In seinem einleitenden Vortrag zu den Funden in Deutschland (Projekt Genizat Germania) ging ANDREAS LEHNARDT (Mainz) noch einmal auf die vieldiskutierte Bezeichnung der Projekte als Geniza ein. Der Begriff Geniza beschreibt eigentlich einen Ort der Aufbewahrung nicht mehr in Benutzung befindlicher Texte in der Synagoge. Die Ausweitung des Terminus auf die Bewahrung hebräischer Schriftstücke in Form des Recyclings als Einbandfragmente wurde seit Beginn des Projektes 2007 immer wieder kritisiert. Dennoch lässt sich der Terminus als Metapher für die Art der Erhaltung dieser Schriftstücke verstehen. Alternativ böte sich auch der Name Ginze Germania (Archiv, Schatzkammer) an. Lehnardt kann allerdings auch auf Fragmente aus einer tatsächlichen Geniza in Mainz-Weisenau und in Alsenz verweisen, in denen sich Einbandfragmente fanden. Neben den bereits bekannten umfassenden Fragmentfunden, zum Beispiel den Kasseler Talmudfragmenten, werden zur Zeit noch immer neue Fragmente entdeckt, sowohl an bereits bekannten als auch an neuen Fundorten (z.B. in Reutlingen und Gelnhausen). In Frankfurt am Main wurde kürzlich eine Ketubba (datiert 1571 aus Sermine am Po) identifiziert, eines der bisher wenig aufgefunden Beispiele urkundlichen Materials in Einbänden in Deutschland.
MAURO PERANI (Ravenna) berichtete über den Stand der Forschung in Genizat Italia. Seit 1981 wurden ca. 13.000 Fragmente lokalisiert. Eines der typischen Merkmale sind dort abgeriebene Makulaturen, die als Einbände verwendet wurden. Einen besonderer Fund stellt eine Ketubba aus Mantua dar, die auf den 17.Dezember 1517 ausgestellt ist und die der Vortragende kurioserweise am 17.Dezember 2002 in Mantua fand, noch dazu einen Tag nach seinem Geburtstag. Perani ging insbesondere auf die eher geringe Anzahl von Papierfunden ein, die in Genizat Italia bisher entdeckt wurden. Sie sind jedoch von großer Wichtigkeit, da sie hauptsächlich urkundliches Material bieten. Im Archiv von Modena sind Register von Geldleihern in Einbänden erhalten. Weitere solcher Registerfragmente finden sich in Bologna und in Oxford. Sie verzeichnen Geldleiher, Summen und Rückzahlungen und geben Aufschluss über aus anderen Quellen bekannte Personen sowie die Praxis der Geldleihe in Italien im 15. Jahrhundert.
ABRAHAM DAVID (Jerusalem) referierte über die Ergebnisse der Suche nach Einbandfragmenten in der Jewish National and University Library in Jerusalem. Nach einer Anfrage von Prof. Lehnardt sind dort circa 120 Einbandfragmente entdeckt worden. Die meisten dieser Handschriften enthalten Liturgie, Bibel, Talmud, Midrasch und Halakha. Einige wenige Fragmente geben Responsa wieder, zum Beispiel von Abraham ben David von Posquière. Besonders wichtig sind Texte medizinischen und pharmakologischen Inhalts. So wurde ein Fragment mit Auszügen aus dem Mafteah ha-Refuah des Elisha ha-Yewani gefunden. Sehr interessant sind auch die erhaltenen Briefe, so ein Brief an den Kabbalisten Isaak Luria.
In einem wohl strukturierten Vortrag führte SIMHA EMANUEL (Jerusalem) die Zuhörer zu seiner Entdeckung des ersten Autographen unter den hebräischen Einbandfragmenten Europas. Anhand einer Erwähnung in den Marginalien und Überarbeitungen eines Kommentars zum talmudischen Traktat Berakhot konnte er den Text als Autographen des David ben Qalonymus, des jüngeren Bruders von Yehuda ben Qalonymus ben Meir von Speyer, identifizieren. Insgesamt 3 Folio umfassend werden die Fragmente des Kommentars in Melk und in Graz aufbewahrt. Wie so oft, sind keine Informationen über den Trägerband erhalten.
Von Ashkenaz nach Sefarad (Spanien) übergehend stellte PINCHAS ROTH (Jerusalem) sefardische Fragmente aus Gerona vor, die die talmudischen Diskussionen aus Südfrankreich zum Bann und zur Exkommunikation wiedergeben. Sie sind Beispiele für die unterschiedlichen Auslegungen und Anwendungen der Halakha in verschiedenen europäischen jüdischen Gemeinden und veranschaulichen den unter ihnen erfolgten Wissenstransfer.
Ein bislang weniger bearbeitetes Feld nahm JUDITH KOGEL (Paris) zum Anlass, in ihrem Vortrag zu demonstrieren, wie eine detaillierte kodikologische Betrachtung von Haftarot-Fragmenten und Handschriften zu einer Typologisierung dieser Kodizes führen kann, welche wiederum als Hilfestellung bei der Identifikation weiterer Haftarot-Fragmente dient. Diese Art kodikologischer Betrachtung ist bisher wenig unternommen worden, die Bedeutung dieser Methodologie ist jedoch nicht zu unterschätzen.
