Um eine gegenseitige Bereicherung zu erfahren haben die „Arbeitsgemeinschaft Geschichte und EDV (AGE)“ und der Workshop „Digitalisierung von Opferdaten der NS-Zeit“ eine gemeinsame Jahrestagung durchgeführt. Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg hat unter dem Titel „Kooperation via Internet – Möglichkeiten web-basierter Zusammenarbeit“ in die der Gedenkstätte nahe gelegene oberpfälzische Stadt Weiden eingeladen und unter der Leitung von Johannes Ibel eine zweitägige Tagung inklusive einer Exkursion zur KZ-Gedenkstätte organisiert. 66 Teilnehmer aus Deutschland, Österreich, Tschechien, den Niederlanden, Belgien, Spanien, Norwegen, Polen, Russland, Israel und den USA sind der Einladung gefolgt. Mit der Unterstützung eines professionellen Dolmetscherteams wurde die Veranstaltung in drei Sprachen (deutsch, englisch und russisch) gehalten.
Den Einstieg bot JOHANNES IBEL mit einem kurzen Überblick über die Geschichte der Flossenbürger Gedenkstätte1 und einem Aufriss des Tagungsthemas. Sein Titel „Alles vernetzt? Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Daten und das Internet“ benannte sogleich einen der wichtigen roten Fäden, die sich durch die Vorträge der Tagung zogen. Seine Antwort auf den fragenden Titel, ob alles vernetzt sei, lautete im Fazit: Wir sind noch dabei! Die verschiedenen Daten wurden in den vergangenen Jahren erhoben und stehen in unterschiedlichen Datenbanken intern zur Verfügung. Die wichtigste ist die Häftlingsdatenbank. Ebenso haben die anderen KZ-Gedenkstätten ihre Quellen in Datenbanken erfasst. Der Plan, diese miteinander in Beziehung zu setzen und im Internet zur Verfügung zu stellen, ist zwar vorhanden, jedoch noch nicht verwirklicht. Wichtige zu lösende Fragen betreffen hierbei archiv- und datenschutzrechtliche Belange sowie einen zuverlässigen transparenten Herkunftsnachweis bezüglich der jeweils die Information liefernden Einzeldatenbank. Auf jeden Fall aber besteht Bedarf, auch in der Öffentlichkeit, nach Recherchemöglichkeiten über KZ-Häftlinge. Denn allein die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg gibt im Jahr etwa Eintausend Auskünfte zu Personen. Die Anfragen stammen meist von Angehörigen, teilweise sind es ganze Listen von Namen mit der Bitte um Prüfung, ob diese in den KZ-Unterlagen verzeichnet sind. Die sogenannten Stolpersteinprojekte sind dafür ein Beispiel. Solche Listenanfragen sind teilweise sehr aufwendig und legen daher schon allein zur Entlastung der Gedenkstättenverwaltung eine Automatisierung und öffentliche Recherchemöglichkeit nahe.
Einen anderen und bisher einmaligen Weg sind die KZ-Gedenkstätten bezüglich der Häftlingskartei des Wirtschaftsverwaltungshauptamts (WVHA) gegangen: Diese Daten wurden in einem gemeinsamen Projekt der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, zuletzt unter der Leitung von Christian Römmer, in enger Zusammenarbeit erfasst. Die 2009 fertiggestellte Datenbank steht seitdem in allen KZ-Gedenkstätten und weiteren beteiligten Institutionen zur Verfügung, allerdings in einzelnen Instanzen. Auch hier ist vorgesehen, diese Datenbank im Internet mit einem passwortgeschützten Expertenzugang zu installieren, um der Gefahr zu begegnen, dass sich die Instanzen auseinanderentwickeln. Die Verwirklichung dieses Plans ist deutlich früher zu erwarten als die Vernetzung der verschiedenen KZ-Datenbanken: Im Jahr 2011 ist mit einer gemeinsam genutzten WVHA-Datenbank zu rechnen.2
Als erster Gast stellte VIKTOR TUMARKIN vom Elektronischen Archiv in Moskau das Online Datenbankangebot OBD Memorial des russischen Verteidigungsministeriums zur Recherche nach Soldaten der Roten Armee vor. Die Motivation dieses Online-Angebots ist sehr stark von der Notwendigkeit geprägt, für Millionen von Angehörigen eine Möglichkeit zu schaffen, Wissen über das Schicksal von vermissten und gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges und danach bereitzustellen. Ziel sei es, Angehörigen z.B. Informationen über Beerdigungsorte von Armeesoldaten zu vermitteln; angesichts dieses existentiellen Bedürfnisses würden Kriterien des Datenschutzes und der Forschung zurücktreten. Das mit umfangreichen Finanzmitteln und Mitarbeiterzahlen betriebene Projekt stellt Dokumente aus zentralen und regionalen Verwaltungen, Spitälern und Lagern zur Verfügung. Nach dem Einscannen der