Die Vermessung der Oikumene – Mapping the Oikumene

Die Vermessung der Oikumene – Mapping the Oikumene

Organisatoren
Klaus Geus / Michael Rathmann, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2010 - 30.10.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Monika Schuol, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Im Mittelpunkt der internationalen Tagung standen Fragen nach der Gestalt und der Größe der griechisch-römischen Oikumene, ihren Grenzen und ihrer Binnenstrukturierung. Ausgehend von der Analyse unterschiedlicher literarischer Genres versuchten die Beiträge zum einen das stark fragmentierte und fragmentarische Wissen zusammenzutragen, zum anderen die verschiedenen Kontexte, in denen dieses Wissen generiert und gespeichert wurde, zu rekonstruieren und zu analysieren.

Eröffnet wurde die Tagung mit dem Abendvortrag von WOLFGANG CROM (Berlin): Er erläuterte grundsätzliche Probleme der Kartographie wie zum Beispiel die Informationsquellen und Intention von Kartographen. Die kartographische Umsetzung von fehlendem geographischen Wissen, bewusste Geheimhaltung von Informationen oder manipulative Darstellungen mit Propagandafunktion veranschaulichte der Referent anhand diverser Karten aus dem reichen Bestand der Staatsbibliothek zu Berlin (Portolankarte von 1541, Phantasiekarte des Amazonasgebietes, Pilgerkarten, „Inselkarten“ von Ost- und Westberlin).

In seiner Einführung erklärte KLAUS GEUS (Berlin) zu Beginn die Wahl des Tagungstitels, der sich an Kehlmanns Roman „Die Vermessung der Welt“ anlehnt1; weiterhin ging er dem antiken Gebrauch des Begriffs „Oikumene“ nach, der die bewohnte von der unbewohnten Welt abgrenzt und dessen Entstehung Klaus Geus in die Zeit der Entdeckung der Kugelgestalt der Erde um 500 vor Christus. zurückführt. Forschungsgeschichtlich verortete er die Tagung im gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen spatial turn-Diskurs.

KONSTANTIN BOSHNAKOV (Toronto) untersuchte Herodots Quellen für die Beschreibung der skythischen Wohngebiete und der Königstraße nach Susa im Kontext des Hilfegesuchs des Aristagoras von Milet an den spartanischen König Kleomenes: Mögliche Informationswege seien von den Einheimischen über griechische Kolonisten bzw. als Handwerker oder ähnliches im Achämenidenreich lebende Griechen, Händler und Reisende zu den griechischen Historikern und Geographen verlaufen.

VERONICA BUCCIANTINI (Berlin) analysierte die Entfernungsdaten bei Nearchos nach der Überlieferung in Arrians „Indike“. Probleme bereitete die Verwendung unterschiedlicher Stadien und Messungssysteme sowie die Umrechnung von Tages- und Nachtreisen in Stadien. Gerade letzteres, also die Transferierung von Zeit- in Distanzangaben, war eines der zentralen Probleme in der Antike. Bucciantini sprach Alexander selbst ein besonderes Interesse an der Vereinheitlichung der Maßeinheiten zu.

SERENA BIANCHETTI (Florenz) untersuchte die Arbeitsweise des Eratosthenes und stellte zum Beispiel bei der Auswertung seiner Angaben zum Taurusgebirge und zu Indien eine selektive Benutzung einzelner Autoren (Arrian, Patrokles) fest; kritisch von Eratosthenes betrachtet werde Megasthenes, über dessen Vermittlung er dann allerdings auf indische Quellen (Aśoka-Dekrete) zurückgreife.

Der Eratosthenes- und Poseidonios-Rezeption bei Strabon widmete sich JOHANNES ENGELS (Köln): In seiner Auseinandersetzung mit den hellenistischen Geographen bietet Strabon lange Eratosthenes- und Poseidonios-Zitate, übernimmt älteres geographisches Fachvokabular oder ersetzt vorgefundene Begriffe durch neue, häufig deskriptive und unpräzise Termini. Eratosthenes’ Angaben werden von Strabon mitunter zurückgewiesen, Korrekturen (etwa durch Kontrollmessungen) erfolgen jedoch nicht. Auch Poseidonios’ methodische Fortschritte finden bei Strabon keine Würdigung. Schlussfolgernd hielt Johannes Engels fest, dass Strabon, entgegen seinem Anspruch die hellenistischen Geographen zu übertreffen und deren Werke zu ersetzen, in diesem Punkt keine nennenswerten Fortschritte erzielt habe.

