Visual Humanities. Typisierungen des Menschen um 1900

Visual Humanities. Typisierungen des Menschen um 1900

Organisatoren
Institut für England- und Amerikastudien / Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik und Kunstpädagogik, Goethe Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.02.2011 - 19.02.2011
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Von
Nina Holst, Institut für England- und Amerikastudien, Goethe Universität Frankfurt am Main

Der Workshop „Visual Humanities. Typisierungen des Menschen um 1900“ widmete sich der Frage, wie in den Wissenschaften vom Menschen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, anthropometrische Verfahren nicht nur in differenzbildender Absicht eingesetzt wurden, sondern auch normative Standards des ‚Menschen‘ etablierten. Diese wiederum entfalteten ihre Wirkung in unterschiedlichen Medien, darunter auch in der Literatur, der künstlerischen Fotografie und im Film.

Einleitend stellte Susanne Scholz eine Reihe von Leitfragen vor, die die Untersuchung der verschiedenen Typenbildungen in Wissenschaft, Kunst und Literatur auf eine gemeinsame Basis stellen sollten. Der historische Moment, um den sich die Beiträge in verschieden weiten Kreisen drehten, zeichne sich durch zwei ineinandergreifende, grundsätzliche Veränderungen aus: eine Ausdifferenzierung in den Wissenschaften und die Medienrevolution, die die Fotografie darstellte. Es seien die Ergebnisse des Zusammentreffens dieser Änderungen, so Scholz, die es gesellschaftlich erlaubten, Differenzen festzulegen und Normen zu bilden, die – im Vergleich zum achtzehnten Jahrhundert – eine Verschiebung vom Individuum zum Typ maßgeblich beeinflussten. Verena Kuni setzte einen weiteren Schwerpunkt in ihren einleitenden Worten, die nicht nur Typisierungsverfahren seit Galen vorstellten, sondern auch grundsätzlich das Bild/Text-Verhältnis beleuchteten. Sie unterstrich, dass das Paradigma der Ersichtlichkeit und Evidenz durch die notwendig beigefügten Narrative (Legenden, Statistiken, Erläuterungen usw.) sich immer schon selbst in Frage stellt.

Das Gesicht (und seine Lesbarkeit) stand mehrfach im Fokus der Aufmerksamkeit. SUSANNE SCHOLZ (Frankfurt am Main) schlug eine Brücke zwischen Francis Galtons ‚composite photography‘ und spätviktorianischer Literatur. Galtons Versuch, Typen durch bildgebende Verfahren zu erarbeiten, ist als Teil eines größeren eugenischen Projekts der Zeit zu sehen, das Kriminalität genauso zu definieren sucht wie einzelne Krankheiten oder Rassetypen. Das Komposit (die Überblendung mehrerer Bilder) bildet – entgegen dem Versprechen der Fotografie – nicht die Realität ab; stattdessen will Galton seine Arbeit als „portrait of a type“ verstanden wissen. Qua Ähnlichkeit soll dann Zugehörigkeit diagnostiziert werden. Die Literatur der Zeit reagiere auf diesen positivistischen Ansatz mit Skepsis. Obwohl quasi-fotografische Beschreibungen Teil der spätviktorianischen Romanlandschaft sind, gehe es Genres wie dem ‚urban gothic‘ gerade um das Angstpotential, das die Unlesbarkeit des Anderen (Gesichts) birgt. Als geradezu durchsetzt von diesen Themen liest Susanne Scholz "Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde" von Robert Louis Stevenson. Die Unlesbarkeit von Hydes Gesicht stellt die beobachtende Instanz vor das Problem, wie man es taxonomisch ‚dingfest‘ – und damit gesellschaftlich unschädlich – machen kann.