Dokumente wurden die Daten in eine Datenbank eingegeben und einer Qualitätssicherung unterzogen, ehe das Ganze schließlich zu einem öffentlich zugänglichen Rechercheangebot zusammengestellt wurde.3 Die in russischer Sprache und damit selbstverständlich in kyrillischer Schrift zur Verfügung stehenden Seiten bieten die Möglichkeit, nach Personennamen zu fragen, wobei auch durch lückenhafte Eingabe auf Namensvarianten eingegangen werden kann. Man erhält eine Trefferliste mit den Informationen in den gefundenen Akten und das jeweilige Bild der eingescannten Akte, worin die Trefferzeile markiert ist. Die Akte kann in vergrößerter Ansicht betrachtet werden, um selbst zu beurteilen, ob Informationen richtig gelesen worden sind. Als Nutzer des Online-Angebots kann man auch Kommentare und Hinweise hinterlegen, die dann anderen wieder zur Verfügung stehen. Das Angebot steht seit 2007 zur Verfügung und verzeichnet seitdem rund 4 Millionen Besucher pro Jahr, täglich 16.000 aus 180 verschiedenen Ländern. In zahlreichen Dankesbriefen zeige sich der Erfolg des Projekts, so Tumarkin, vielen Menschen habe es sehr geholfen.
Zeitgleich mit der jährlichen Mitgliederversammlung der AGE sprachen Konferenzteilnehmer über weitere Planungen des Workshops „Digitalisierung von Opferdaten der NS-Zeit“. Die Diskussion behandelte die Themenblöcke Ortsnamenserfassung bzw. Georeferenzierung sowie die Möglichkeiten einer Meta-Inventarisierung der Archivalien und derer zahlreichen Kopien. Hintergrund ist das Vorhandensein zahlreicher Dubletten der Dokumente, deren Vervielfachung sich nun auf digitaler Ebene in Form von Bilddateien und Datensätzen problematisch potenzieren kann.4
Der zweite Tagungstag wurde von RENÉ POTTKAMP vom Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie Amsterdam eröffnet: Mit seinem Vortrag „Überlebende von Sobibor – Video-Zeitzeugeninterviews online“ stellte er das seit einem Jahr existierende Online Angebot „Sobibor Interviews“5 vor. Die Interviews waren von einem Überlebenden aus Sobibor, Jules Schelwis, geführt und später an das Institut übergeben worden. Sie stehen nun zum Anhören einschließlich Transkription, Übersetzung und Suchmaschine zur Verfügung. Ergänzt wird das Angebot durch eine große Zahl von Informationen zum Lager, zur Revolte vom Oktober 1943 und zu den Nachkriegsprozessen zu Sobibor.
Es folgte ALFONS ARAGONESES von der Universitát Pompeu Fabra, Barcelona, mit seinem Vortrag „Die Online-Datenbank der spanischen Deportierten in die NS-Lager“ des katalanischen Memorial Democràtic6, worin er die Bedeutung dieser Möglichkeit zur Aufarbeitung dieser Schicksale für die spanische Gesellschaft herausstellte: Nach dem Kriegsende konnte in Spanien eine solche Aufarbeitung noch lange nicht stattfinden, da sie unter der Diktatur nicht erlaubt und auch in der folgenden Demokratie Spaniens lange nicht erwünscht war. Erst 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur wurden Veranstaltungen und Projekte initiiert, um die Geschichte der Deportierten aufzuarbeiten: ihre Gefangenschaft, Deportation, ihr Aufenthalt im Konzentrationslager und gegebenenfalls noch ihr weiterer Widerstandskampf gegen die spanische Diktatur. Es waren ca. 10.000 Menschen, von denen mehr als 6000 umkamen: Widerstandskämpfer, Nationalisten und Personen, die aus anderen Gründen in dieses Schicksal getrieben worden waren. Für die Datenbank wurden Daten aus einer Reihe von Quellen vergleichend aufbereitet und es werden noch weitere Quellen eingearbeitet werden, z.B. wird das Projekt 2011 Quellen aus Caen in Frankreich mit Informationen über die Deportationen von 7000 Menschen nach Mauthausen integrieren. Die Datenbank wird es als Online-Angebot auch in Deutsch und in anderen Sprachen geben. Die öffentliche Datenbank wird allerdings nur die datenschutzrechtlich unbedenklichen Teile beinhalten. Daneben soll es einen Expertenzugang geben für weitergehende Informationen. Geschützte Daten allerdings wie Krankheiten und politische Aktivitäten von Personen werden nur auf Antrag einsehbar sein. Die Veröffentlichung und Bereitstellung der Daten dient sowohl der individuellen Erforschung des Schicksals vermisster Angehöriger als auch der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Geschehnissen für eine verantwortungsbewusste bürgerliche Entwicklung in Spanien und ganz Europa.
