Georg Franck diagnostizierte in den 1990er-Jahren einen Prozess in der Mediengesellschaft, in dem Aufmerksamkeit in gewisser Hinsicht mit einer Geldwährung vergleichbar werde: Sie könne gemessen, akkumuliert, ja sogar angelegt werden1. Organisator/innen und Teilnehmer/innen dieses Panels bezogen sich in ihren Arbeiten durchaus mit kritischer Distanz auf seine Annahmen. Wie die Organisator/innen einführend betonten, sollte das Konzept als eine Art Stichwortgeber für historiographische Forschungen zur wissenschaftlichen Beobachtung in modernen Mediengesellschaften dienen. Dabei sollte nach der Herstellung von Wissen über Bevölkerungsgruppen gefragt werden, nach den Akteuren dieses Prozesses und nach den verschiedenen Formen, welche Wissensproduktion annehmen kann. Die Beiträge beschäftigten sich in unterschiedlichen zeitlichen und räumlichen Bereichen mit dem Aufkommen von Markt- und Meinungsforschung, von sozialwissenschaftlicher Technik und von wissenschaftlicher Beobachtung sowie mit Prozessen, in denen Umfragewissen über Bevölkerungen generiert wird. Die Beiträge setzten zudem diese Prozesse mit ihrer massenmedialen Vermittlung sowie mit gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen in Beziehung.
MALTE ZIERENBERG (Berlin) untersuchte in seinem Beitrag die Publikumsforschung im anglophonen Raum ab den 1940er-Jahren sowie in Westdeutschland ab 1945 und damit Versuche, den Zuschauer als Figur wissenschaftlich zu beschreiben. Er stellte damit verbunden die Frage, wie diese Herstellung von Wissen über bestimmte soziale Gruppen mit Prozessen von gesellschaftlicher Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung verbunden war. Die Zuschauerforschung in Westdeutschland stützte sich stark auf Entwicklungen und Konzepte aus der Publikumsforschung in Großbritannien und den USA, in der sich ein Blick auf den Zuschauer etablierte, mit dem Selbstbeschreibungen von Mediengesellschaften möglich waren. Zierenberg fokussierte auf die Zuschauerforschung des Fernsehens in der BRD seit den 1960er-Jahren. Dabei beschrieb er, wie das produzierte Datenmaterial über die Massenmedien in breite gesellschaftliche Kreise getragen wurde, und so eine Selbstbeobachtung über Fernseh-Konsum entstand, in der soziale Normen und Unterschiede etabliert und diskutiert wurden. Über die Thematisierung des Zuschauerstatus wie etwa in Talkshows wurden auch Partizipationsformen verhandelt. In solchen „Zuschauerdiskursen“ sei es, so Zierenberg, zu einer „medial vermittelten Selbstbeschreibung der Demokratie“ gekommen.
Die Herausbildung und transnationale Ausbreitung von politischen Meinungsumfragen in den 1930er- und 1940er-Jahren stand in dem Vortrag von BERNHARD FULDA (Cambridge) im Zentrum. Er beschrieb Meinungsforschung als Kommunikationsform, und lenkte hier den Blick zum einen auf die Frage ihrer Wirtschaftlichkeit und ihrer Finanzierung, und zum anderen auf ihre Verbreitung in und über die Medien. Die Methode des ‚scientific polling‘ hatte ihren Durchbruch anlässlich von Präsidentschaftswahlen in den USA der 1930er-Jahre und war eng mit dem ‚American Institute of Public Opinion‘, geleitet von George Gallup, verbunden. Am Beispiel dessen Erfolgsgeschichte in den USA und ihrer Expansion in verschiedene europäische Länder zeigte Fulda auf, wie mit dem Erfassen öffentlicher Meinung auch für nicht-kommerzielle Zwecke Aufmerksamkeit erzeugt und somit für einen medialen Markt ein kommerzieller Wert hergestellt wurde. Hierbei kam für Gewinn und Erhalt von Aufmerksamkeit der Grad des Vertrauens in die wissenschaftlichen Resultate eine besondere Bedeutung zu.