Auch der zweite Vortrag beschäftigte sich mit der Lesbarkeit des Gesichts. DANIEL DORNHOFER (Frankfurt am Main) sprach über die vielseitigen Ansätze, über das Judentum als Rasse nachzudenken und die ‚wissenschaftlichen‘ Verfahren, die herangezogen wurden, um essentialistische Ergebnisse festzuhalten bzw. zu produzieren. Jüdische Wissenschaftler in Großbritannien bemühten sich nämlich nicht, die Gültigkeit dieser Verfahren zu widerlegen, sondern versuchten vielmehr, positive jüdische Eigenschaften an der Oberfläche des jüdischen Gesichts ablesen. Im Zentrum standen hierbei die Forschungen von Radcliffe Nathan Salaman, der neben seinen richtungsweisenden Forschungen zur Genetik der Kartoffel auch die Rassefrage mit mendelschen Prinzipien zu deuten suchte. So sind laut Salaman Abweichungen vom jüdischen Typ nicht zeitgenössischer Vermischung geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Juden durch Vermischung mit anderen Völkern bereits vor dem babylonischen Exil als hybride Rasse verstanden werden müssten. Spätestens seit der Zerstörung des Tempels sei es nicht mehr zu Vermischungen gekommen. Die Vielfalt des jüdischen Antlitzes spiegele demnach semitische, hethitische, ammonitische und philistische Züge wider, jedoch nicht europäische. Diese angesetzte Aufteilung muss sich – nach mendelschem Verständnis – auch im zeitgenössischen Typ widerspiegeln und somit ist – laut Salaman – die Heterogenität der aschkenasischen Juden als Zeichen ihrer Reinheit zu lesen. So lässt sich Jüdisch-sein in die englische Kultur – deren Moralvorstellungen und Habitus er nahe den eigenen sieht – eingliedern, und obwohl osteuropäische Juden sich religiös, sozial und kulturell stark unterscheiden, kann diese Heterogenität über die biologische Zugehörigkeit erklärt werden.

ANITA TRANINGERs (Berlin) Fokus lag auf dem spanischen Schriftsteller und Herausgeber Mariano José de Larra. Mit den ‚artículos de costumbres‘ arbeitete Larra in einem Genre, welches es sich zur Aufgabe machte, ‚authentisches‘ spanisches Leben bildhaft darzustellen. Die Texte müssen im Kontext eines gespaltenen Spanien gelesen werden, das sich zwischen liberalen und konservativen Kräften zu verlieren drohte. Inhaltlich lässt Larra – anders als andere Vertreter des Genres – Typen aufeinandertreffen (el torero, la castañera etc.), die als grundlegend spanisch zu verstehen seien. Es fällt auf, dass es sich bei diesen Typen allerdings nur um einen Ausschnitt der spanischen Gesellschaft handelt, der von (klein)bürgerlichen Vertretern dominiert wird. Auch ist der Blick, der hier als objektiv konstruiert wird, ein auffällig nostalgischer, der gerade das beschreibt, was am verschwinden ist. So ist es schwierig von Authentizität zu sprechen, wenn das Genre sich – besonders für Larra – intertextuell definiert und inhaltlich auf eine Gruppe referiert, die so – wenn es sie überhaupt gegeben hat – nicht mehr als repräsentativ gelten kann. Anita Traninger las Larras Texte aus den genannten Gründen nicht als einen Versuch Wirklichkeit darzustellen, sondern als eine Form von Typisierung, die in einer Bewegung nicht nur den Typ ‚modernes Spanien’ konstruiert, sondern gleichzeitig das Andere umreißt, von dem man sich abwenden und gegen das man sich, quasi ex negativo, selbst definieren soll.

THOMAS RÖSKE (Heidelberg) beschäftigte sich mit Bildern von Sascha Schneider, der im Auftrag des Autors alternative (und seltener gesehene) Titelabbildungen für Karl Mays Bücher zeichnete. In diesen Bildern ging es darum, einen Idealtypus (von Männlichkeit) darzustellen, der sich vor allem durch Muskelkraft, körperliche Gesundheit und Starrheit auszuzeichnen scheint. Mays Wandel zum Philosophen ließ ihn den ‚tieferen Sinn’ seiner Texte in Schneiders Bildern manifestiert sehen. Sein „Edelmensch“ ist dabei nicht unbedingt deckungsgleich mit den undynamischen Figuren Schneiders zu lesen (Diskussionen der beiden Künstler beinhalteten auf Seiten Mays Forderungen nach mehr Innenwelt). Für Schneider steht ganz klar der Körper im Mittelpunkt – soweit, dass vor allem in späteren Bildern der dreidimensionale Körper auf zweidimensionalen Hintergrund projiziert wird – es geht ihm dabei darum, Gestalten zu bilden, die sich gerade nicht durch Dynamik auszeichnen. Die übersteigerte Virilität wird dabei zur Eigenschaft eines Idealtyps von Körperbau, der zusammen mit dem Beginn von Krafttraining gelesen werden muss, welches Schneider in einem von ihm mitgegründeten Institut für Körperbildung und Erziehung umzusetzen suchte.