ANNE KOLB (Zürich) präsentierte zunächst mehrere Typen von Itineraren – individuelle Zusammenstellungen (zum Beispiel für Kaiserreisen), allgemeine Verzeichnisse (Itinerarium Antonini, Meilensteine) und mit Zeichnungen versehene Routenverzeichnisse (itineraria picta) – und betrachtete dann am Beispiel des Stadiasmus Patarensis (45 nach Christus) die über eine Orientierung im Raum hinausgehende Funktion von Itineraren: Während Şahin und Adak2 zwischen dem Straßenverzeichnis und der Ehreninschrift für Claudius auf dem Sockel einer Reiterstatue des Kaisers keine Beziehung erkennen konnten, zeigte Anne Kolb, dass die Lykier mit diesem Monument einerseits dem Kaiser ihre Dankbarkeit und Verehrung erwiesen und andererseits mit der Dokumentation eines wieder in Stand gesetzten, die gesamte lykische Halbinsel durchziehenden Straßennetzes die Größe und Einheit ihrer Provinz demonstriert haben.

In seinem Beitrag reiht MICHAEL RATHMANN (Berlin) die Tabula Peutingeriana in Absetzung von der traditionell imperial-römischen Bewertung in die hellenistische kartographische Tradition ein: Vieles passe nicht in die Kaiserzeit, und es seien auch keinerlei Beziehungen zur Agrippa-Karte oder dem cursus publicus erkennbar. Vielmehr habe eine chorographische Karte des 3.Jahrhunderts vor Christus als Archetypus der Tabula Peutingeriana zu gelten, die im Kern auf den kartographischen Informationen des Eratosthenes basiere. Als „missing link“ zur hellenistischen Kartographie sieht Rathmann den Artemidor-Papyrus aus dem 1.Jahrhundert vor Christus, der als Illustration zu einem zweikolumnigen geographischen Text eine kartenähnliche Graphik bietet. Für die Einbeziehung des Artemidor-Papyrus in die Suche nach antiken „Karten“ fordert Rathmann eine Ausweitung des Begriffs „Karte“ auch auf derartige Graphiken, die eine Vorstellung von physikalischem Raum vermitteln. Er widerspricht damit Brodersens strikter Unterscheidung zwischen schematischen graphischen Umsetzungen geographischer Realität in Form von Schemadiagrammen auf der einen Seite und einheitlich ausgerichteten maßstäblichen Karten („ordentliche Karten“) auf der anderen Seite, die eine Heranziehung der Tabula Peutingeriana und ihrer Vorlagen als Belege für eine antike Tradition maßstäblicher Kartographie nicht zulässt.3

FLORIAN MITTENHUBER (Bern) präsentierte Prolegomena zu einem Editionsvorhaben: Eine Neuausgabe der spätantiken Itinerarwerke. Er stellte methodische Überlegungen an zu den Editionsprinzipien: Angestrebt seien ein anhand der Leithandschriften kollationierter Text, ein knapp gehaltener Umfang des textkritischen Apparates, eine gut lesbare deutsche Übersetzung mit kurzem Kommentar, einfache Kartenskizzen und ein vollständiger Index. Die Ortsnamen sollten in der gängigen Schreibweise geboten werden. Die Lokalisierung und Identifizierung von Orten solle anhand der einschlägigen Nachschlagewerke und mit Hilfe von Google Earth erfolgen; geplant sei die Erfassung aller Ortsnamen in einer Datenbank.

KLAUS GEUS (Berlin) ging der Frage nach, wie die bei Ptolemaios genannte Erdmessung funktioniert und wer diese bislang unbekannte Methode erfunden hat. Aus Ptol. 1, 3, 1–2 liest Geus die Anwendung der „Zenitstern-Methode“ heraus: In der antiken Mittelmeerwelt am besten geeignet sei ein gleichzeitig kulminierendes und gut sichtbares (lichtstarkes) Sternenpaar im Großen Bären. Als Entdecker dieser Methode der Erdmessung identifizierte Geus Hipparch, den Astronomen aus Nikaia, der Ptolemaios auch sonst als Referenz dient. Die „Zenitstern-Methode“ erwähne Ptolemaios an dieser Stelle in seiner „Geographie“, weil sie für die Vermessung der Oikumene ebenso geeignet sei wie für die Messung des Erdumfangs.