CHRISTIANE REINECKE (Berlin) legte in ihrem Beitrag einen vergleichenden Blick auf die Umfrageforschung in der frühen BRD und der DDR dar. Sie fragte dabei nach den Mechanismen und Bedingungen der Produktion des Umfragewissens im „Zusammenspiel von empirischer Sozialforschung, Massenmedien und Gesellschaft“. Der Vergleich schärfe hier besonders den Blick für die Rolle einer bestimmten Struktur von Öffentlichkeit in diesen Prozessen. Denn während in der DDR die Wissensproduktion der Sozialwissenschaften engen politischen Vorgaben folgte und über einem kleinen Kreis der Parteiführung hinaus kaum über Massenmedien einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wurde, verwies sie hier für die BRD hier auf eine starke Wechselwirkung von sozialwissenschaftlichem Wissen und einer gesellschaftlichen Selbstbeschreibung. In den Massenmedien diente die Wissenschaftlichkeit der Umfragen hier einerseits dazu, den ‚Wahrheitscharakter‘ der Aussagen zu unterstreichen. Andererseits stellte sich damit aber auch eine Kommunikationssituation dar, in der die Erhebung von Umfragen zu eine Art gesellschaftlicher Mitsprache wurde, in die dann auch, massenmedial vermittelt, gesellschaftliche Normierungsdiskussionen ihren Weg fanden. Ebenfalls um gesellschaftliche Normierungen ging es in dem Vortrag von KERSTIN BRÜCKWEH (London), die die Ausbreitung eines gesellschaftlichen Klassifikationsmodells anhand der Geschichte der Geographischen Informationssysteme in Großbritannien seit den späten 1970er-Jahren untersuchte. Diese computerbasierten Systeme ermöglichten eine räumliche Darstellung von erhobenen Daten über die britische Bevölkerung als Bürger bzw. als Konsumenten. Ihre auf computergesteuerter Technologie basierende, marktbezogene, kommerziellen Prinzipien folgende Analyse löste, so Brückweh, einen grundlegenden Umbruch in der Selbstbeschreibung der britischen Gesellschaft aus: das System der ‚social classes‘ wurde deutlich in Frage gestellt und schließlich abgelöst durch die Einteilung der britischen Gesellschaft in bestimmte Modelltypen von Individuen oder Familien, die sich allein an ihrer Kaufkraft und ihrem Kaufverhalten orientieren. Dabei stand nicht mehr die Zuordnung zu einer sozialen Klasse, sondern die räumliche Zuordnung der Individuen zu einem bestimmten Bereich einer Stadt oder des Landes im Zentrum.
Stärker auf Fragen der Institutionalisierung von Selbstbeobachtung war der Beitrag von ANJA KRUKE (Bonn) ausgerichtet, die am Beispiel des Eurobarometers in den 1970er-Jahren Meinungsumfragen in Europa zum Prozess der europäischen Integration untersuchte. Die Etablierung des Eurobarometers war mit seinen zweimal jährlich durchgeführten Umfragen ein wichtiger Einschnitt in der bis dahin nur sporadisch durchführten Beobachtung der Europäischen Union über die sozialen und politischen Ansichten ihrer Bürger. Man versprach sich davon eine Förderung von gemeinsamer Öffentlichkeit und ein positives Bild des europäischen Einigungsprozesses in der Presse. Doch wie Kruke zeigte, entwickelte und verfestigte sich eher ein defizitorientierter Diskurs, den das Eurobarometer trotz Veränderungen in Umfragekonzepten nicht ausgleichen konnte.
AXEL SCHILDT (Hamburg) betonte in seinem Kommentar die Gegenwartsrelevanz der aufgeworfenen Fragen aufgrund der enormen Medienpräsenz in unserer Gesellschaft. Die Gewinnung von Aufmerksamkeit habe eine hohe Aktualität in den heutigen Gesellschaften. Auch er unterstrich, Francks Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie als „Anregung mittlerer Reichweite“ aufzufassen, der einen pointierten Blick auf heutige Gesellschaften ermöglichte. Notwendig sei dabei auch eine kritische Beleuchtung des Konzepts der Mediengesellschaft durch die Geschichtswissenschaft, wie beispielsweise durch eine Genealogie der Kategorie Aufmerksamkeit.
Alle Beiträge boten fundierte Einblicke in Forschungen, in denen die Frage nach der Erzeugung und Bindung gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gestellt wird und mit der Frage verbunden wird, wie diese wissenschaftlich vermessen und beschrieben wurde und so auch an ihrem Erhalt oder sogar an ihrer Konstruktion mitgewirkt wurde. In diesem Zusammenhang kamen auch Exklusions- und Inklusionsmechanismen zur Sprache; Fulda zeigte am Beispiel der Konstruktion von Wählergruppen in der politischen Meinungsforschung auf, wie nach kulturellen oder wirtschaftlichen Kriterien Bevölkerungsgruppen von vornherein von den Umfragen und so wohl auch von Prozessen der medialen Aufmerksamkeit ausgeschlossen wurden.