ELKE GAUGELE (Wien) richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Form der Erziehung, die sich fast genauso hautnah manifestiert wie die Schneiders. Die Frauenkleiderreform in Deutschland ist in dieser Vehemenz wohl ein Einzelfall im europäischen Kontext. Gaugele stellte eine Reihe von Fragen in den Raum, die sich auf Art der Darstellung, deren Motivation und den kontextuellen Schönheitsdiskurs richteten. Zunächst ging es ihr um die kulturelle Rolle von Kleidung und deren koloniale Aspekte. Über die Idee einer nationalen Mode (und normativen Vorstellung eines zu kleidenden Volkskörpers) wurde der Hintergrund konstruiert, auf dem dann Paul Schultze-Naumburgs "Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung" von 1901 gelesen wurde. Die gelegentlich pornographisch anmutenden Bilder, die Schultze-Naumburgs Argument unterstützen sollen, werden herangezogen, um Schönheit am weiblichen Körper zu definieren und dabei auf dessen Natürlichkeit zu insistieren. Das Korsett wurde dabei als Instrument unnatürlicher Körperformung ausgestellt.

In einem Gewaltmarsch durch zahlreiche Bilder aus den unterschiedlichsten Epochen und Kontexten zeigte VERENA KUNI (Frankfurt am Main) wie sich das verhüllte Gesicht als wiederkehrender Typ zu installieren scheint. Die Auswahl – meist weiblicher – Gestalten zeigt hierbei gewisse durch die Zeit stabil bleibende Eigenschaften. Das unsichtbare Gesicht wird auf verschiedene Wege ‚verschleiert’, die Möglichkeiten dies zu tun, sind oft medienabhängig. Die Farbe weiß ist ein wiederkehrendes Motiv; indem sie die Konnotation des Geisterhaften in sich trägt funktioniert sie quasi als sichtbarer Signifikant des eigentlich Unsichtbaren.

Ein Text, dessen Basis gerade das Sichtbare ist, stand im Mittelpunkt des Vortrages von SUSANNE KOMFORT-HEIN (Frankfurt am Main). Max Picards "Menschengesicht" ist ein Text der religiös-anthropologisch verfährt. Picard definiert die Zustände seiner Gegenwart als Zeitalter des Verfalls. Auch hier war die Rolle, die das Gesicht spielt nicht zu unterschätzen. So geht Picard davon aus, dass eine metaphysische Physiognomie zur Rettung des Menschen notwendig ist. Hierbei soll es nicht darum gehen, mit technologischen Mitteln einen Typ festzustellen, wie das bei Galton versucht wurde, denn die Seele sei – so Picard – nicht am Körper abzulesen. Was abzulesen ist, ist die Zerstückelung des modernen Körpers, die Sezierung des Körpers durch den Blick und das falsche Abbild, das durch die Fotografie (re)produziert wird. Die technische Reproduzierbarkeit ist es, die das Individuelle zerstört und die „Schöpfung Gottes im Menschengesicht“ (Picard) verhindert. So ist für ihn das „Kinogesicht“ das moderne Gesicht par excellence, das in der Masse nicht zu fixieren ist und stattdessen nur in der eigenen Bewegung als existent aufblitzt.