Die Veränderungen in der Geschichte des „Mapping the Oikumene“ untersuchte KAI BRODERSEN (Erfurt) am Beispiel des Solinus. Nach Brodersen legte Solinus seinen Schriften insbesondere das Werk von Plinius dem Älteren (naturalis historia) zugrunde: Er habe seinen Quellen zur Präzisierung jedoch auch neue Informationen hinzugefügt; dazu gehören z.B. Richtungsangaben und Hinweise auf benachbarte Gebiete, die eine genauere Lokalisierung ermöglichen sollten. Anstatt einer linearen Beschreibung im Sinne eines Periplus beschreibe Solinus Flächen (plagae). Er entwickele also ein eigenes Konzept in der Verarbeitung der vorgefundenen geographischen Informationen („plagae-Konzept“), ohne dass ihm die Verwendung graphischer Vorlagen nachgewiesen werden könne.

RICHARD TALBERT (Chapel Hill) befasste sich mit der Sicht der Welt durch römische Hilfstruppen und Seeleute; seine Quellenbasis sind Militärdiplome mit ihren geographischen Angaben über Stationierungsorte der betreffenden militärischen Einheiten, die Herkunft der entlassenen Soldaten und ihrer Frauen sowie die Geburts- und Dienstorte ihrer Söhne. Diese Daten werden mitunter in abgekürzter Form oder fehlerhafter Schreibung geboten; häufig finden sich aber auch recht präzise Hinweise.4 Talbert geht von einer „mental map“ der Soldaten in den Hilfstruppen aus, die sich eine recht genaue Vorstellung über die Lage der einzelnen Orte in bestimmten Provinzen, auch im Verhältnis zu den Nachbarprovinzen, gemacht hätten.

JAN STENGER (Berlin) weist nach, dass es sich bei Eusebios’ Onomastikon nicht um ein Itinerar für den praktischen Gebrauch (etwa um ein Pilgerhandbuch) handele. Vielmehr sei das Onomastikon als Hilfsmittel für die Bibelexegese gedacht und solle darüber hinaus der Etablierung eines identitätsstiftenden „Mnemotops“ dienen, also die Entstehung eines kollektiven christlichen Bewusstseins fördern. Der Gegenwartsbezug der biblischen Schauplätze werde erreicht durch die Nennung aktuell dort stationierter Garnisonen und sonstige Angaben zur gegenwärtigen Nutzung des Raums (Weinbau, Thermen). Derartige direkt an die Alltagserfahrung anknüpfende Informationen sollten die Glaubwürdigkeit des Eusebios-Textes verbürgen; hergestellt werde auf diese Weise die Lebensechtheit einer fiktiven Welt.

ULRICH HUTTNER (Berlin/Leipzig) stellte fest, dass die hagiographische Literatur Entfernungen in Tagesreisen rechnet (zum Beispiel S. Abercii Vita) oder – sofern überhaupt konkrete Angaben gemacht werden – sich Entfernungsangaben in der Regel auf den näheren Umkreis von bis zu 3 Meilen bezogen haben. Lokalisiert wurden für die Heiligenverehrung wichtige Stätten, wie etwa Schauplätze des Martyriums von Heiligen, ihre Gräber oder ihnen geweihte Kirchen. Erläutert wird die Lage eher unbekannter Orte in Relation zu den namhafteren Zentralorten: Christliche Gedächtnisorte seien mit Hilfe dieser Informationen im Raum verankert worden, um die hagiographischen Texte zu authentifizieren und einen sakralen Raum zu generieren.

