Das lange 10. Jahrhundert – struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise

Das lange 10. Jahrhundert – struktureller Wandel zwischen Zentralisierung und Fragmentierung, äußerem Druck und innerer Krise

Organisatoren
Römisch-Germanisches Zentralmuseum Mainz; Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften; Arbeitsbereich Mittelalterliche Geschichte, Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.03.2011 - 16.03.2011
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Von
Christine Kleinjung/Davina Brückner/René Welter, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Das Römisch-Germanische Zentralmuseum Mainz, der Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften und der Arbeitsbereich Mittelalterliche Geschichte der Universität Mainz luden vom 14.-16. März 2011 zu einer interdisziplinären Konferenz mit dem Titel „Das lange 10. Jahrhundert – struktureller Wandel zwischen Fragmentierung und Zentralisierung, äußerem Druck und innerer Krise“ ein. Die Tagung setzte bei der Frage an, welche Wirkung äußerer Druck in Form von Ungarn- und Normannenüberfällen in dezentralen Gebilden mit personalisierter Herrschaft entfalten konnte. Ausgehend von einer Neubewertung von „Staatlichkeit“ und „Institutionen“ sollte auch nach der Rolle der äußeren Bedrohung auf die Entwicklungen und Krisen in den je betroffenen Gebieten im 10. Jahrhundert nachgedacht werden. Im Fokus der Tagung standen kleinere Einheiten der Gesellschaft wie Klöster, Bischofsstädte, Adelssitze und Dörfer in West- und Mitteleuropa.

Die Eröffnungssektion beschäftigte sich mit aktuellen Forschungsproblemen in Bezug auf Zentralität, frühe Staatlichkeit und äußeren Druck im 10. Jahrhundert. Ausgangspunkt war die Tradition der deutschen Forschung, dem Sieg Ottos I. über die Ungarn 955 eine konstituierende Rolle bei der „deutschen“ Nationsbildung beizumessen. Die Tagungsorganisatoren CHRISTINE KLEINJUNG und STEFAN ALBRECHT (Mainz) setzten sich in ihren Vorträgen jeweils mit dieser Forschungstradition auseinander. Kleinjung problematisierte die gängigen Deutungsmuster in Hinblick auf den Zusammenhang von innerer Krise und äußerer Bedrohung am Beispiel der deutschen, französischen und englischen Forschung. Sie regte einen Perspektivwechsel an, um die Gleichsetzung von Stärke, Staatlichkeit und Zentralität zu überwinden. Gerade starke Partikularkräfte mit eigenen Leitvorstellungen und Identitäten könnten auch die „Stärke“ eines politischen Systems ausmachen. Albrecht widmete sich in einer intensiven Quellenanalyse der Frage, inwiefern die Aufzeichnungen über die Ungarnstürme im ostfränkischen Reich zu einer Identitätsbildung beitragen konnten. Es zeigte sich, dass es durchaus Texte gibt, die die Ungarnstürme mit einer Aufforderung zur Einheit verbanden und damit ein starkes Königtum unterstützten. Dem gegenüber gibt es aber auch Texte, die zwar die Ungarnstürme mit lokalen Ereignissen verknüpfen, aber keinen Konnex zu einem „nationalen“ oder „royalen“ Überbau herstellen. Entscheidend sei, dass die Adressaten die Erzählungen von den Ungarnstürmen als sinnvolle Erklärungsmuster für lokalen strukturellen Wandel akzeptierten. Der mit den Ungarn verbundene Aufruf zur Einheit stamme von Autoren, die ohnehin ein starkes Königtum unterstützten.

Mit dem Einfluss nationaler Perspektiven beschäftigen sich auch LÁSZLÓ RÉVÉSZ (Szeged) und PRZEMYSŁAW URBAŃCZYK (Warschau). Als Folgen der nationalen Perspektive der Forschung sah Urbańczyk die Konstruktion einer vermeintlichen ethnischen Kontinuität und eine Art Isolationismus, der bewirke, dass man die Anfänge des eigenen Staates als Ganzes betrachte und äußere Einflüsse nur ungern zur Kenntnis nehme. Bei der Frage nach der „Staatlichkeit“ frühmittelalterlicher großer territorialer Organisationen solle man sich auf die Verschiedenheit dieser Systeme gegenüber Vorhergehenden konzentrieren und nicht, wie es allzu oft geschehe, auf den darauf folgenden Zustand.

