiten. Auch Süß betonte die Persistenz sozialstruktureller Ungleichheiten, argumentierte aber, dass die zunehmende rassistische Strukturierung der Gesellschaft diese neu kontextualisiert und damit auch deren Charakter beeinflusst habe. ELIZABETH HARVEY (Nottingham) richtete ihren Blick auf die Veränderung von Geschlechterverhältnissen. Gerade die besetzten Gebiete Osteuropas boten ihrer Ansicht nach Frauenaktivistinnen neue Betätigungsfelder und Möglichkeiten, über „Kameradschaft“ neue Formen der Solidarität zwischen den Geschlechtern einzufordern. Gleichzeitig sei das Geschlechterverhältnis in diesen Gebieten überlagert worden von der rassischen Trennung zwischen Reichsdeutschen und ansässigen Volksdeutschen, die ebenfalls den Anspruch auf Gleichberechtigung hätten erheben können, deren Verhältnis aber ebenso hierarchisch geblieben sei wie das zwischen den Geschlechtern.

Eine zweite Gruppe von Vorträgen rückte bestimmte soziale Gruppen und ihre Stellung in der Gesellschaft des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt und thematisierte damit das Ausmaß gesellschaftlicher Kohäsion der 1930er- und 1940er-Jahre. JILL STEPHENSON (Edinburgh) fragte anhand der ländlichen Regionen Württembergs danach, inwieweit der mit der Idee der „Volksgemeinschaft“ verbundene Anspruch auf Ersetzung bestehender sozialer Gemeinschaften habe verwirklicht werden können. Mit Blick auf die Forschungsthese, die neuen Massenmedien hätten ein gesamtgesellschaftliches Gemeinschaftsgefühl hergestellt, wies sie nachdrücklich auf die beschränkten Möglichkeiten des Radio- und Kinokonsums in den ländlichen Gebieten hin. Auch in anderer Hinsicht seien die Versuche der nationalsozialistischen Beeinflussung der ländlichen Gesellschaften weitgehend erfolglos geblieben, so dass von „Volksgemeinschafts“-Effekten in Württemberg nicht gesprochen werden könne. An ihren Vortrag schloss inhaltlich das Referat von WILLI OBERKROME (Freiburg) an, der sich mit agrarsozialen Ordnungsmodellen des Nationalsozialismus auseinandersetzte. Vor dem Hintergrund der Diagnose einer massiven und zunehmenden Landflucht habe insbesondere die Bestandssicherung des „Landvolkes“ eine zentrale Herausforderung dargestellt, auf die verschiedene nationalsozialistische Ordnungsentwürfe unterschiedlich reagiert hätten. Eine Realisierung dieser Konzeptionen, die auch die regimeadäquate Vergemeinschaftung der ländlichen Bevölkerung angestrebt hätten, sei aber kaum gelungen. RÜDIGER HACHTMANN (Potsdam) rückte mit den Funktionseliten und deren informellen Netzwerken eine zweite soziale Gruppe in den Mittelpunkt. Sein Vortrag konzentrierte sich auf institutionelle Orte, an denen sich Mitglieder der traditionellen Elite und der neuen NS-Elite regelmäßig trafen. Dabei hätten die Begegnungen vor allem zu einer Anpassung der neuen NS-Elite an traditionelle Verhaltensweisen und Manieren geführt, während die nationalsozialistische Prägung der traditionellen Elite gering geblieben sei. Deren Engagement für nationalsozialistische Ziele sei durch die radikalnationalistische, bellizistische Prägung im Spätwilhelminismus zu erklären. Den Befund einer vom Nationalsozialismus nur wenig veränderten Elite stützte auch JOHANNES HÜRTER (München) mit seinem Vortrag über die Heeresgeneralität. Die soziale Öffnung und Modernisierung des Offizierskorps habe sich auf die Generalität kaum ausgewirkt. Daneben fragte er nach deren Einstellung zur „Volksgemeinschafts“-Idee, die insbesondere in den 1930er-Jahren als Vision einer von inneren Spannungen befreiten Nation – die rassische Exklusion sei dem Konzept nicht zugerechnet worden – innerhalb der Heeresgeneralität konsensfähig gewesen sei. Das Anknüpfungspotenzial der „Volksgemeinschafts“-Idee unterstrich auch FRIEDRICH WILHELM GRAF (München) in seinem Vortrag über das Verhältnis von Religion und Nationalsozialismus. Beide Wortbestandteile „Volk“ und „Gemeinschaft“ hätten für Theologen zahlreiche Anschlussmöglichkeiten geboten. Entsprechend habe die Revolution 1933 eine breite Projektionsfläche für vielfältige Erwartungen von Theologen dargestellt, die bis zur Hoffnung auf eine weitreichende Rechristianisierung – bei gleichzeitiger Distanzierung von zentralen Elementen der NS-Ideologie – gereicht hätten.

