Europa ist kein festes geographisches, politisches oder kulturelles Gebilde. Vielmehr ist es ein durch Diskurse geschaffenes Konstrukt und somit ein „imaginärer Kontinent“. Europavorstellungen sind folglich historisch das Ergebnis eines komplexen und fortwährenden Aushandlungs- und Übersetzungsprozesses, der auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen abläuft. Die bisherige Forschung wählte bisher oft eine „top down“-Perspektive auf die Europäisierung im 20. Jahrhundert und blickte vornehmlich auf die Außen- und Integrationspolitik der europäischen Nationen sowie ihre Ideengeschichte. Zudem richtete sich der Blick insbesondere auf die Annäherung der europäischen Kernländer Deutschland und Frankreich. Dagegen war das Ziel der Tagung „Translating Europe. Gesellschaftliche Europavorstellungen im 20. Jahrhundert“, Wege, Formen und Folgen des Europabewusstseins jenseits der offiziellen Europäischen Integrationsgeschichte zu beleuchten und die Europakonstruktion von den Rändern her einzubeziehen. Einen Schwerpunkt der Konferenz bildete die Frage, wie die analysierten Europavorstellungen zwischen unterschiedlichen Ländern, Öffentlichkeiten und Akteuren übersetzt wurden.
In seinem Eröffnungsvortrag nahm FRANK BÖSCH (Gießen) das islamisch geprägte Land Aserbaidschan als Ausgangspunkt, um die wechselhafte europäische Selbst- und Fremddarstellung im 20. Jahrhundert zu verdeutlichen, die sich an und von Europas Rändern ausmachen lässt. Am Beispiel des „Eurovision Song Contest“ verdeutlichte Bösch die vielfältigen transnationalen Übersetzungsprozesse, die das „Europäische“ seit den 1950er-Jahren konstruieren: sprachlich, ästhetisch-darstellerisch und musikalisch, aber ebenso akteursbezogen, institutionell und medial. Was dabei Europa ausmache, unterscheide sich in dieser Perspektive durchaus von den üblichen Leitnarrativen der Politik-, Wirtschafts- und Ideengeschichte.
Entsprechend der Hypothese, dass Europabilder in hohem Maße durch die Begegnung mit dem „Anderen“ entstehen, nahm der Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Europakonstruktion bei der Tagung großen Raum ein. So stellte FLORIAN WAGNER (Rostock) die Genese von Europavorstellungen und –idealen durch die europaweiten Netzwerke der Kolonialverbände um 1900 heraus. Im Zusammenhang mit der neu entstandenen europaweit zirkulierenden Kolonialpublizistik sei sogar von einer diskursiven kolonialen Teilöffentlichkeit in Europa zu sprechen. Ebenso konnte CHRISTIAN METHFESSEL (Berlin) zeigen, dass bei deutschen und englischen Presseberichten über Kolonialkriege die Unterscheidung von Europäischem und Außereuropäischem eine zentrale Rolle spielte. Dabei sei einerseits das Überlegenheitsgefühl der Europäer konstitutiv gewesen, anderseits diente das Motiv des „bedrohten Europäers“ in den Darstellungen als Kriegslegitimation. SARAH EHLERS (London/Berlin) wies im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Schlafkrankheit die Herausbildung europäischer Wissenschaftsnetzwerke nach. Vor dem Hintergrund einer vermeintlichen, verbindenden Zivilisierungsmission suchten sie gemeinsam nach einer europäischen Antwort auf die tropenmedizinische Herausforderung und konstruierten dabei europäische Körper. Dass Kolonialdiskurse auch nach 1945 prägend blieben, zeigte WOLFGANG SCHMALE (Wien) in einem Abendvortrag anhand der Konstruktion des „europäischen Menschen“ auf. Er untersuchte dabei den intellektuellen Versuch der Erschaffung des „homo europeanus“, der vor allem auf positiv konnotierte Archetypen von Europäern rekurrierte und Europas Errungenschaften vehement verteidigte. Wie sehr selbst heute der Kolonialismus das europäische Selbstverständnis beeinflusst, verdeutlichte SUSANNE GRINDEL (Braunschweig), die Europa als koloniale Erinnerungsgemeinschaft thematisierte, was sie an Schulbüchern und Rahmenrichtlinien ausmachte.