BJÖRN WEYANDs (Frankfurt am Main) Beitrag arbeitete in einem Dreischritt. Er zeigte, wie Ernst Kretschmer, Bertolt Brecht und August Sander mit typisierten, lesbaren Körpern umgehen. Kretschmer arbeitet mit empirischen Daten, die er in einem doppelten Paradigmenwechsel radikal auf Typen reduziert. Zum einen ersetzt er die Schädelvermessung durch das Lesen von Gesichtern und zum anderen geht es ihm nicht um das Individuum, sondern primär um den Typ. Dabei bedient er sich der Einteilung des Körperbaus in asthenisch, athletisch und pyknisch, denen er dann bestimmte Eigenschaften zuschreibt. Brecht hingegen zeigt den Menschen als Produkt von Massenproduktion und behandelt ihn auch als technisches Konstrukt. Der Protagonist seines Stückes "Mann ist Mann" wird dementsprechend als ‚montierbar‘ dargestellt. Sanders Typisierung arbeitet innerhalb einer fotografischen Logik. Hier werden Eigenschaften an Bildern abgelesen, die nach Berufsfeldern unterteilt sind. Auffällig wurde bei den Vorträgen von Komfort-Hein und Weyand, dass Zugehörigkeit im deutschen Raum synchron zu funktionieren scheint, während es im britischen Kontext oft um die diachrone Weitergabe von Typenmerkmalen, das heißt um Heredität geht.

ANDREAS BECKER (Frankfurt am Main) beschäftigte sich in seinem Vortrag mit Typenbildungen, die sich auf das Gesicht im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit konzentrieren. Einerseits wurde hier auf Eadweard Muybridge verwiesen, der in seinen Studien zu Bewegung nicht nur wissenschaftliches Wissen produzierte, sondern auch Konsumgüter schaffte, die er – versehen mit Beschreibungen nach Typ – in einem Katalog sammeln ließ. Zugehörigkeit zu einem Typ wird den Konsumenten hier über das Prinzip der Ähnlichkeit angetragen. Die mediale Weiterentwicklung der Bewegungsstudien im Film nutzte die Typisierungen des Gesichts zum Beispiel in der Technik des close-up. Die Großaufnahme war einer bestimmten Ästhetik unterworfen, die D. W. Griffith als für den mimetischen Prozess notwendig voraussetzte. So entstanden typische Posen und Konventionen der Darstellung, die an Individuen durch Selbstinszenierung beginnen, aber dann zum Typ werden, wenn sie auf anderen Körpern reproduziert werden, wie Becker am Beispiel von Mary Pickford und der Gish Schwestern vorführte.

Die Idee der Typenbildung wurde als verbreitetes Verfahren der Zeit um 1900 immer wieder als Methode der Komplexitätsreduktion, Vereinheitlichung und damit Beherrschung bedrohlicher Differenzen herausgearbeitet. Disziplinenübergreifend, medienübergreifend und Landesgrenzen übergreifend hat die Typisierung ihre wirklichkeitserzeugende Kraft in einer Art und Weise geltend gemacht, deren Wirkungen bis heute nachhallen.

Konferenzübersicht:

Susanne Scholz (Frankfurt am Main): „Face Books. Physiognomische Lektüren in der spätviktorianischen Literatur“

Daniel Dornhofer (Frankfurt am Main): „‚Racial Origins of Jewish Types’: Jüdische Selbstverortung im Rassendiskurs der Jahrhundertwende“

Anita Traninger (Berlin): „Beobachtungsparadigma, Typisierung und Intertextualität am Beispiel von Mariano José de Larras ‚Artículos’ in ihrem europäischen Kontext“

Thomas Roeske (Heidelberg): „‚Auferstehung des Fleisches, in dieser geschätzten Welt schon’. Sascha Schneiders Titelbilder zur Gesamtausgabe Karl Mays“

Elke Gaugele (Wien), „‚Plastisch erschaute Idealbilder’. Biopolitiken der Mode im Blickregime der kolonialen Moderne“

Verena Kuni (Frankfurt am Main): „(Un)Sichtbar: Zur Typisierung des Entzugs“

Susanne Komfort-Hein (Frankfurt am Main): „‚Aus dem Chaos fixieren’: Zur (Un)lesbarkeit des Menschen zwischen ‚eigentlichstem Wesen’ und Ornament der Masse“

Björn Weyand (Frankfurt am Main): „‚Wer blickt, wird rasch belehrt werden’. Zur Topik des Typologischen im neusachlichen Jahrzehnt“

Andreas Becker (Frankfurt am Main), „Technische Reproduzierbarkeit und Typisierung in der Chronofotografie im frühen Film“

Julika Griem (Darmstadt), „Funny Bones. Kontinuitäten visualisierender Forensik zwischen 1900 und 2000“ (entfallen)


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