Eine dritte Gruppe von Vorträgen fragte breiter nach der Wahrnehmung der NS-Politik und der Einstellung der gesamten Gesellschaft. Vor allem NIKOLAUS WACHSMANN (London) betonte jedoch bei seiner Analyse der Perzeption der Konzentrationslager in den 1930er-Jahren, dass diese für unterschiedliche soziale Gruppen und verschiedene Zeitpunkte differenziert bewertet werden müsse. Mit Hilfe der Unterscheidung von offiziellem und privatem Wissen konnte er zeigen, dass es 1933 ein umfangreiches –sozial und regional differenziertes – privates Wissen über die Lager gab. Ende der 1930er-Jahre sei dieses auf soziale Gruppen am Rande der Gesellschaft begrenzt gewesen, so dass dem offiziellen Bild der Lager eine größere Bedeutung beigekommen sei. BIRTHE KUNDRUS (Hamburg) fragte in ihrem Vortrag nach der gesellschaftlichen Wahrnehmung der nationalsozialistischen Konsumpolitik. Sie vertrat dabei die These, dass die Nationalsozialisten gerade den sozialutopischen Charakter des Konsums genutzt hätten, um ihrer Vision der „Volksgemeinschaft“ Plausibilität zu verleihen und Loyalität gegenüber dem Regime herzustellen. Allerdings sei das Versprechen einer zukünftigen „völkischen Konsumgemeinschaft“ ambivalent geblieben und habe stets die Gefahr der Enttäuschung geboten. Entsprechend sei ein ausgefeiltes Krisenmanagement notwendig gewesen, das auf die sich wandelnden Konsumentenerwartungen reagiert habe, wie Kundrus am Beispiel des Familienunterhaltes während des Krieges zeigte. NICK STARGARDT (Oxford) befasste sich in seinem Vortrag mit der gesellschaftlichen Legitimität des Krieges und schlug dabei eine neue psychologische Periodisierung vor. Er konzentrierte sich dann auf die vom Dezember 1941 bis zum Dezember 1944 reichende lange Mittelphase des Krieges, in der dessen Ende nicht mehr erwartbar, die Selbstaufopferung aber auch noch nicht sinnlos gewesen sei. Diese Phase sei nicht durch einen linearen Niedergang der Kriegszustimmung gekennzeichnet gewesen, sondern durch wellenartige Pendelbewegungen zwischen Hoffnung und Angst, wobei militärische Krisen funktional gewirkt hätten, da sie bestehende Erwartungen zerstört und Raum für neue Hoffnungen eröffnet hätten. An zwei Beispielen exemplifizierte Stargardt, dass gerade aus dem Gefühl der Machtlosigkeit ein noch radikalerer Einsatz für den Krieg erwachsen sei.