Einen weiteren großen Schwerpunkt der Tagung bildeten „Übersetzungen“ von Europavorstellungen zwischen europäischen Ländern, wie sie insbesondere durch die Massenmedien aufgebracht wurden. So untersuchte FLORIAN GREINER (Gießen) die printmedialen Europa-Diskurse in Deutschland, Großbritannien und den USA 1914-1945. In Ergänzung und Abgrenzung zu Krisendiskursen der Ideengeschichte stellte er den Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung einer überwiegend positiv konnotierten Moderne und Europabildern etwa im Kontext von Verkehr, Kommunikation, Tourismus und Sport heraus. JÜRGEN NIELSEN-SIKORA (Köln) hingegen zeigte eine andere zeitgenössische Interpretation der europäischen Moderne auf, die Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Schriften der 1930er-Jahre kritisch als „Zeit der Hölle“ interpretierte. ARIANE BRILL (Gießen) analysierte die Europa-Vorstellungen deutscher, englischer und amerikanischer Tageszeitungen zwischen 1945-1980 im Feld der Kultur, des Sports und Tourismus. Diese seien einerseits durch Abgrenzungen zum außereuropäischen „Anderen“ geprägt, andererseits wurden sie jedoch meist von nationalen Denkweisen überlagert. Auf die politische Dimension ging SVEN DE ROODE (Den Haag) ein, dessen Analyse von deutschen, niederländischen und britischen Zeitungskommentaren zum Europäischen Integrationsprozess der 1950er- und 1990er-Jahre zum Ergebnis kam, dass der Diskurs über Europa untrennbar mit dem Diskurs über die Nation verknüpft war. Sogar europäische Selbstbilder seien durch die nationale Erinnerungskultur geprägt gewesen.
Derartige kommunikative Übersetzungen wurden auch für Osteuropa diskutiert. So zeigte CHRISTIAN DOMNITZ (Frankfurt an der Oder) in seinem Vortrag auf, wie in drei osteuropäischen Staaten von 1975 bis 1989 Transfers von Europanarrativen über Grenzen hinweg mit einem Wandel medialer Öffentlichkeitsstrukturen korrelierten. Offizielle Publizisten folgten dem propagandistischen Auftrag der Staatsparteien nicht mehr bedingungslos, vielmehr wurden Untergrundnarrative Europas während der Legitimationskrise staatssozialistischer Herrschaft dem offiziellen Kontext angepasst. PAULINA GULINSKA-JURGIEL (Potsdam) nahm die diskursiven Auseinandersetzungen, die sich nach der Überwindung der Diktatur in dem neu konstituierten Parlament Polens abspielten, unter die Lupe. Allerdings sei – trotz zahlreicher Bezugnahmen auf andere Länder – kaum eine „Europäisierung“ des Diskurses über die Vergangenheitsaufarbeitung ausmachbar.
Daneben bildeten Reiseerfahrungen eine wichtige Möglichkeit, Vorstellungen über Europa zu entwickeln. CHRISTINA NORWIG (Gießen/Göttingen) stellte die Europäische Jugendkampagne der 1950er-Jahre anhand von Reiseberichten beteiligter Jugendlicher vor. Diese Reisen seien Teil des Engagements für Europa gewesen, welche die Jugendlichen somit zu „Übersetzern“ machten, da die jungen Reisenden die Idee eines vereinten Europas mitprägten und zudem als Kulturvermittler auftraten. Einen bisher kaum berücksichtigten Blick auf Europawahrnehmungen bot JENS RUPPENTHAL (Köln), der anhand von Seekarten sowie Reiseberichten die Form des Kontinents aus der Sicht deutscher Segler 1950-1980 darstellte. Er betonte, dass sich dadurch eine neue Perspektive für die Untersuchung von europäischen Raumwahrnehmungen eröffne. So existierte in der Wahrnehmung der Segler beispielsweise ein „Mittelmeerraum“, der sich u.a. durch die Aufladung mit historisch-mythologischer Bedeutung auszeichnete.
Eine wichtige kulturelle Disposition bei der Europakonstruktion war die Religion, insbesondere der Katholizismus. SABINE LAUDERBACH (Mainz) konnte zeigen, dass bereits Papst Benedikt XV. in der Zeit zwischen 1914-1922 in Reaktion auf die europäische Krise im Ersten Weltkrieg klare Europavorstellungen entwarf, da er die Friedensstiftung auf dem Kontinent als Aufgabe pontifikaler Politik deutete. Weiterführend machte REGINE HÖMIG (Mainz) für die Zwischenkriegszeit eine Hochphase der Europavorstellungen in der katholischen Publizistik aus, die sich besonders auf den Begriff des Abendlands konzentrierte und den Katholizismus als probates Mittel gegen die europäische Krise nach dem Ersten Weltkrieg sah.
Abgerundet wurde die Konferenz durch transatlantische Europakonstruktionen. ADELHEID VON SALDERN (Hannover) nutzte in ihrer Keynote über Europa im Blick amerikanischer Gesellschaftsdiskurse des frühen 20. Jahrhunderts den Begriff der „vertrauten Alterität“, der die Ambivalenz der Diskurse zum Ausdruck brachte. Amerikanische Intellektuelle bemühten sich einerseits, eine von Europa distinkte Identität zu konstruieren, während andererseits Europa in vielen Bereichen weiterhin als Vorbild gesehen wurde, so etwa im Bereich der Kunst. JAN LOGEMANN (Washington) präsentierte eine methodische und empirische Einführung in das neue Forschungsprojekt des DHI Washington „Transatlantic Perspectives“ und dessen Teilbereiche, die sich mit durch Migrationserfahrung entstandenen Außenansichten auf und Identifikationen mit Europa befassen. Dahinter steht der Gedanke, dass Migranten eine zentrale Rolle bei der Etablierung genuin transatlantischer und transnationaler Diskurse spielten.