In den anschließenden Sektionen standen jeweils gesellschaftliche Gruppen und Einheiten im Mittelpunkt, da nach den konkreten Auswirkungen der Ungarn- und Normanneneinfällen und ihre eventuelle Bedeutung für strukturellen Wandel im 10. Jahrhundert gefragt wurde. Wie sich an vielen Vorträgen zeigte, ist dieser Einfluss sowohl in der archäologischen als auch in der historischen Forschung nur schwer zu bestimmen. Ob Burganlagen etwa zur Verteidigung gegen Ungarn oder Normannen errichtet wurden, lässt sich aus den Grabungsbefunden oft kaum erschließen, wie die Vorträge von PETER ETTEL (Jena) und ANNIE RENOUX (Le Mans) zeigten. Jedoch lässt sich eine allgemeine Tendenz zur Zentralisierung der Adelsherrschaften anhand des Burgenbaus im 10. Und 11. Jahrhundert. Beide Referenten konnten keinen klaren Einschnitt in der Entwicklung durch die Ungarn- bzw. Normanneneinfälle festmachen.

Ein Schwerpunkt der Tagung lag auf den Bischöfen und ihren civitates. Mit den verschiedenen Funktionen neuerrichteter Bistümer beschäftigte sich Ernst-Dieter Hehl in seinem Überblicksvortrag. Bischöfe erscheinen in den Quellen immer wieder als erfolgreiche Verteidiger ihrer Stadt gegen die Ungarn und Normannen, prominentes Beispiel aus dem ostfränkisch-deutschen Bereich ist Ulrich von Augsburg. Aber auch in Lothringen und Westfranken stieg der Einfluss der Bischöfe offenbar während des 10. Jahrhunderts. CHARLES WEST (Sheffield) demonstrierte dies am Beispiel von Trier. Die Bedrohungen und Angriffe durch Ungarn und Wikinger, aber auch die Gewalt innerhalb der eigenen Grenzen, führten eher zur Stärkung der bischöflichen Autorität, als das sie diese bedroht hätten. In dem seit dem 9. Jahrhundert verbreiteten Bischofsbild nimmt die bischöfliche Bautätigkeit einen wichtigen Rang ein, der ideale Bischof vermehrt den Reichtum seine civitas und demonstriert den Rang der Stadt in öffentlichen Bauten. MARTIN KROKER (Paderborn) und RALPH RÖBER (Konstanz) stellten in ihren Vorträgen die bischöflichen Bauprojekte in westfälischen Bischofssitzen (Kroker) und Konstanz (Röber) vor. stellte in seinem Vortrag die Entwicklung der westfälischen Bischofsitze vom 9. bis zum 11. Jahrhundert vor. Beide betonten zwar die Funktionen der Repräsentation, Stärkung der wirtschaftlichen Strukturen und Schutz vor Feinden. Der Einfluss der Ungarnstürme auf die Bautätigkeit der Konstanzer Bischöfe könne aber laut Röber weder nachgewiesen noch wiederlegt werden. Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommt FRANK G. HIRSCHMANN in Bezug auf die lothringischen Bischofsstädte. Aus archäologischer Sicht lässt sich über Verteidigungsanlagen in Bischofsstädten kaum etwas sagen (JEAN JACQUES SCHWIEN).

Wie wichtig die Einnahmen aus dem Fernhandel für die rege Bau- und Stiftungstätigkeit im 10. Jahrhundert waren, betonte MATTHIAS HARDT (Leipzig). Der Handel brach in Zeiten der äußeren Bedrohung nicht zusammen. Im 10. Jahrhundert wurde durch die Erweiterung um die östlichen Marken die Grundlage für einen regen Handel geschaffen. Vom Fernhandel profitierten durch Zölle und Märkte insbesondere die Herrscher und Bischöfe.