Während die bisher behandelten Vorträge vor allem die Einstellung der deutschen Bevölkerung und damit die mentale Integration der deutschen Gesellschaft in den NS-Staat untersuchten, richtete eine vierte Gruppe von Vorträgen das Augenmerk auf die funktionale Integration der Gesellschaft durch soziale Praxis.6 DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hannover) machte sich in seinem Vortrag für die „Volksgemeinschaft“ als analytisches Konzept stark, das auf den Prozess der Herstellung von „Volksgemeinschaft“ und die mit diesem verbundenen Praktiken verweise. Anhand verschiedener Beispiele der sozialen und politischen Kontrolle unterstrich er, dass sich die Produktion von „Volksgemeinschaft“ nicht in einem top-down-Modell, sondern in sozialen Praktiken vollzogen habe. ARMIN NOLZEN (Bochum) identifizierte bei der NSDAP grundsätzlich sechs „operative Praktiken“, von denen er die Praxis der Erfassung, der weltanschaulichen Schulung und der sozialen Hilfe genauer betrachtete. Innerhalb dieser sei der Vision der „Volksgemeinschaft“ eine zentrale Bedeutung zugekommen, deren Verwendung (Selbst)Bindekräfte zwischen NSDAP und Gesellschaft produziert habe. Auf diese Weise versuchte Nolzen, Anschlussmöglichkeiten für eine systemtheoretisch informierte Gesellschaftsgeschichte des NS-Staats zu eröffnen und plädierte dabei für eine größere Beachtung der Rolle von Organisationen. NICOLE KRAMER (Potsdam) interessierte sich in ihrem Vortrag über die Mobilisierung von Frauen im Weltkrieg für die durch soziale Praxis entstandene Verflechtung von NS-Herrschaft und Gesellschaft. Auch sie betonte die Bedeutung von Organisationen, insbesondere der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und des Luftschutzes, die als politische Kommunikationsnetze sowohl Propaganda „von oben“ in die Gesellschaft getragen, gleichzeitig aber auch Möglichkeiten zur Artikulation von Unzufriedenheit „von unten“ geboten hätten. Mit einer Typologie von Verhaltensweisen betonte Kramer, dass weibliche Überlebensarbeit im Krieg keine Privatsache geblieben, sondern in ein Beziehungsgeflecht von Herrschaft und Gesellschaft eingebettet gewesen sei. Die NSDAP und andere Organisationen des Nationalsozialismus spielten auch in dem Vortrag von DIETER POHL (München) eine Rolle, der sich mit der Ent- und Ermächtigung der Gesellschaft auseinandersetzte. Obwohl die Gleichschaltung 1933 zur Entmachtung weiter Teile der Gesellschaft geführt habe, könne nicht von einer stillgestellten Gesellschaft gesprochen werden. Insbesondere durch die Expansion des Funktionärswesens und die Eroberungen des Krieges seien zahlreiche neue Machtpositionen geschaffen worden, die den Handlungsspielraum der Gesellschaft – innerhalb der Grenzen des Regimes – erweitert hätten. Pohl betonte, dass diese neuen „Unterführer“ ihre Aufgabe mehrheitlich im Sinne des Regimes erfüllten, ohne sich mit diesem ideologisch zu identifizieren. Gleichzeitig verwies er darauf, dass diese Ermächtigungen sowohl integrierend wie auch desintegrierend hätten wirken können. Das Verhältnis von Ideologie und sozialer Praxis thematisierte FRANK BAJOHR (Hamburg), der dafür plädierte, gesellschaftliches Engagement nicht an individuellen Haltungen, sondern am konkreten Verhalten zu messen. Er betonte dabei die Bedeutung individueller Interessen für die Beteiligung an nationalsozialistischen Herrschaftspraktiken und folgerte, dass sich gesellschaftliche Integration im Nationalsozialismus weniger durch ideologische Konversion als durch gesellschaftliche Praxis vollzogen habe. Unabhängig von den Einstellungen einzelner Akteure hätten diese in ihrem Verhalten an der Herstellung der sozialen Hierarchien der „Volksgemeinschaft“ mitgewirkt. Dass eine Analyse von Praktiken aber auch zu einem besseren Verständnis der NS-Ideologie beitragen kann, zeigten die Überlegungen von LUTZ RAPHAEL (Trier). Raphael plädierte dafür, weniger die Wirkung, als vielmehr die Organisation und Produktion der NS-Ideologie in den Mittelpunkt der Forschung zu rücken. Diese müsse man sich als ein Feld von Ideen vorstellen, das anschlussfähig an zahlreiche Ordnungsentwürfe gewesen sei und nicht als Set fester Glaubensgrundsätze. Dieses „Weltanschauungsfeld“, in dem „Volksgemeinschaft“ einen wichtigen Begriff darstelle, habe den Raum des Sag- und Denkbaren gebildet und innerhalb dieser Grenzen durchaus Pluralismus und inhaltliche Differenzen erlaubt. Mit diesem diskursiven Feld hätten sich spezifische Praktiken der Teilhabe, insbesondere von Experten, wie auch Einprägungstechniken verbunden, die etwa die NS-Lagerpädagogik genutzt habe.