In der Abschlussdiskussion wurde betont, dass es sich lohne, die Zeit vor 1945, Außenblicke und insbesondere den Kolonialismus stärker in die Analyse von Europavorstellungen im 20. Jahrhundert einzubeziehen. Dagegen habe der von der Gießener Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick eingebrachte Übersetzungsbegriff in vielen Beiträgen keine präzise Verwendung gefunden. Statt von „translating“ sei besser von „communicating Europe“ zu sprechen, da Medienvermittlung in den meisten Beiträgen eine wichtige Rolle spielte. Des Weiteren biete es sich häufig an, von „doing Europe“ zu sprechen, ein Begriff, der die Praxisbezogenheit sowie die realen Begegnungen unterstreiche, durch die Europavorstellungen häufig geformt wurden. Einen Problembereich stelle weiterhin der Bezug zwischen Nation und Europa dar, da Europavorstellungen häufig von nationalen Diskursen und Bezügen überlagert wurden. Bedauert wurde, dass Süd- und Nordeuropa zu wenig berücksichtigt wurden, zumal in vielen Beiträgen deutlich geworden war, wie der Blick vom Rande bzw. einer (jeweils konstruierten) Peripherie aus helfen kann, Europavorstellungen klarer zu Tage treten zu lassen. Insgesamt zeichnete sich die Tagung durch eine lebhafte Diskussion sowie die Eröffnung einer Vielzahl neuer Perspektiven auf Europa aus.
Konferenzübersicht:
Einführung
Frank Bösch (Gießen): „Translating Europe“: Zugänge zu Europavorstellungen im 20. Jahrhundert
Die „europäische Moderne“ vor 1945
Florian Greiner (Gießen): Die europäische Idee in der Hochmoderne. Printmediale Europa-Übersetzungen, 1914-1945
Jürgen Nielsen-Sikora (Köln): Zeit der Hölle und Engel der Geschichte. Die europäische Moderne in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Schriften der 1930er-Jahre
Kommentar: Wolfgang Schmale (Wien)
Religiöse Europabilder in der Hochmoderne
Sabine Lauderbach (Mainz): Papst Benedikt XV. und die Entwicklung des Europagedankens (1914-1922)
Regine Hömig (Mainz): Katholische Europa-Konzeptionen in der Zwischenkriegszeit in Deutschland und Österreich
Kommentar: Guido Thiemeyer (Cergy-Pontoise)
Keynote
Wolfgang Schmale (Wien): „Der europäische Mensch“: Europa- und Kolonialdiskurse nach 1945
Europabilder in der kolonialen Agitation
Florian Wagner (Rostock): Kolonialverbände in Deutschland, Frankreich, Spanien und Belgien: Von der kolonialpraktischen Kooperation zum „europäischen Ideal“ (1880-1914)
Christian Methfessel (Berlin): Europavorstellungen und die Darstellung von Kolonialkriegen und imperialistischen Interventionen in der englischen und deutschen Presse von der Mitte der 1890er-Jahre bis 1911
Kommentar: Winfried Speitkamp (Kassel)
Europabilder in kolonialen Imaginationen
Sarah Ehlers (London/Berlin): Europäer in den Kolonien. Internationale Kooperation in den Schlafkrankheitskampagnen 1900-1945
Susanne Grindel (Braunschweig): Europa als koloniale Erinnerungsgemeinschaft? Die Darstellung des europäischen Kolonialismus in deutschen, englischen und französischen Schulbüchern
Kommentar: Dirk van Laak (Gießen)
Transnationale mediale Europadiskurse nach 1945
Ariane Brill (Gießen): Antikommunistische Wirtschaftsgemeinschaft? Europa-Diskurse in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien 1945-1980
Sven de Roode (Den Haag): Europa im Spiegel der Nation: die Bedeutung nationaler Selbst- und Fremdbilder in der Wahrnehmung der europäischen Integration in der deutschen, englischen und niederländischen Presse in den 1950er- und 1990er-Jahren
Christina Norwig (Gießen/Göttingen): Junges Europa: Textliche, visuelle und performative Übersetzungen von Europakonzepten in Jugendprojekten und -publikationen der 1950er-Jahre
Kommentar: Adelheid von Saldern (Hannover)
Osteuropäische Europabilder
Christian Domnitz (Frankfurt a.d. Oder): Zwischen Untergrund und Parteidiktion. Transfer und Aneignung von Europanarrativen im Staatssozialismus 1975-1989
Paulina Gulińska-Jurgiel (Potsdam): Europa als Prüfstein. Postdiktatorische Diskurse des polnischen Parlaments
Kommentar: Claudia Kraft (Erfurt)
Europakonstruktionen von außen
Keynote: Adelheid von Saldern (Hannover): Vertraute Alterität. Europa im Blick amerikanischer Gesellschaftsdiskurse des frühen 20. Jahrhunderts
Jan Logemann (Washington): Transatlantic Perspectives: Europe in the Eyes of European Immigrants to the United States, 1940-1980
Jens Ruppenthal (Köln): Europa vom Wasser aus. Die Form des Kontinents aus der Sicht deutscher Segler 1950-1980
Kommentar: Frank Bösch (Gießen)