Die außereuropäische Welt und der Völkerbund – Entstehung und Transfer internationaler Normen

Die außereuropäische Welt und der Völkerbund – Entstehung und Transfer internationaler Normen

Organisatoren
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ort
Eichstätt
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.06.2010 - 06.06.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Benedikt Rieß, Eichstätt

Bis in die 1990er-Jahre hinein waren historische Darstellungen und Abhandlungen zum Völkerbund überwiegend als Geschichten des Scheiterns konzipiert. Die Akteure der Erzählungen über die Genfer Organisation waren meistens europäische Nationalstaaten, und das Hauptaugenmerk lag auf der Sicherheitspolitik und der Friedenssicherung. Die von Thomas Fischer organisierte internationale Tagung „Die außereuropäische Welt und der Völkerbund – Entstehung und Transfer internationaler Normen“ revidierte diese Perspektivierung in zweierlei Hinsicht: Erstens fokussierten die Referentinnen und Referenten die Arbeit außereuropäischer Mitglieder, zweitens nahmen sie transnationale Arbeitsbereiche des Völkerbundes, Expertenkommissionen und andere Völkerbundorganismen, in den Blick. Die meisten behandelten Themen, wie beispielsweise die Flüchtlings- und Asylproblematik, die Minderheitenpolitik, die technische Zusammenarbeit und Entwicklungshilfe oder das Ernährungs- und Gesundheitswesen, sind bis heute Kernbereiche der multilateralen Politik. Die Tätigkeit internationaler Organisationen auf diesem Gebiet ist zwar umstritten, aber eine ausschließlich negative Bewertung ist unzulässig.

DOMINIK SCHALLER (Heidelberg) referierte über die Institutionalisierung des Abolitionismus, der sich auf den Vertrag von Wien 1815 zurückführen lässt. Die Abschaffung der Sklaverei war in den Zwischenkriegsjahren ein zentrales Thema diverser Konferenzen und Ausschüsse. In der Folge wurden Konventionen des Völkerbundes vorbereitet, welche einen wichtigen Referenzpunkt der transnationalen Antisklaverei-Bewegung bildeten. In den internationalen Normen sind laut Schaller einseitig westliche Vorstellungen und Standpunkte berücksichtigt worden. Aus afrikanischer Sicht bemängelte er, dass es keine Unterscheidung zwischen Haus- und Arbeitssklaven gegeben habe, zudem seien die Traditionen der einzelnen afrikanischen Länder missachtet worden. Die Abolitionismusbewegung habe sich nicht mit der Zwangsarbeit beschäftigt, obwohl diese in Afrika, vor allem in den Kolonien, schlimmere Auswirkungen gehabt habe als die traditionelle und relativ humane Sklaverei. Zudem verwies der Referent auf die Problematik, dass der Abolitionismus zwar eine transnationale Basis gehabt habe, die Umsetzung in den afrikanischen Kolonien jedoch meist an den lokalen Eliten oder der Politik der Kolonialstaaten gescheitert sei.

Auch auf dem Gebiet des Gesundheits- und Ernährungswesens verlief die Aushandlung internationaler Normen einseitig nach europäischen oder US-amerikanischen Vorstellungen, und die Implementierung in der außereuropäischen Welt war zudem wenig nachhaltig. Dies zeigte CORINNE PERNET (St. Gallen), welche die Institutionalisierung des Gesundheits- und Ernährungswesens in Lateinamerika untersuchte. Die Historikerin wies den Einfluss des Völkerbundes sowie privater Stiftungen wie zum Beispiel der Rockefeller-Stiftung und verschiedener internationaler Organisationen nach. Oft missachtet werde allerdings die Eigeninitiative der lateinamerikanischen Staaten, welche Jahrzehnte vor dem Völkerbund auf diesem Gebiet bereits aktiv gewesen seien. Pernet berichtete, wie lateinamerikanische Aktivisten und Politiker die Autorität des Völkerbundes benutzten, um ihre eigenen Projekte im Bereich des Gesundheits- und Ernährungswesens zu legitimieren und zu etablieren. Der Transfer von Normen vom Völkerbund in Richtung Lateinamerika sei auch hier zu einseitig gewesen. So seien vor Ort gewonnene Erkenntnisse, beispielsweise im Bereich der Ernährung, zwar von der Gesundheitskommission des Völkerbundes akzeptiert, jedoch nicht in die weitere Agenda dieser Kommission integriert worden. Auch Unterschiede zwischen den Mitgliedern des Völkerbundes in Bezug auf die Intention zur Ernährungsverbesserung wurden deutlich gemacht: So habe man in Lateinamerika in den 1930er-Jahren die Ernährung von Männern in den Blick genommen, um die Leistungsfähigkeit der Arbeiter sicherzustellen und zu verbessern; in Europa dagegen habe man diesen Aspekt der Ernährungspolitik eher in einem militärischen Sinne betrachtet, um die Versorgung von Soldaten gewährleisten zu können. Ebenso wie in anderen Referaten wies Pernet auf die Bedeutung von Initiativen einzelner Personen hin, sowohl in Organisationen und Ausschüssen des Völkerbundes als auch in deren Partnerorganisationen und Kontakten „vor Ort“. Auf diesem Gebiet sollte noch zusätzliche Forschung betrieben werden.