Neben den Angriffen auf Bischofsstädte und Handelsplätze berichten die Quellen besonders häufig von Überfällen auf Klöster. Auch wenn das Ausmaß der Angriffe und das Leid, das sie verursachten nicht relativiert werden kann, so wird doch strukturell allzu oft eine vermeintlich krisenhafte Entwicklung der jeweiligen Gemeinschaft mit der äußeren Bedrohung in Zusammenhang gebracht. BERNHARD ZELLER (Wien) hinterfragte in seinem Vortrag über St. Gallen den Zusammenhang zwischen dem Ungarneinfall 926 sowie dem Brand 937 und einem Rückgang der Schriftlichkeit. Zeller konnte zeigen, dass der Rückgang der Urkunden bereits in den 870er Jahren einsetzte. Die Gründe für den Rückgang der Schriftlichkeit sieht Zeller vor allem auf der Mikroebene, in der klösterlichen Grundherrschaft selbst. Die Auswirkungen der Ungarn- und Normanneneinfälle scheinen immer schwerer greifbar. Auf einem Feld konnte jedoch ein positiver Befund vermeldet werden. MATTHIAS TISCHLER (Dresden) sieht in der verstärkten Hiob-Rezeption im 10. Jahrhundert einen Niederschlag äußerer Bedrohung. Die Bibel als anthropologische und soziale Orientierungsgröße wurde auch zur Krisenbewältigung zwischen dem späten 9. und frühen 11. Jahrhundert herangezogen. Das bedeutet, dass wir zwar nur wenig über die Auswirkungen „vor Ort“ wissen, sich aber zeigen lässt, dass eine Art „Kontingenzbewältigung“ und Verarbeitung der Gewalterfahrung erfolgte.

Die Abschlusssektion beschäftigte sich mit der ländlichen Gesellschaft. Hauptleidtragende der Normannen- und Ungarneinfälle waren vor allem Angehörige der einfachen Bevölkerung. Die Auswirkungen auf Siedlungen und Grundherrschaften lassen sich aber ebenso schwer in den Quellen fassen, wie dies oben bereits für Bischofsstädte, Klöster und Burganlagen konstatiert werden musste. THOMAS KOHL (Tübingen) stellte für Bayern im 10. Jahrhundert fest, dass in den frühen Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts Wüstungen entstanden und der Landesausbau zum Erliegen kam. Klimaverschlechterung, lokale Kriegsereignisse, aber auch gezielte Arrondierungspolitik der Besitzenden kommen als Gründe in Fragen. Zum anderen kam es zu Gemeinschaftsbildungen „jenseits“ der Grundherrschaft. Die ländlichen Gesellschaften zeigen laut Kohl, dass ein genauerer Blick gerade in sozialgeschichtlicher Hinsicht notwendig ist; das 10. Jahrhundert kann nicht als „Tunnel“ fungieren, in den die klare, rechtlich-sozial gegliederte und durch die klassische bipartite Grundherrschaft geordnete karolingische Gesellschaft einmündet und dann um 1000 als ein einheitlicher Bauernstand wieder aufzutauchen. Die archäologische Dimension präsentierte im Anschluss RAINER SCHREG (Mainz). Er plädierte für eine Perspektive der „longue durée“, um Gründe für strukturellen Wandel erfassen zu können. Die Siedlungswüstungen könnten auch eine Folge der Bodenverarmung durch Düngermangel sein. Der Standortwechsel der Hofstellen diente dann in erster Linie der Wiederherstellung der Bodenfruchtbarkeit. Schreg sieht im Strukturwandel des Dorfes ein langfristiges Phänomen, ja geradezu einen Regelfall der Geschichte, bei dem der Erklärungsansatz der Ungarneinfälle zu kurz greifen würde. Dass äußere Bedrohung nicht zum Kollaps von ländlichen Siedlungsstrukturen führen muss, zeigte auch JIŘI MACHÁČEK (Brno).

