HT 2010: Genealogien der Menschenrechte

HT 2010: Genealogien der Menschenrechte

Organisatoren
Stefan-Ludwig Hoffmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2010 - 01.10.2010
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Von
Lasse Heerten, Freie Universität Berlin / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In den letzten Jahrzehnten sind die Menschenrechte zu einer globalen lingua franca aufgestiegen, die verschiedenen Akteuren dazu dient, politische Agenden zu formulieren, die so Eingang in die Foren der internationalen Politik finden. Nachdem insbesondere seit den 1990er-Jahren Rechts-, Politik-, und Sozialwissenschaftler begonnen haben, die Rolle der Menschenrechte in der zeitgenössischen Weltordnung zu analysieren, rücken sie nun auch in den Fokus der historischen Forschung.1 In der von STEFAN-LUDWIG HOFFMANN (Potsdam) organisierten Sektion beim Historikertag in Berlin wurden einige der Protagonisten dieser neuen Diskussionen zusammengeführt. In seiner Einführung argumentierte Hoffmann mit dem englischen Historiker Geoffrey Barraclough, dass die Zeitgeschichte dort beginnt, wo die Probleme sichtbar werden, die unsere heutige Zeit bestimmen und verwies damit bereits auf eine der zentralen Fragen einer Geschichte der Menschenrechte: Wo fängt sie an? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. In der Sektion wurde versucht, verschiedene Genealogien der Menschenrechte offen zu legen und so einige dieser Perspektiven ins Gespräch zu bringen.

Eine dieser Perspektiven fehlte leider, da der tschechische Historiker MICHAL KOPECEK (Prag) krankheitsbedingt nicht vortragen konnte. Hoffmann fasste jedoch die Hauptpunkte seines Papers „Dissidence, Human Rights, and Liberal Nationalism in East Central Europe 1968–1989“ zusammen. Dabei wurde deutlich, wie wichtig es ist, das von Politologen und Philosophen dominierte Feld einer ordentlichen Historisierung zu unterziehen. Entgegen der weit verbreiteten Annahme, osteuropäische Dissidenten seien als Protagonisten einer post-nationalen Konstellation im Sinne Jürgen Habermas zu verstehen, war deren Menschenrechtsaktivismus ganz im Gegenteil ein auf Staatsbürgerschaft fokussiertes Programm der Rückkehr der Nationalgeschichte. Die Überwindung des sowjetischen Empires ist der entscheidende Kontext, in den diese Geschichte einzufügen ist – eine post-imperiale, aber durch und durch nationale Konstellation.

Dem Vortrag von SAMUEL MOYN (New York) zufolge sind diese Menschenrechte im Englischen auch nicht als „human rights“, sondern als „rights of man“ zu verstehen. Es gibt an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Versionen der Menschenrechte. Um der Frage nachzugehen, ob Menschenrechte eine Vorgeschichte haben, verortete Moyn sie in den Traditionslinien verschiedener konkurrierender Universalismen, deren Nebeneinander häufig auch innerhalb einer Traditionslinie besteht. Das Modell eines akkumulativen Durchbruchs müsse deshalb verworfen werden. Bei der Aufeinanderfolge von „natural rights“, „rights of man“ und „human rights“ handele es sich nicht um eine fortlaufende Entwicklung, sondern um „Revolutionen“. Die „natural rights“ und die „rights of man“ waren exakt die konkurrierenden Universalismen, die die „human rights“ überwinden mussten: Letztere richten sich gegen staatliche Souveränität, ihre zwei Vorgänger waren genau in dieser verankert. Einer der Schlüssel, um das Rätsel des Aufstiegs der Menschenrechte, bzw. „human rights“, zu lösen sei folglich die Dekolonisationswelle nach Ende des Zweiten Weltkriegs – die wahre „rights of man“ Bewegung des 20. Jahrhunderts, und ebenfalls ihre letzte Inkarnation. Mit ihr erreichten das Prinzip und die Praxis staatlicher Souveränität als Garant von Rechten ihre maximale globale Ausdehnung – und so auch ihre Grenzen. Zahlreiche postkoloniale Staaten versagten in der Ausübung von Souveränität. Hier öffnete sich einer der Räume, in dem die „human rights“ unserer Weltordnung konstituiert werden konnten.