Eine letzte Gruppe von Vorträgen ergänzte diese stark auf die NS-Zeit fokussierten Beiträge um längerfristige Perspektiven. ANDREAS WIRSCHING (Augsburg) rückte die Interaktion von privater und öffentlicher Sphäre zwischen den 1920er- und 1940er-Jahren in den Mittelpunkt, der er besondere Bedeutung zum Verständnis der sozialen und kulturellen Funktion der „Volksgemeinschafts“-Idee beimaß. Zentrales Motiv dieser Interaktion sei die Sehnsucht nach „Normalität“ und „privatem Glück“ gewesen, die sich aus dem Gefühl gespeist habe, individuelle Lebenswege seien blockiert. Nicht nur politisch, sondern gerade auch privat hätten sich die Deutschen schon vor 1933 als „Opfergemeinschaft“ wahrgenommen, die durch „Kampf“ überwunden werden müsse. Der Erfolg des Nationalsozialismus habe zentral auf dieser Denkfigur gegründet, die er gerade über seine Vision der „Volksgemeinschaft“ angesprochen habe. Diese habe paradoxerweise gleichzeitig zu einer Stärkung der Privatsphäre wie zur massiven Mobilisierung gegen äußere und innere Feinde während der NS-Herrschaft beigetragen. ULRICH HERBERT (Freiburg) untersuchte anhand fünf verschiedener Faktoren den Übergang vom Nationalsozialismus in die Bundesrepublik. Er richtete den Blick auf die Sozialstruktur sowie insbesondere auf die Erfahrungen der Zeitgenossen und deren Relevanz für die politische Transformation. Die Erfahrungen insbesondere der Kriegszeit hätten – neben der Stärkung von sozialer Mobilität und Individualisierung – vor allem Erwartungen an Stabilität und Rechtsstaatlichkeit produziert, die von der Bundesrepublik schließlich eingelöst worden seien. In einer vergleichenden Perspektive betonte Herbert, dass sich ähnliche Entwicklungen in vielen europäischen Gesellschaften vollzogen und somit die Nationalsozialisten die langfristige Entwicklung Deutschlands nicht beeinflusst hätten. RICHARD BESSEL (York) fragte in seinem Vortrag nach den Nachwirkungen der „Volksgemeinschaft“ im Übergang zur DDR. Anstatt Solidarität und soziale Harmonie zu stärken, habe die Kriegsendphase zu sozialer Isolation und Selbstmitleid geführt und nur den Glauben hinterlassen, Teil einer „Opfergemeinschaft“ zu sein. Dementsprechend betonte Bessel, dass Vergemeinschaftungsformen nach 1945 nicht direkt in der „NS-Volksgemeinschaft“ gründeten und erhebliche Unterschiede zur Vergemeinschaftung in der DDR bestünden. Allerdings habe sich, trotz der Unmöglichkeit einer öffentlichen Thematisierung, das Bewusstsein der „Opfergemeinschaft“ auch in der DDR im Privaten erhalten, was zu einer Spaltung des Gemeinschaftssinns in einen öffentlichen und einen privaten Teil geführt habe.