ALEXANDER AVRAHAM präsentierte im Folgenden „Das Namensprojekt der Gedenkstätte Yad Vashem“. Seit 2004 stellt es eine Online-Recherche der Shoah-Opfer zur Verfügung7 und weitet seinen Inhalt beständig aus: Heute sind es über 5,8 Millionen Namen zu über 3,8 Millionen Personen und bis Ende des Jahres 2010 sollen es vier Millionen individuelle Namen sein. Die Dokumente und Zeugenaussagen unterschiedlichster Herkunft werden hier zusammengetragen, um die Erforschung individueller Schicksale der Juden zu ermöglichen und vor dem Vergessen zu bewahren. Die Seite wird aus 226 Ländern besucht. Die Nutzer können selbst Ergänzungen und Korrekturen vorschlagen, sie werden dann eingearbeitet. Die osteuropäischen Opfer sind noch in weit geringerer Zahl in der Datenbank enthalten, weil dort die Quellenlage schlechter ist. Jedoch werden in Ländern wie Weißrussland gezielt Unternehmungen zur Befragung von Zeugen und zum Besuch der Behörden durchgeführt. Die Datenbank verfügt über indizierte Namensvarianten und Ortsnamen. Cluster-Suche über mehrere Datenbanken und webbasierte Anbindungen an Geosysteme sind in Arbeit.
Der letzte Tagungsbeitrag seitens des Workshops „Digitalisierung von Opferdaten der NS-Zeit“ wurde von RANDOLPH DAVIS vom United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.8, beigesteuert. Er trug den Titel "Digitalisierung des Holocaust". Hier hat man sich vorgenommen, Zeugenaussagen von Überlebenden zu sammeln und digital zur Verfügung zu stellen. Auf der Homepage steht ein Formular zur Verfügung, in dem Überlebende sich identifizieren und ihre Aussagen machen können. Aus Datenschutzgründen kann nur ein Teil dieser Daten online zur Verfügung gestellt werden. Die Zeugnisse sollen mit weiteren Dokumenten angereichert werden und die Suchmaschine soll flexibel verschiedene Datenbanken anbinden.
Nach diesen sechs Vorträgen zum Themenkomplex Veröffentlichung und Vernetzung von Daten zum Holocaust folgten noch zwei Vorträge aus dem Themenkreis der Arbeitsgemeinschaft Geschichte und EDV: JOACHIM LACZNY von der Universität Hamburg stellte unter dem Titel „Friedrich III. (1440 – 1493) auf Reisen. Die Erstellung eines Itinerars eines spätmittelalterlichen Herrschers unter Anwendung eines historisch-geographischen Informationssystems (his-GIS)“ den Versuch dar, anhand der Urkundenausstellungsorte das Itinerar eines spätmittelalterlichen Kaisers nach Raum und Zeit in eine Google-Earth-Karte zu bringen, die dann auch animiert den Verlauf zeitgesteuert visualisiert9. Die so hergestellte Abbildung ist ein Hilfsmittel und lädt zu neuen Fragestellungen ein, die Reisetätigkeit zu analysieren, wie der Suche nach örtlichen Schwerpunkten, „Residenzen“, und abwechselnden Phasen von Sesshaftigkeit oder starker Reisetätigkeit.