Auch in der von SUSANNE KUß (Freiburg) beleuchteten Kooperation des Völkerbundes mit China habe der Anstoß zur Entwicklung eher bei einzelnen Personen anstatt bei Nationalstaaten gelegen. Die Kooperation, oder Hilfe zur Selbsthilfe, sei durch persönliches Engagement Einzelner zustande gekommen; wobei europäische Staaten dieses Vorhaben unterstützt hätten, solange es für sie opportun erschien. Die Zusammenarbeit habe explizit unpolitisch sein wollen, doch der Ausbruch des Konflikts zwischen Japan und China Anfang der 1930er-Jahre habe die Beziehung stark politisiert. Von daher sei die technische Zusammenarbeit in rein humanitäre Hilfe umgewandelt worden. Der Völkerbund habe als Forum für Personen- und Wissenstransfer fungiert. An anderer Stelle merkte Thomas Fischer hierzu passend an, dass Genf als Sitz des Völkerbundes als eine Art internationale Drehscheibe für Informationen gedient habe. Allgemein, aber vor allem auf Seiten Chinas, habe man darauf geachtet, eine Gleichheit der Partner nach außen hin zu dokumentieren. Kuß wies in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Abschlussberichte des Völkerbundes hin. Nachdem im Rahmen der Kooperation Wissen und damit Normen nach China transferiert worden seien, sei dies ebenfalls durch die Abschlussberichte in umgekehrter Richtung nach Europa getan worden. Diese Berichte würden somit bedeutende interkulturelle Dokumente darstellen. Sie gab zu bedenken, dass die Berichte konsensual zwischen den beteiligten Organisationen und Personen ausgehandelt worden seien, und die „interessanten Aspekte somit versteckt hinter den enthaltenen technischen Details“ wären. Nachdem die Rolle von Missionsgesellschaften und deren Zusammenarbeit mit dem Völkerbund bereits im Anschluss an Schallers Vortrag über die Sklaverei in Afrika diskutiert worden war, kam diese Thematik nach dem Vortrag von Kuß wieder auf. Die Referentin bestätigte eine gewisse Kooperation zwischen Missionaren und dem Völkerbund in China, erklärte aber zugleich, dass dieser Aspekt definitiv noch zu den Lücken der Forschung gehöre und hoffentlich bald ausführlich behandelt werde.

Die auf der Eichstätter Tagung vorgestellten Themen, auch die hier nicht explizit erwähnten, tragen durch ihre Forschungsansätze und Analyseebenen zur Diversifizierung des Bildes des Völkerbundes bei. Die meisten der in Eichstätt präsentierten Studien sind noch nicht publiziert. Man darf daher auf die Druckfassung der Beiträge gespannt sein.

Konferenzübersicht:

HERMANN J. HIERY (Bayreuth): Eröffnung der Tagung.

LEONID LUKS (Eichstätt): Grußworte des Dekans der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der KU Eichstätt-Ingolstadt.

THOMAS FISCHER (Eichstätt): Einführung in die Thematik.

DOMINIK SCHALLER (Heidelberg): Der Völkerbund und der Kampf gegen die Sklaverei in Afrika.

FRIEDHELM HOFFMANN (Berlin): Völkerbund und internationale Ordnungsvorstellungen in der arabischen Welt. Zwischen Weltbühne und regionaler Applikation.

TATEWYK TOKATLYAN (Eichstätt): Armenische Flüchtlinge, der Völkerbund und das Asylrecht in Nord- und Lateinamerika.

SUSANNE KUß (Freiburg): Die technische Zusammenarbeit zwischen dem Völkerbund und China (1929-40): New Procedure of International Life.

MARIA FRAMKE (Bremen): Indische Meinungen und der Völkerbund: Indiens streben nach politischer Selbstbestimmung und die Minderheitenproblematik auf dem Subkontinent.

YANNICK WEHRLI (Genf): Missions as a Tool for Norm Transfer: Albert Thomas' Trip to South Africa.

FABIÁN HERRERA LEÓN (Mexiko-Stadt): Mexico and the International Institute for the Intellectual Cooperation, 1926-1939.

CORINNE PERNET (St. Gallen): Normentransfer und Institutionenbildung: Lateinamerikanische Ernährungsforschung, die Gesundheitskommission des Völkerbundes und das Panamerikanische Gesundheitsbüro, 1920-1946.


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