HANS JOAS (Erfurt / Chicago) erzählte die Geschichte der Menschenrechte in seinem Vortrag als die einer Sakralisierung der Person. Eingangs verwarf er die häufig gestellte Frage, ob die Menschenrechte religiösen oder säkularen Ursprungs seien, als „unfruchtbar“. Weder die Meistererzählung von dem anti-religiösen Impetus von Aufklärung und französischer Revolution als Geburtshelfer der Menschenrechte, noch die alternative Meistererzählung einer zuerst protestantischen, dann katholischen Hinwendung zu den Menschenrechten, etwa über den Weg des christlichen Personalismus, könnten überzeugen. Gerade das Modell einer „Reifung über Jahrhunderte“ sei soziologisch wenig tragfähig. Als Alternative bot Joas an, von einem Prozess der Sakralisierung der Person auszugehen, einer gesellschaftlichen Attribution, die nichts der Person inhärentes beschreibe, aber den Aufstieg der Menschenrechte erst ermöglichte. Joas versteht diese Geschichte als die einer kulturellen und sozialen Transformation, die über eine reine Rechtsgeschichte hinausweist – andernfalls würden Erklärungen nur „Stücke Papier“ bleiben. Joas plädierte dafür die Menschenrechte nicht nur als Normen, sondern als Werte zu verstehen, die notwendigerweise vage blieben.

JAN ECKEL (Freiburg) begann seinen Vortrag zur „Neuerfindung von internationalem Menschenrechtsaktivismus in den 1970er-Jahren“ mit dem „Erstaunen der Mörder“. Das diktatorische Regime in Augusto Pinochets Chile zeigte sich verwundert über die Empörung, die die Verfolgung ihrer politischen Gegner international auslöste und sich sowohl in Demonstrationen als auch der Kürzung von Wirtschaftshilfe manifestierte. Die Deutungen innerhalb der Junta reichten von der Annahme einer jüdisch-sozialistischen Verschwörung zu der, dass es sich um ernst gemeinte Verdammung handelte. So oder so, dieses Erstaunen sei ein Indiz für ein neues historisches Faktum, so Eckel. Insbesondere anhand des NGOs Amnesty International verdeutlichte er die neu gewonnene Virulenz der Menschenrechte in den 1970er-Jahren. Dieser „post-revolutionäre Idealismus“ erteilte den Protestformen der 1960er-Jahre eine Absage. Regierungen wandten sich dieser Rhetorik ebenfalls zu, etwa die der USA in der Krise der post-Vietnam-Ära, aber auch bereits sehr früh die Niederlande. Hier bedeutete das Fehlen eines außenpolitischen Konsenses eine ähnliche Krisensituation, in der die Menschenrechte eine attraktive Alternative darstellten, die die Überwindung der Ordnung des Kalten Krieges versprach. Positive Effekte dieses neuen Aktivismus seien schwierig zu identifizieren. Jedoch habe diese „politische Gegensprache“ zuvor undenkbare politische Koalitionen ermöglicht, wie die der politischen Linken und der Kirchen. Zudem habe sie globale Loyalitätsbeziehungen zwischen Opfern und Aktivisten befördert. In dem beschränkten Sinne, dass staatliche Verbrechen auf diese Weise so sehr wie niemals zuvor in den Fokus gerückt wurden, könne deshalb von einer Humanitarisierung oder sogar Humanisierung der internationalen Beziehungen die Rede sein.

Der Kommentar von SANDRINE KOTT (Genf) initiierte eine angeregte Diskussion unter den Panelists. Kott wies darauf hin, dass die Periode von den 1940ern bis zu den 1970ern in den Vorträgen und in der jüngeren Forschung zur Geschichte der Menschenrechte insgesamt eine untergeordnete Rolle spiele. Gerade um die Konkurrenz verschiedener Diskurse zu studieren, mit denen die Menschenrechte konkurrierten, sei dieser Zeitraum jedoch sehr aufschlussreich. Joas fragte Eckel nach der Rolle der 68er Proteste, denn dem „post-revolutionären Idealismus“ sei keine Revolution vorhergegangen. Kontinuitätslinien seien eher zu den frühen 1960er-Jahren auszumachen, bevor die mit der Chiffre ‚68’ verbundene „Hysterisierung“ gesellschaftlicher Konflikte einsetzte. Eckel erklärte, dass der Menschenrechtsaktivismus der 1970er-Jahre in einigen Punkten Protestformen der 1950er-Jahre ähnelte, etwa der Anti-Nuklear-Bewegung. Die „Massenaktivierung von Protest“ sei jedoch ein Phänomen der 1960er-Jahre. Weitere Diskussionspunkte waren die Zusammenhänge von nationaler und internationaler Geschichte, sowie der Geschichte von Menschen- und Bürgerrechten. Auf Kotts Erklärung, dass Gesellschaften national seien, entgegnete Eckel, dass diese Unterscheidung nicht funktioniere – diese Sphären sind in zu komplexer Weise miteinander verflochten. Moyn erklärte, dass Joas Paper nicht helfe, um den Aufstieg eines internationalen Regimes der Menschenrechte zu erklären – bei Joas ginge es um Bürgerrechte. Joas antwortete, dass die Prozesse der Sakralisierung der Person und der Sakralisierung der Nation historisch parallel liefen und miteinander verbunden waren. Joas plädierte für ein Modell von konkurrierenden und miteinander kommunizierenden Universalismen, denen in bestimmten historischen Situationen durch Erweckungsbewegungen neue Kraft verliehen würde; Verschiebungen in der „kognitiven Attribution von Verantwortung“ beförderten einen solchen Prozess.