Die einzelnen Beiträge der Tagung haben klar gemacht, wie unterschiedlich die Interessen der antiken Autoren an der Erfassung des bewohnten Raumes gelagert waren: Waren Historiker und Geographen wie Eratosthenes, Poseidonios, Strabon und Ptolemaios auf die Generierung möglichst exakter Daten bedacht, liefern andere Werke ungenaue Angaben und haben erkennbar kein Interesse an Überprüfungen und Korrekturen der vorliegenden Informationen zum Zweck ihrer Präzisierung. Dem Ringen der wissenschaftlichen Geographie um Erkenntnisfortschritte, eine eigene Methodik zur mathematisch-kartographischen Erfassung der Oikumene und der Etablierung der geographia als eigenständige Disziplin stehen Raumkonzepte weiterer literarischer Gattungen mit ganz anderen Intentionen gegenüber: Anstelle exakter Messwerte für einen möglichst großen Teil der bewohnten Welt werden vage Distanzen innerhalb eines lokalen Wegenetzes angegeben, die nicht der Profilierung der eigenen Person und der eigenen Forschungsdisziplin dienen und auch nicht als „Auftragsarbeit“ für einen Herrscher den bereits in Besitz genommenen oder noch zu erobernden Raum erkunden sollen. Vielmehr kann die Konstituierung eines begrenzten Raumes in seiner Größe und Bedeutung auch in einem ganz anderen Kontext erfolgen – etwa zur Ehrung einer politischen Autorität, die sich um den Straßenbau verdient gemacht hat, oder zur Authentifizierung eines Textes durch die Anreicherung mit Angaben zu geographischen und topographischen Gegebenheiten. Die Annäherung an das Thema der Tagung nach den verschiedenen literarischen Genres hat gezeigt, dass geographisches Wissen auf unterschiedlichen Wegen generiert, gespeichert, überliefert und angewandt wird. Den unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechend wird dieses Wissen graphisch umgesetzt in kartenähnlichen Zeichnungen, maßstäblichen und einheitlich ausgerichteten Karten oder in Schriftzeugnissen ohne illustrierende Graphiken.

Konferenzübersicht:

Wolfgang Crom (Berlin): Die Geschichte der Kartographie zwischen Fälschung und Geheimhaltung

Klaus Geus (Berlin): Begrüßung und Einführung

Konstantin Boshnakov (Toronto): On Some Features of Periegesis, Periplous, Periodos, and Their Originators

Veronica Bucciantini (Berlin): Die Länge der Schifffahrt: Messungen und Entfernungen im Periplus des Nearchos

Serena Bianchetti (Florenz): Gute und schlechte Verwendung von Reiseberichten in der Erdkarte des Eratosthenes

Johannes Engels (Köln): Kulturgeographie im Hellenismus: Die Rezeption des Eratosthenes und Poseidonios bei Strabon in den Geographika

Anne Kolb (Zürich): Die Erfassung und Vermessung der Welt bei den Römern: Das Beispiel der Straßenverzeichnisse

Michael Rathmann (Berlin): Räume und Grenzen auf der Tabula Peutingeriana

Florian Mittenhuber (Bern): Überlegungen zu einer Neuausgabe der spätantiken Itinerarwerke

Klaus Geus (Berlin): Einige Überlegungen zur „Erdmessung“ des Ptolemaios

Kai Brodersen (Erfurt): Mapping Pliny’s Oikumene: The Achievement of Solinus’ Geography

Richard Talbert (Chapel Hill): Diplomas Speak: The Worldview of Roman Auxiliaries and Sailors

Jan Stenger (Berlin): Eusebios von Caesarea und die Erfassung des Heiligen Landes

Ulrich Huttner (Berlin): Die große und die kleine Welt der Hagiographen. Sakrale Landschaften in Kleinasien

Anmerkungen:
1 Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, Reinbek bei Hamburg 2005.
2 Sencer Şahin / Mustafa Adak, Stadiasmus Patarensis – Ein weiterer Vorbericht über das claudische Straßenbauprogramm in Lykien, in: Regula Frei-Stolba (Hrsg.), Siedlung und Verkehr im Römischen Reich. Römerstraßen zwischen Herrschaftssicherung und Landschaftsprägung. Akten des Kolloquiums zu Ehren von Prof. H.E. Herzig vom 28. und 29. Juni 2001 in Bern, Bern 2004, S. 227–282; dies., Stadiasmus Patarensis. Itinera Romana provinciae Lyciae, Istanbul 2007.
3 Kai Brodersen, Neue Entdeckungen zu antiken Karten, in: Gymnasium 108 (2001), S. 137–148; ders., Die Tabula Peutingeriana: Gehalt und Gestalt einer “alten Karte” und ihrer antiken Vorlagen, in: Dagmar Unverhau (Hrsg.), Geschichtsdeutung auf alten Karten: Archäologie und Geschichte, Wiesbaden 2003, S. 289–297.
4 Werner Eck / Hans Lieb, Ein Diplom für die classis Ravennas vom 22. November 206, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 96 (1993), S. 75–88; Werner Eck, Ein neues Militärdiplom für die misenische Flotte und Severus Alexanders Rechtsstellung im J. 221/222, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 108 (1995), S. 15–34; Werner Eck / Paul Holder / Andreas Pangerl, A Diploma for the Army of Britain in 132 and Hadrian’s Return to Rome from the East, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 174 (2010), S. 189–200.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts