„Deutsche Zeitgeschichte nach 1945: Stand der Forschung aus westeuropäischer Sicht“, unter dieser Überschrift hatten die Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland (DGIA) und das Auswärtige Amt, in Zusammenarbeit mit den Deutschen Historischen Instituten in Paris, London und Rom, dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam zu einer internationalen Tagung nach Berlin eingeladen. Mit dem Thema nahmen die Organisatoren die Idee einer relativ neuartigen Akzentuierung der deutschen Zeitgeschichtsforschung auf: Nicht mehr allein deutsche Geschichte wird geschrieben, die Geschichtswissenschaft versucht vielmehr, die Ereignisse und Prozesse der jüngeren Vergangenheit im europäischen, wenn nicht gar im globalen Kontext zu begreifen. Welchen Blick haben unsere westeuropäischen Nachbarn auf die jüngsten Ereignisse der deutschen Geschichte, wie kann die deutsche Zeitgeschichte von einer distanzierteren Perspektive profitieren? In den Vorträgen wurde daher nicht nur nach einer gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte gefragt, es wurden auch Wege aufgezeigt für eine stärkere Europäisierung der deutschen Zeitgeschichte und eine Prüfung des Umgangs mit nationalgeschichtlich geprägten Chronologien und Zäsuren.
Die Öffnung der Archive des SED-Staates hat in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur in der DDR-Forschung eine regelrechte „Goldgräberstimmung“ ausgelöst, jedoch immer begleitet von den Problemen einer politisch aufgeladenen Zeitgeschichtsforschung. Seit der Beschäftigung mit dem NS-Regime lastet auf der deutschen Geschichtsforschung die Problematik einer vielfachen Prägung; sei es die zu erörternde Schuldfrage, der Umgang mit ehemaligen NS-Funktionären oder der gesellschaftliche Auftrag von Aufklärung und moralischer Erziehung, der an die Geschichtswissenschaft gestellt wurde. Die Beschäftigung mit der DDR-Geschichte erfordert hingegen die Überwindung der Diskrepanz zwischen der Aufarbeitung der DDR als einem Unrechts-Regime und der von den DDR-Bürgern erlebten Alltagsnormalität. In den letzten Jahren sind unzählige Publikationen erschienen, die quantitativ in einer starken Unverhältnismäßigkeit zu den Abhandlungen zur Geschichte der Bundesrepublik stehen. Dennoch erscheine, so die Kritik am aktuellen Forschungsstand der deutschen Zeitgeschichte von KARL CHRISTIAN LAMMERS (Kopenhagen) und ANDREAS WIRSCHING (Augsburg), die DDR-Geschichte vielfach nur als Anhängsel der Geschichte der Bundesrepublik und der Blick der deutschen Zeitgeschichte werde durch eine normative, westdeutsche Perspektive bestimmt. Als Desiderat der deutschen Zeitgeschichte wurde von den Organisatoren die Notwendigkeit einer gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte postuliert, verbunden mit der Frage, ob mit zwanzigjähriger Distanz zur deutschen Einheit ein solches Unternehmen in Angriff genommen werden könne.
HORST MÖLLER (München) konstatierte in seinem Eröffnungsvortrag, dass deutsche Zeitgeschichte gleichbedeutend mit Diktaturgeschichte sei und dass die deutsche Sonderwegsthese als Verengung auf eine nationalgeschichtliche Perspektive langsam ausgedient habe. Demgegenüber kann der Versuch, eine gesamtdeutsche oder künftig gesamteuropäische Nachkriegsgeschichte zu schreiben, neue, vergleichende Perspektiven erschließen. TON NIJHUIS (Amsterdam) hingegen machte den Vorschlag, Deutschland als regionale Einheit im weltgeschichtlichen Prozess zu erfassen: Dieser übergreifende Ansatz, der nicht auf den Begriff des Staates beschränkt ist und der der problematischen Konnotation des Begriffs der Nation ausweicht, wäre imstande, die nationale Perspektive, die Deutschland auf die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit hat, in einen globalen Kontext zu integrieren. Die Binnensicht könnte somit überwunden werden, ohne sie jedoch gänzlich aufzuheben. Ferner sei das Konzept des Wiederaufbaus nach wie vor für die deutsche Zeitgeschichte tragbar und in Bezug auf den Prozess des Zusammenwachsens der beiden Teile Deutschlands auch für die Gegenwart noch interessant.