Schon die an den Fragerichtungen orientierte Vorstellung der Vorträge macht deutlich, dass der Begriff „Volksgemeinschaft“ auf der Konferenz durchaus unterschiedlich verwendet wurde. Auch IAN KERSHAW (Sheffield) identifizierte in seiner Keynote Lecture drei sich überlappende Verwendungsweisen des „Volksgemeinschafts“-Konzeptes, mit dem sowohl nach sozialem Wandel, nach der affektiven Integration der Bevölkerung als auch der Dialektik von Inklusion und Exklusion gefragt werde. Auch wenn das Konzept Erklärungskraft mit Blick auf die gesellschaftliche Mobilisierung während des Nationalsozialismus besitze, sei der Begriff insgesamt „kein Geschenk“ und mit verschiedenen Problemen verbunden. Diese wurden auch in den Diskussionen immer wieder angesprochen. Etwa blieb die temporale Reichweite des Konzeptes in den Diskussionen ungeklärt: Während Kershaw den Fokus auf die 1930er-Jahre herausstellte, spielte gerade die Kriegsphase in zahlreichen Vorträgen eine entscheidende Rolle. Zudem argumentierte CHRISTOPHER BROWNING (Illinois) in seinem Vortrag, dass durch eine doppelte Transformation Verbindungen zwischen der Idee der „Volksgemeinschaft“ und dem Holocaust bestanden: In ideologischer Hinsicht sei die Umformung des „Geistes von 1914“ in ein exklusiv gedachtes „Volksgemeinschafts“-Konzept zentral gewesen. Zudem habe die Transformation der „Volksgemeinschaft“ in die „Kampfgemeinschaft“ des Krieges entscheidend zu Feindbildkonstruktionen beigetragen, so dass die Täter des Holocaust das Töten als notwendig für die Bewahrung der „Volksgemeinschaft“ begreifen konnten. Allerdings war man sich einig, dass die Vernichtung der europäischen Juden nicht alleine mit dem Verweis auf die „Volksgemeinschaft“ erklärt werden könne. Insbesondere Hans Mommsen (Bochum) wies auf die Gefahr hin, die politischen Entscheidungsprozesse aus dem Blick zu verlieren. In umgekehrter Perspektive bestätigte dies THOMAS SCHAARSCHMIDT (Potsdam), der die Rolle der NS-Gaue bei der Kriegsmobilisierung gegenüber der älteren These einer dysfunktionalen und selbstzerstörerischen Gaukonkurrenz betonte, und in seinem stark auf das politische System konzentrierten Vortrag der „Volksgemeinschaft“ kaum Beachtung schenkte. Besonders kontrovers wurde jedoch die Frage diskutiert, inwieweit dem „Volksgemeinschafts“-Konzept eine moralisierende Dimension innewohne. Auf der einen Seite stand der insbesondere von Friedrich Wilhelm Graf und Ulrich Herbert erhobene Vorwurf, mit dem Begriff werde die gesamte Bevölkerung zu „Tätern“ gemacht, indem man behaupte, alle Deutsche seien zu „Volksgenossen“ geworden. Dem wurde etwa von Frank Bajohr und Armin Nolzen entgegengehalten, dass die funktionale Integration durch soziale Praktiken mit ganz unterschiedlichen Motivationen und Überzeugungen einhergehen konnte. Dass ein einfacher Moralisierungsvorwurf zu kurz greift, verdeutlichten die gerade auch wegen ihrer moralischen Qualität überzeugenden Vorwürfe von Ulrich Herbert und Birthe