Thema in den verschiedenen Vorträgen war auch der Transfer von Umfragetechniken und von Umfragewissen über Staatsgrenzen hinweg; in dem Panel wurde deutlich, dass die untersuchten wissenschaftlichen Konzepte und ihr gesellschaftlicher Rückbezug nicht mit rein nationalem Fokus beschrieben werden können. Hier wurde oft auf die Ausbreitung von den USA in europäische Länder verwiesen, aber auch innereuropäische oder deutsch-deutsche Bewegungen von Wissen wurden thematisiert. Hier wies beispielsweise Reinecke auch darauf hin, dass sich diese Aneignung von Umfragewissen auch als eine gegenseitige Wahrnehmung der jeweiligen Gesellschaften beschreiben lässt, in der das Umfragewissen den Deutungen der anderen Gesellschaft eine Art objektiven Anstrich verleihen konnte. Doch in den Beiträgen wurden auch die Begrenzungen von Transfers über nationale Grenzen hinweg deutlich. Der Beitrag von Reinecke über den deutsch-deutschen Vergleich zeigte beispielsweise die politischen Begrenzungen von Transfer in der Anwendung wissenschaftlicher Konzepte auf und verwies auf die Gebundenheit dieser an die Eigenschaften der jeweiligen gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Kruke verwies in ihrem Beitrag auch auf die Hemmnisse, welche sich durch die national strukturierten Öffentlichkeiten innerhalb der Europäischen Union für eine mediale Verbreitung der europaweit angelegten Forschungsergebnisse ergaben.
Im Kommentar und in der Schlussdiskussion kam nochmals die Frage nach den jeweiligen Akteuren in diesen Prozessen auf. Einerseits wurden nach den Akteuren der Wissensgenerierung und ihrer Rolle in diesem Prozess gefragt, was die Frage nach ihrer Finanzierung beinhaltet; aber auch, worauf Fulda am Beispiel der politischen Meinungsumfrage verwiesen hatte, die Frage danach, wer die Beobachter selbst eigentlich beobachtet. Der Vortrag von Kruke zeigte dabei auch die Grenzen der Konstruktionsmöglichkeiten von Seiten der Wissensgenerierenden auf: Wo es keine Aufmerksamkeit gibt, kann man auch keine generieren. Zum anderen wurde auch die Rolle und Position des Zuschauers thematisiert, und zur Sprache gebracht, dass dieser nicht nur Aufmerksamkeit gibt, sondern sie ihm eben auch gegeben wird.
Ebenso beleuchteten die Vorträge der Sektion auf unterschiedliche Weise das Verhältnis von kommerzieller Marktforschung und von politischer Meinungsforschung oder Umfrageforschung, die oft im staatlichen Auftrag durchgeführt wurde. Kamen die Konzepte meist aus der Marktforschung und wurden von staatlicher Seite aufgegriffen, so demonstrierte Brückweh am Beispiel der Geographischen Informationssysteme, dass hier ein Transfer aus den Methoden der Armutsforschung und in einem Rückgriff aus Daten von Volkszählungen in die kommerzielle Marktforschung stattfand und so in methodischer sowie inhaltlicher Hinsicht Einschnitte in Selbstklassifizierungen der britischen Gesellschaft auslöste. Heute dient dieses System wiederum zur Planung von Wahlkampfstrategien der politischen Parteien.
Mit dem Konzept, den Begriff der Aufmerksamkeitsökonomien als eine Anregung zu nehmen, um über wissenschaftliche Beobachtung von Gesellschaften und deren Wechselwirkung mit Prozessen von gesellschaftlicher Selbstbeschreibung nachzudenken, entstand eine sehr anregende und interessante Sektion, die sehr interessante Präsentationen von aktuellen Forschungsarbeiten und deren Diskussion bot. In den Vorträgen sowie in der Diskussion im Anschluss daran wurde deutlich, dass die in der Sektion aufgeworfenen Fragestellungen nach den Verschränkungen und Rückbezügen zwischen Wissenschaft, Medien und Gesellschaft notwendig sind für ein tieferes Verständnis einerseits der Karriere bestimmter wissenschaftlicher Konzepte in der Markt- und Meinungsforschung, aber auch der Auseinandersetzungen der jeweiligen Gesellschaften mit Selbst- und Fremdbeschreibungen und ihrer eigenen sozialer Ordnung.
Sektionsübersicht:
Malte Zierenberg (Berlin): Der Zuschauer. Zur Konstruktion einer Figur der Aufmerksamkeitsökonomie im 20. Jahrhundert
Bernhard Fulda (Cambridge): Der Markt der politischen Meinungen. Meinungsforschung und Öffentlichkeit in transnationaler Perspektive, 1930-1950
Christiane Reinecke (Berlin): Meinung mit und ohne Markt. Zur Rolle der Umfrageforschung in den beiden deutschen Gesellschaften
Kerstin Brückweh (London): Kartographierung sozialer Unterschiede. Zur Messung und Vermarktung soziokultureller Daten in Großbritannien
Anja Kruke (Bonn): Aufmerksamkeit für Europa. Eurobarometer, empirische Sozialforschung und die Europäische Kommission, 1962-1979
Kommentar: Axel Schildt (Hamburg)
Anmerkung:
1 Siehe beispielsweise: Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München 1998.