Erschwerend für die interdisziplinäre Erforschung der deutschen Nachkriegsgeschichte ist, folgt man JAY ROWELL (Straßburg), die Spaltung zwischen Politologie und Soziologie in Deutschland, die – anders als in Frankreich – zu zwei parallel laufenden Forschungssträngen geführt habe. Er befürwortete, die DDR-Geschichte in eine gesamteuropäische Geschichte einzubeziehen. GUSTAVO CORNI (Trient) forderte mit Nachdruck, sich bei der Behandlung der deutschen Nachkriegsgeschichte von ideologischen Schemata abzuwenden. Die einseitige Gegenüberstellung einer bösartigen staatlichen Maschinerie und des unschuldigen Bürgers müsse zu Gunsten einer deutlicheren Darstellung der Wechselwirkung zwischen den Bereichen des Politischen und des Gesellschaftlichen aufgelöst werden. Für das Konzept einer gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte vertrat EDGAR WOLFRUM (Heidelberg) den Ansatz, die Bundesrepublik als „lernende“ Demokratie darzustellen. DOROTHEE WIERLING (Hamburg) wies in einem Kommentar darauf hin, dass besonders die Rolle der 68er-Bewegung ein nach wie vor erklärungsbedürftiges Phänomen bleibe, da sich dieser so massive schichtspezifische Generationenkonflikt nur in der Bundesrepublik und keinesfalls in der DDR entladen habe. Gleichzeitig kritisierte sie jedoch auch die Überforschung der 68er-Bewegung und des 70er-Jahre-Terrors in Deutschland und schrieb dies der Suche nach einem Rest heroischer Geschichte zu.
Ein anderes Thema der Tagung waren die Zäsuren der deutschen Zeitgeschichte. Dabei stellte sich die Frage, inwiefern die Zäsur von 1945 von Relevanz ist und ob eine aktuelle deutsche Zeitgeschichte überhaupt denkbar ist, ohne die Zeit vor 1945 auch in den Blick zu nehmen. Für HÉLÈNE MIARD-DELACROIX (Paris) ist 1945 der wichtigste Einschnitt. Die Zäsur von 1989/90 müsse vor diesem Hintergrund zwangsläufig eine gewisse Relativierung erfahren. Sie setzte die Entwicklung in Deutschland und Frankreich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ein Verhältnis zueinander und sprach von einem vergleichbaren Angleichungsprozess, auch wenn die großen Umbrüche nicht zeitgleich erlebt wurden. Auch für andere Zäsuren wurden Neubewertungen vorgeschlagen: So etwa von KARL CHRISTIAN LAMMERS (Kopenhagen), der besonders den NATO-Beitritt Deutschlands als einen für die skandinavischen Staaten bedeutsamen Einschnitt in der Geschichte der Bundesrepublik präsentierte. EDGAR WOLFRUM (Heidelberg) verwandte sich für „mentalitätsgeschichtliche“ Zäsuren, die er beispielsweise Mitte der 1950er-Jahre in der Formierung der Dritten bzw. Vierten Welt ansetzen würde oder Mitte der 1970er-Jahre in der Ökonomisierung der Politik. KONRAD JARAUSCH (Berlin/Chapel Hill) setzte sich für eine stärkere Betonung der Entwicklung zu einer High-Tech-Gesellschaft in einer globalisierten Welt ein und stellte besonders den 11. September 2001 als möglichen Wendepunkt der neueren Weltgeschichte heraus.