Kundrus, das „Volksgemeinschafts“-Konzept unterschlage die „Gerechten“, also jene, die versucht hätten, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, ebenso wie die Erfahrungen und Perspektiven der Ausgegrenzten. Letztlich scheinen hinter dem Moralisierungsvorwurf grundsätzlichere Fragen nach den Bedingungen individuellen Handelns und subjektiver Identität in Diktaturen und unseren Kriterien zu deren Bewertung zu stehen. Mary Fulbrook (London) wies auf grundlegende Ähnlichkeiten zur DDR hin und plädierte dafür, ein breiteres theoretisches Konzept zu entwickeln, das nach den Bedingungen von Verhalten und dessen Rationalisierung durch die Akteure in Diktaturen fragt. Wie dabei mit uneindeutigen Verhaltensweisen und multiplen Identitäten, auf die insbesondere Bernd Weisbrod (Göttingen) hinwies, angemessen umgegangen werden kann und woran Verantwortlichkeit für individuelles Verhalten festgemacht werden muss – an den diktatorischen Rahmenbedingungen, am Verhalten selbst, an der inneren Einstellung, der subjektiven Identität – bleiben wohl in Zukunft weiter zu diskutierende Fragen. Ob „Volksgemeinschaft“ dabei die Rolle eines Konzeptes oder eines wichtigen Gegenstands der NS-Forschung spielen sollte, wurde nicht minder kontrovers diskutiert und blieb bis zum Schluss offen. Insbesondere Ulrich Herbert und Mary Fulbrook machten sich dafür stark, konsequent zwischen Analysemitteln und Untersuchungsgegenstand zu trennen. „Volksgemeinschaft“ als ein analytisches Konzept zu begreifen, berge die Gefahr zirkulärer Argumentationen in sich. Zudem fehle es dem Konzept an analytischer Kraft, da es potenziell jede Verhaltensweise als Partizipation begreife und Differenzierungen damit verloren gingen. Statt von der „Volksgemeinschaft“ auszugehen, sollten konkrete Fragen an den Anfang der Forschung gerückt werden. Dem wurde deutlich widersprochen, etwa von Detlef Schmiechen-Ackermann, der argumentierte „Volksgemeinschaft“ sei kein zirkuläres Konzept, weil es auch die Analyse der Eruption gesellschaftlicher Zustimmung erlaube. Und doch zeigten die sich für den „Volksgemeinschafts“-Ansatz aussprechenden Statements von Winfried Süß – der den Begriff als „Organisator von Aufmerksamkeit“ verstanden wissen wollte, von dem aus konkrete Fragen entwickelt werden müssten – und Andreas Wirsching – der dessen heuristisches Potenzial betonte, wenn der Begriff um konkrete Fragen ergänzt würde – gerade in diesem Punkt eine vorsichtige Annäherung der Positionen. Auch Martina Steber und Bernhard Gotto machten sich in ihrer abschließenden Zusammenfassung zwar für den „Volksgemeinschafts“-Ansatz stark, sprachen jedoch nur noch von einem „Begriff mittlerer Reichweite“. Trotz der zwischenzeitlich ungewöhnlich heftigen Diskussionen wird diese Konferenz damit vielleicht einmal – anders als ihre Vorgängerin 1979 – nicht wegen ihrer polarisierenden Wirkungen, sondern durch die Eröffnung von Möglichkeiten zur weiteren Verständigung in Erinnerung bleiben.7