Es stellt sich am Ende der Tagung unvermindert die Frage nach den Auswirkungen der Ungarn- und Normannenüberfälle und dem Zusammenhang von innerer Krise und äußerer Bedrohung. Dabei spielten mindestens drei Ebenen eine Rolle: erstens die konkreten Gewalterfahrungen, die die Betroffenen zur Zeit der Raubzüge machten, zweitens die Bedeutung der äußeren Bedrohung für strukturellen Wandel in einer langfristigeren Perspektive und zuletzt die Frage nach Wahrnehmung der Einfälle durch Zeitgenossen, spätere Generationen (Katalysatorrolle?) und durch Historiker in ihren nationalen Perspektiven. Eine Differenzierung der verschiedenen Ebenen sollte in zukünftigen Forschungen stärker berücksichtigt werden.

Die Rolle der Normannen- und Ungarneinfälle sowohl im 10. Jahrhundert als auch in den nationalen Forschungstraditionen wurden auf der Tagung entsprechend kontrovers diskutiert, ebenso die Frage nach einer vermeintlichen Epochenschwelle zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert. Insgesamt kristallisierte sich für die betrachteten Bereiche (Klöster, Adelsherrschaften, Bischofsstädte) eine Tendenz zur Regionalisierung dar, welche Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen bestanden haben könnten, müssen künftige Untersuchungen zeigen.

Konferenzübersicht:

I. Auswirkungen äußeren Drucks auf Reiche und Völker im 10. Jahrhundert

Christine Kleinjung (Universität Mainz): Die äußere Bedrohung und die Schwäche des „Staates“: Deutungs-muster in der modernen Historiographie am Beispiel Westeuropas

Stefan Albrecht (RGZM): „Schicksalstage Deutschlands“: Der Ungarnsturm als Erinnerungsort des Mittelalters

László Révész (Universität Szeged): Ungarn und der deutsche Druck. Das kurze oder lange 10. Jahrhundert? Archäologische Beurteilung der Gräberfelder im Karpatenbecken.

Przemysław Urbańczyk (PAN Warschau): “Piast lands" - imitatio or refutatio imperii

Moderation: Franz J. Felten (Universität Mainz)

II. Adel / Eliten

Peter Ettel (Universität Jena): Grundstrukturen adeliger Zentralorte in Süddeutschland. Repräsentationsformen und Raumerschließung

Annie Renoux (Université du Maine Le Mans): Les lieux centraux des élites dirigeantes au royaume de France (Xe siècle)

Kommentar und Moderation: Sigrid Schmitt (Universität Trier)

IV. Protourbanes Leben

Frank G. Hirschmann (Universität Trier): Städte in Lothringen

Matthias Hardt (GWZO Leipzig): Fernhandel, Markt und frühe Stadt im östlichen Frankenreich

Jean-Jacques Schwien (MISHA Strasbourg): Straßburg im 10. Jahrhundert

Kommentar und Moderation: Sebastian Brather (Universität Freiburg/Br.)

VI. Klösterliches Leben

Bernhard Zeller (OEAW Wien) St. Gallen: Schriftlichkeit und Krise

Antje Kluge-Pinsker (RGZM): Memoria und Stifter

Matthias Tischler (TU Dresden): Die Bibel als anthropologische und soziale Orientierungsgröße zwischen dem späten 9. und frühen 11. Jahrhundert

Kommentar und Moderation: Annette Kehnel (Universität Mannheim)

Abendvortrag: Steffen Patzold (Universität Tübingen): Das lange 10. Jahrhundert. Aktuelle Tendenzen der europäischen Forschung

VII. Ländliche Gesellschaft

Thomas Kohl (Universität Tübingen): Ländliche Gesellschaft in Bayern

Rainer Schreg (RGZM): Das Dorf im Wandel - Das lange 10. Jahrhundert zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte

Jiří Macháček (Universität Brno)

Kommentar und Moderation: Thomas Meier (Universität Heidelberg)

Abschlussdiskussion, Kommentar und Moderation: Stefan Albrecht, Christine Kleinjung


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