Eng mit der Frage nach zeitgeschichtlichen Zäsuren verbunden wurde auch die Frage nach der Erinnerung erörtert. GEORG KREIS (Basel) rückte die allgemeine Tendenz zur Individualisierung der Erinnerungen und die sich daraus für die aktuelle Zeitgeschichtsforschung ergebenden Probleme in den Mittelpunkt. Ein anderer generationsgeschichtlicher Aspekt wurde von MARK ROSEMAN (Bloomington) thematisiert, indem er ausführlich den Veränderungen im öffentlichen und privaten Erinnern infolge der 68er-Bewegung nachging. Nicht nur seien über der intensiven Beschäftigung mit dem Holocaust Kriegsfolgen aus dem Blickfeld geraten, auch habe das laute Auftreten der 68er-Generation dazu geführt, normative Forderungen an die Erinnerungskultur zu stellen, die mit einer authentischen Erinnerung nicht viel gemein gehabt hätten. Das habe, so Roseman, zu einer „Repression des kollektiven Gedächtnisses“ geführt. Im gleichen Themenpanel äußerte sich GEORGI VERBEECK (Maastricht) zur weltweiten und besonders in den westlichen Staaten verbreiteten Entschuldigungskultur, ohne dabei jedoch näher auf die Fragestellung der Tagung einzugehen.
Dem Konzept der Tagung entsprechend wurde die Diskussion um die Einbettung der deutschen Zeitgeschichte in einen europäischen Kontext mit vielfältigen Beiträgen bedacht. Am Beispiel des Mauerfalls und des Wiedervereinigungsprozesses machte GABRIELE METZLER (Berlin) deutlich, dass es sich bei bestimmten Ereignissen um zwar um zentrale, zugleich aber auch nicht ausschließlich der deutschen Zeitgeschichte zuzuordnende Ereignisse handele und wies darauf hin, dass nach 1990 auch mangels eines Fluchtpunktes die gesamteuropäische Entwicklung in den Blick genommen werden müsse, bis hin zu einer Integration in globale Zusammenhänge. Eine Ansicht, die von ANDREAS RÖDDER (Mainz) unterstützt wurde. Er sah in der Europäisierung der deutschen Zeitgeschichte ein sinnvolles Konzept, das Differenzierungen erlaube. HÉLÈNE MIARD-DELACROIX und ÉTIENNE FRANÇOIS (beide Paris) akzentuierten stärker die deutsch-französischen Verflechtungen und befürworteten in diesem Zusammenhang eine bilaterale Herangehensweise, welche die deutsche Zeitgeschichte auch als Teil der französischen Zeitgeschichte darstellen könnte. ÉTIENNE FRANÇOIS (Paris) wies hier vor allem auch auf die strukturellen Ähnlichkeiten der DDR zu Frankreich hin, was zu einer weniger normativ-abwertenden Haltung gegenüber der DDR geführt und einen Blick auf die Vielschichtigkeit der DDR-Gesellschaft ermöglicht habe. Mit Europa als einer Ersatzgröße suchte TON NIJHUIS (Amsterdam), die Nationalgeschichte fortzusetzen und sie dabei in einen größeren Kontext zu integrieren. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist ferner der Blick, den man aus kleineren Staaten auf Deutschland hat: So erinnerte KARL CHRISTIAN LAMMERS (Kopenhagen) an die Probleme nicht nur der skandinavischen Staaten mit Deutschland und deren Zweifel an der Demokratiefähigkeit und Glaubwürdigkeit der frühen Bundesrepublik.
In der Abschlussdiskussion, die der Frage nach den Desiderata gewidmet war, schlug ANDREAS WIRSCHING (Augsburg) vor, statt der zu einseitigen Ausrichtung auf Westdeutschland und der Neigung der deutschen Zeitgeschichtsforschung zu einem Normativitätsüberschuss, stärker den allgemeinen Paradigmenwechsel nach 1990 in den Blick zu nehmen und sich auch auf Verrechtlichungsprozesse sowie Verwaltungs- und Mediengeschichte zu konzentrieren. KONRAD H. JARAUSCH (Berlin/Chapel Hill) forderte eine Reflexion der westdeutschen Sicht und in diesem Zusammenhang eine stärkere Integration der ostdeutschen Perspektive. Er bedauerte, dass die großen Synthesen der deutschen Zeitgeschichtsforschung bislang nur aus westdeutscher Sicht geschrieben worden sind.