Konferenzübersicht:

Panel 1: Distinctions in Nazi Society

Section 1:

Christopher Browning (UNC, Chapel Hill): The Holocaust: Basis and Objective of the Volksgemeinschaft?

Nikolaus Wachsmann (London): Volksgemeinschaft-Policy against the People? Acceptance and Scope of National-Socialist Exclusionary Policy until 1939

Johannes Hürter (München): Egalitarianism or the “New Masters”?

Comments by Anthony McElligott (Limerick)

Section 2:

Claus-Christian Szejnmann (Loughborough): Race Trumps Class?

Winfried Süß (Potsdam): Old and New Social Inequalities

Elizabeth Harvey (Nottingham): Comrades or rivals: women and men in the expanding Volksgemeinschaft

Friedrich Wilhelm Graf (München): Religion in the Volksgemeinschaft

Comments by Peter Fritzsche (Illinois)

Keynote Lecture:

Sir Ian Kershaw (Sheffield): Volksgemeinschaft: Potential and Limitations of the Concept

Panel 2: Factors of Cohesion

Section 1:

Dieter Pohl (München): The Diffusion of Power and Participation in the Totalitarian Führer State

Frank Bajohr (Hamburg): Ideology and Interest. Some Reflections on the Mechanisms of Social Integration

Jill Stephenson (Edinburgh): 'The Problems of Permeability: The Persistence of Traditional Attitudes in Württemberg Villages

Comments by Mary Fulbrook (London)

Section 2:

Lutz Raphael (Trier): One Führer, Many Ideologies? Variants and Adaptation Processes

Willi Oberkrome (Freiburg): National Socialist blueprints for rural communities and their resonance in agrarian society

Nick Stargardt (Oxford): The Problem of German Morale in the Second World War

Nicole Kramer (München): Mechanisms and Forms of Solidarity. Women and the Volksgemeinschaft in War

Comments by Neil Gregor (Southampton)

Panel 3: Mechanisms of Social Change

Section 1:

Rüdiger Hachtmann (Berlin): Social Change through Changes of the Elites? The Self-Mobilization of Functional Elites

Birthe Kundrus (Hamburg): Greasing the Palm of the Volksgemeinschaft? Consumption during National Socialism

Thomas Schaarschmidt (Potsdam): Regionalisation as a Means of Mobilizing German Society for War

Comments by Jeremy Noakes (Exeter)

Section 2:

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover): The Making of the Volksgemeinschaft: Social Control and (Self-) Mobilization

Axel Drecoll (München): Social Change through Administrative Acts (wegen Krankheit entfallen)

Michael Wildt (Hamburg): Violent Changes of Society – Social Changes through Violence (wegen Krankheit entfallen)

Armin Nolzen (Bochum): NSDAP: Arena of the Practised Volksgemeinschaft?

Comments by Jane Caplan (Oxford)

Panel 4: Nazi Society in the context of the twentieth century

Andreas Wirsching (Augsburg): Change and Discontinuities from the 1920s until the 1940s

Ulrich Herbert (Freiburg): From the Nazi Regime to the Federal Republic. Some Elements of Continuity and Change

Richard Bessel (York): From the Nazi Regime to the GDR – Continuity and Change

Comments by Horst Möller (München)

Anmerkungen:
1 Gerhard Hirschfeld / Lothar Kettenacker (Hrsg.), Der „Führerstaat“: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981.
2 Die Begriffe „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“ prägte Timothy Mason auf dieser Konferenz.
3 Vgl. den Bericht von Karl Heinz Bohrer, Hitler oder die Deutschen. Englisch-deutsche Historikerkonferenz über das Dritte Reich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.5.1979, S. 23 sowie die Auseinandersetzung um den Tagungsbericht von Klaus Hildebrand: Nationalsozialismus ohne Hitler? Das Dritte Reich als Forschungsgegenstand der Geschichtswissenschaft, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (1980), S. 289-304 in den Zeitschriften Geschichtsdidaktik (1980), S. 325-327 sowie (1981), S. 233-238 und Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (1981), S. 197-204, 738-743.
4 1. Zitat: Bohrer, Hitler oder die Deutschen. 2. Zitat: Klaus Hildebrand, Nationalsozialismus ohne Hitler, S. 295. Vgl. auch Lothar Kettenacker, Sozialpsychologische Aspekte der Führer-Herrschaft, in: Hirschfeld / Ders. (Hrsg.), Der „Führerstaat“, S. 98-132, insbesondere S. 111-118.
5 Allerdings hatte Martin Broszat auf der Konferenz darauf hingewiesen, dass „die propagandistisch so betonte Einheit […] der ‚Volksgemeinschaft’ zerfiel […] in ein zunehmendes Chaos von Partikulargewalten“. (Wolfgang J. Mommsen, Einleitung, in: Hirschfeld / Kettenacker (Hrsg.), Der „Führerstaat“, S. 9-19, hier S. 18.)
6 Zu dieser Gruppe von Vorträgen hätte auch der Beitrag von Michael Wildt über den Zusammenhang von Gewalt und sozialem Wandel gehört, der jedoch wegen Krankheit leider entfallen musste.
7 Dazu wird vielleicht auch der geplante englischsprachige Tagungsband beitragen können.