In der weiteren Diskussion erklärte BERND WEISBROD (Göttingen), dass es einen „weißen Elefanten“ im Raum gäbe – die Antisklavereibewegung, die mit der zumindest im britischen Fall langen „pre-history of NGOs“ in Zusammenhang stünde. Eckel bestätigte, dass es eine weiter zurück reichende Geschichte von NGOs gibt. Trotz einiger Gemeinsamkeiten seien diese NGOs, so wie die Antisklavereibewegung, aber im Gegensatz zum späteren Menschenrechtsaktivismus als „single-issue movements“ zu verstehen. Bezugnahmen auf den Abolitionismus waren bereits unter Aktivisten in den 1970er-Jahren, etwa bei Amnesty International, verbreitet. Hierbei handele es sich aber um eine Herstellung von Traditionen und nicht um eine Kontinuitätslinie. MARTIN GEYER (München) argumentierte, dass nicht nur das 19. Jahrhundert deutlich wichtiger sei als häufig angenommen, auch die 1940er-Jahre seien wirkmächtiger als in den Vorträgen dargestellt: Was ist mit dem Holocaust? Die Menschenrechte seien zudem in den 1960er- und 1970er-Jahren im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit Genoziden wieder thematisiert worden. FABIAN KLOSE (München) sprach davon, dass die Menschenrechtspolitik der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine „Weiterentwicklung“ bereits etablierter Praktiken sei; eine „Neudefinition“ sei wenn dann bereits seit Mitte der 1960er-Jahre passiert. Eckel wies auf die Widersprüche in Kloses Einwand hin: er bezeichnete die Veränderungen in der Menschenrechtspolitik in diesen Jahrzehnten sowohl als „Weiterentwicklung“ als auch als „Neudefinition“: Was trifft nun zu? Joas unterstrich, dass der Menschenrechtsmoment der 1940er-Jahre sicherlich eine Reaktion auf den Nationalsozialismus war, aber nicht auf den Holocaust. Moyn betonte, dass dies auch wenig überraschend sei – die Forschung zur Erinnerung an den Holocaust habe klar gezeigt, dass die breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Massenmord an den Juden Europas zeitlich versetzt passierte, vor allem in den 1990er-Jahren sei diese intensiviert worden. Die empirische Grundlage für die Behauptung eines Zusammenhangs von der Etablierung des internationalen Menschenrechtsregimes und dem nationalsozialistischen Genozid ist sehr dünn. Er rief dazu auf, unsere eigene Verwobenheit in heute dominanten Vorstellungen zu reflektieren.

Moyns Plädoyer zur selbstreflektierten, kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Menschenrechte bietet ihrer weiteren Erforschung wichtiges Rüstzeug. Die Vorträge haben gezeigt, welche interessanten Ergebnisse dieser noch junge Forschungszweig bereits zu Tage gefördert hat. Dabei haben einige Historiker begonnen, die Menschenrechte in einer Weise in den Blick zu nehmen, die auch Raum für die Ambivalenzen und Konflikte in ihrer Geschichte lässt. In der Abschlussdiskussion der Sektion wurde jedoch die Hartnäckigkeit dominanter Erzählmuster deutlich, die auf einer liberalen Erfolgsgeschichte der Menschenrechte beruhen, wie sie etwa in Arbeiten zur Entstehung einer globalen Zivilgesellschaft verbreitet sind. Zumindest seit den 1990er-Jahren sind verschiedene Fassungen dieser Narrative zentraler Bestandteil der Selbstverortung westlicher Gesellschaften. Um die internationale Geschichte der Menschenrechte besser zu verstehen, müssen diese häufig als intuitiv richtig verstandenen Annahmen jedoch reflektiert werden. Sonst besteht die Gefahr, heutige Narrative über die Menschenrechte zurück zu projizieren, statt die Menschenrechte in ihren verschiedenen Erscheinungsformen in der Geschichte zu historisieren.

Sektionsübersicht:

Stefan-Ludwig Hoffmann (Potsdam): Einführung: Zur Genealogie der Menschenrechte

Samuel Moyn (New York): Do Human Rights Have a Prehistory?

Hans Joas (Erfurt / Chicago): Die Geschichte der Menschenrechte als Sakralisierung der Person

Jan Eckel (Freiburg): Moralischer Interventionismus. Zur Neuerfindung von internationalem Menschenrechtsaktivismus in den 1970er Jahren

Michal Kopecek (Prag): Dissidence, Human Rights, and Liberal Nationalism in East Central Europe 1968–1989 (ausgefallen)

Sandrine Kott (Genf): Kommentar

Anmerkung:
1 Vgl. vor allem Jan Eckel, Utopie der Moral, Kalkül der Macht. Menschenrechte in der globalen Politik seit 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), 437-484; Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010; Samuel Moyn, The Last Utopia. Human Rights in History, Cambridge, Mass. / London 2010.


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