Unbeantwortet blieb hingegen weitgehend die von den Organisatoren der Tagung formulierte Frage, wie mit der Diskrepanz zwischen der Unrechts-Aufarbeitung und der Alltagserfahrung in der DDR umzugehen sei. Stattdessen wurden andere Erweiterungen des Themenspektrums vorgeschlagen, so von HORST MÖLLER (München), der sich für eine Modernisierungs- und Technologiegeschichte sowie für eine Geschichte der Dritten und Vierten Welt verwandte. Für eine stärkere Betrachtung der medialen Demokratie und Postdemokratie, der medialen Manipulation und einer Geschichte der Kolonialisierung sowie Dekolonialisierung sprach sich GIAN ENRICO RUSCONI (Turin) aus. Als ein weiteres, mögliches Projekt regte DOROTHEE WIERLING (Hamburg) eine Untersuchung darüber an, wie es überhaupt möglich gewesen sei, dass auf der Basis einer so massenhaften Gewalt wie der des Zweiten Weltkrieges ein friedliches Europa entstehen konnte.
In methodologischer Hinsicht regte JAY ROWELL (Straßburg) eine stärkere Einbindung von Soziologie und Anthropologie in die deutsche Zeitgeschichtsforschung an. Dagegen erhob GERHARD A. RITTER (München/Berlin) den Einwand, dass die starke historische Ausrichtung anderer wissenschaftlicher Disziplinen verlorengegangen sei und speziell in der Soziologie eine historische Akzentuierung fehle. Er wies auf die bisher noch unzureichende Rezeption des Rechtswesens hin und auf seine zentrale Bedeutung angesichts der rechtlichen Durchdringung des deutschen Staates. Der allgemeinen Tendenz der Tagung folgend wurden von unterschiedlicher Seite übereinstimmend komparatistische Ansätze und eine stärker auf das Transnationale ausgerichtete Perspektive für die aktuelle deutsche Zeitgeschichtsforschung gefordert. Die während der Tagung geführten Debatten können jedoch schon für sich genommen als Belege dieser eingeforderten multinationalen, europäischen Perspektive dienen. Diese Perspektive beschränkte sich – wie im Konzept der Tagung angelegt – zunächst auf Deutschlands westeuropäische Nachbarn; im nächsten Schritt müssten die osteuropäischen Ländern verstärkt in den Blick genommen werden.1
Konferenzübersicht:
Begrüßung
Werner Wnendt (Auswärtiges Amt) & Heinz Duchhardt (Stiftung DGIA)
Eröffnungsvortrag
Horst Möller (IfZ München-Berlin): „Was ist und zu welchem Ende studiert man Zeitgeschichte?“
Panel I : Chronologie und Zäsuren
Sitzungsleiter: Martin Sabrow (ZZF Potsdam)
Referenten: Karl Christian Lammers (Kopenhagen), Hélène Miard-Delacroix (Paris)
Kommentar: Edgar Wolfrum (Heidelberg)
Panel II : Generationen und Gedächtnis
Sitzungsleiter: Andreas Gestrich (DHI London)
Referenten: Mark Roseman (Bloomington), Georgi Verbeeck (Maastricht)
Kommentar: Dorothee Wierling (Hamburg)
Panel III: Primat der Politik vs. Primat der Gesellschaft
Sitzungsleiter: Lutz Klinkhammer (DHI Rom)
Referenten: Gustavo Corni (Trient), Jay Rowell (Straßburg)
Kommentar: Gabriele Metzler (Berlin)
Panel IV : Europäischer Kontext der deutschen Nachkriegsgeschichte
Sitzungsleiter: Hermann Wentker (IfZ München-Berlin)
Referenten: Georg Kreis (Basel), Ton Nijhuis (Amsterdam)
Kommentar: Andreas Rödder (Mainz)
Abschlussdiskussion: Desiderata der Forschung zur deutschen Geschichte nach 1945
Moderation: Hermann Rudolph (Der Tagesspiegel)
Teilnehmer: Etienne François (Berlin), Konrad Jarausch (Chapel Hill/Berlin), Gian Enrico Rusconi (Turin), Andreas Wirsching (Augsburg)
Schlusswort
Gudrun Gersmann (DHI Paris)
Anmerkung:
1 Ausgewählte Beiträge werden im nächsten Band der Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte (Nr. 38) erscheinen. Ferner besteht die Möglichkeit, die Tagung als Podcast im Internet auf http://wissen.dradio.de anzuhören.