Den Abschluss bildete MARK DEPAUW von der Katholieke Universieit Leuven / Universität Köln mit seinem Vortrag zu „Trismegistos: Eine Kooperations-Plattform über Dokumente und Personen in Ägypten, 800 v. Chr. – 800 n. Chr.“ Er führte eine bereits sehr weit fortgeschrittene Online-Publikation10 vor, die zentral mindestens zwölf verschiedene Datenbanken unterschiedlicher Projekte und Institute nach Quellen, Personen und Orten zur Ägyptischen Geschichte im genannten Zeitraum durchsucht. Die Namen sind inklusive aller möglichen grammatikalischen Formen hinterlegt. Die Personen werden vom Suchalgorithmus zu Genealogien vorschlagsweise zusammengeführt. Das Portal Trismegistos dient der weiteren analytischen Forschung. Es ist eine grundlegende systematische Entwicklung und könnte mit wenig Anpassungsaufwand auch für historische Themen anderer Zeitalter und anderer Quellensprachen angewendet werden.
In der Abschlussdiskussion wurde dieser Gedanke aufgegriffen und erörtert, ob und wie eine solche Portalentwicklung auf Themen der modernen Geschichte anwendbar sei. Grundsätzlich wurde diese Frage vom Plenum bejaht. Allerdings wurden Bedenken und Befürchtungen angemeldet, ob die hinter dem Portal stehenden ursächlichen Datenbanken mit ihren Herausgebern zu sehr in den Hintergrund rücken und zu gering geschätzt würden; ebenso sei die Datenschutzproblematik zu berücksichtigen. Da beide Ziele, die wissenschaftliche Nachweiskultur und die Umsetzung der Datenschutzvorschriften in vielen Vorträgen überzeugende Beispiele gezeigt hatten, wurden diese Bedenken nicht von allen Teilnehmern geteilt.
Konferenzübersicht:
Begrüßung: Johannes Ibel (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg), Kai Ruffing (Universität Marburg)
Johannes Ibel (KZ-Gedenkstätte Flossenbürg): Alles vernetzt? Die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Daten und das Internet
Viktor Tumarkin (Elektronisches Archiv, Moskau): OBD Memorial – Die Online-Datenbank aller während des Zweiten Weltkriegs oder danach gefallenen oder vermissten sowjetischen Soldaten
Diskussion über weitere Planungen des Workshops „Digitalisierung von Opferdaten der NS-Zeit“
Jährliche Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft Geschichte und EDV (AGE)
René Pottkamp (Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie, Amsterdam): Überlebende von Sobibor – Video-Zeitzeugeninterviews online
Alfons Aragoneses (Universitát Pompeu Fabra, Barcelona): Die Online-Datenbank der spanischen Deportierten in die NS-Lager
Alexander Avraham (Yad Vashem, Jerusalem): Das Namensprojekt der Gedenkstätte Yad Vashem
Randolph Davis (United States Holocaust Memorial Museum, Washington D.C.): Digitalisierung des Holocaust
Joachim Laczny (Universität Hamburg): Friedrich III. (1440 – 1493) auf Reisen. Die Erstellung des Itinerars eines spätmittelalterlichen Herrschers unter Anwendung eines historisch-geographischen Informationssystems (his-GIS)
Mark Depauw (Katholieke Universiteit Leuven / Universität Köln): Trismegistos: Eine Kooperations-Plattform über Dokumente und Personen in Ägypten, 800 v. Chr. – 800 n. Chr.
Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
1 <http://www.gedenkstaette-flossenbuerg.de> (26.03.2011).
2 Andere große aktuelle Projekte der KZ-Gedenkstätten, die sie teils in eigener Initiative durchführen, denen sie sich teils aber auch anschließen, seien hier nur erwähnt: AIDA (Adaptiver Interaktiver Digitaler Atlas), EHRI (European Holocaust Research Infrastructure) und DARIAH (Digital Research Infrastructure for the Arts and Humanities).
3 <http://www.obd-memorial.ru> (26.03.2011).
4 Die nächsten Workshops finden vom 7. bis 8. Oktober 2011 in Hamburg (KZ-Gedenkstätte Neuengamme) sowie im Herbst 2012 in Barcelona (Memorial Democratíc / Universitát Pompeu Fabra) statt.
5 <http://www.sobiborinterviews.nl> (26.03.2011).
6 <http://www20.gencat.cat/portal/site/memorialdemocratic> (26.03.2011).
7 <http://www.yadvashem.org/wps/portal> (26.03.2011).
8 <http://www.ushmm.org> (26.03.2011).
9 <http://www.his-gis.net> (26.03.2011).
10 <http://www.trismegistos.org> (26.03.2011).