MICHAEL KRUPP (Jerusalem) zeigte Varia aus seiner Sammlung jemenitischer Fragmente. Eine große Anzahl von ihnen stammen aus der Bibliothek einer einzigen jemenitischen Gemeinde, die 1949 nach Israel immigrierte und ihre Bücher an israelische Buchbinder übergab. Die Mehrzahl dieser Handschriftenreste sind Papierfragmente. Interessant sind auch die darunter befindlichen aus Europa, meist aus Italien stammenden Texte.
Ein Beispiel dafür, wie auch an bekannten Orten immer neue Fragmente entdeckt werden, bot der Vortrag von ELODIE ATTIA (Mainz). Sie präsentierte neue Funde aus der Staatsbibliothek München. In einer Kiste wurden 50 Fragmente gefunden, einerseits Pergamentfragmente literarischen Inhalts, andererseits 42 Einbandfragmente mit urkundlichem Material auf spanischem Papier. Darunter ist ein Bücherverzeichnis, das nach dem Tod des Besitzers in der Provence im 14. Jahrhundert erstellt wurde. Solche Verzeichnisse geben Aufschluss über die Kultur und Literatur der Juden aus derselben Region in dieser Zeit.
Eine besondere Freude war der Vortrag von ALINA LISITSINA (Moskau), welche die Möglichkeiten der Erweiterung des Projektes auch im Osten Europas auftat. Sie zeigte Beispiele hebräischer Fragmente aus der Staatsbibliothek Moskau, darunter ein ashkenazisches Fragment des Midrasch Tanhuma sowie eine persische Haggada aus dem 18. oder 19. Jahrhundert im Einband eines armenischen Evangeliars. Die Erschließung der hebräischen Einbandfragmente in Moskau hat erst begonnen; doch die hier zum ersten Mal präsentierten Funde versprechen weitere wichtige Erkenntnisse.
Der Vortrag von LUCA BARALDI (Modena), verlesen von Emma Abate (Oxford), führte das Publikum in die Möglichkeiten physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden (speziell der Spektroskopie) zur Datierung und Provenienzbestimmung von Fragmenten ein. Dabei spielen auch die Analysen zur Zusammensetzung der Tinte eine wichtige Rolle. Eine enge Zusammenarbeit von Restauratoren und Handschriftenspezialisten wird in der Diskussion als eines der Ziele der zukünftigen Bearbeitung hebräischer Handschriftenfragmente in Aussicht gestellt.
Im Vergleich zu den Funden aus Österreich rekonstruierte TOMAS VISI (Olomouc) die literarische Kultur der Juden in Mähren anhand der in den dortigen Einbänden erhaltenen hebräischen, aus Ashkenaz stammenden Texte (30 % Bibel, 30 % Liturgie, 30 % Halakha). Möglicherweise spiegelt sich in der großen Zahl von Bibelfragmenten eine im Vergleich mit anderen Regionen konservativere Haltung des mährischen Judentums wider.
Wiederum nach Spanien führte der Vortrag von ESPERANCA VALLS (Gerona). Sie gab einen Überblick über die circa 1300 im historischen Archiv von Gerona erhaltenen Einbandfragmente. Das dort vor allem auf Papier erhaltene urkundliche Material variiert von Gemeindebüchern über Dokumente zur Geldleihe, Inventare der Händler, Handwerker und Kaufleute und stammt vor allem aus dem 14. und 15. Jahrhundert. Besonders wichtig sind hier die Identifikation der Personen anhand ihrer Namen und die Übersetzung von Dokumenten in katalanischer Sprache aufgeschrieben in hebräischen Buchstaben für die Erforschung jüdischer wirtschaftlicher Aktivitäten in Spanien.
MARTHA KEIL (Wien) unternahm einen Ausflug in die modernen Möglichkeiten der „Wiederverwendung“ solcher Handschriftenfragmente im Rahmen der neu gestalteten Ausstellung des Wiener Jüdischen Museums am Judenplatz. In der neuen Ausstellung dienen hebräische Fragmente als Symbol für die zerstörte jüdische Kultur und übernehmen so eine wichtige Funktion zur Vermittlung Jüdischer Geschichte.
Einen instruktiven Überblick über die Forschungsgeschichte hebräischer Einbandfragmente bot SAVERIO CAMPANINI (Paris). Beginnend mit Konrad Pellikan im 16. Jahrhundert wurde ab dem 18. Jahrhundert systematisch zu den Fragmenten geforscht (Johann Salomo Semler, Johann Reuss u.a.). Außerdem gab Campanini Anregungen zur weiteren Suche nach Fragmenten, etwa in Ansbach, wo sich laut Katalog zahlreiche Fragmente finden lassen müssten. Die meisten dieser Trägerbände befinden sich heute allerdings in der Staatsbibliothek München.
JAVIER CASTANO (Madrid) präsentierte den Stand der Forschung in Spanien. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die so genannten „deathbed bequests“, Wünsche des Sterbenden, die notariell festgehalten wurden. In manchen Fällen ist neben dem hebräischen Original auch die lateinische Übersetzung erhalten, wie in dem Fall des Rabbi Schneor ben Meir aus dem Jahre 1439 in Aragon. Diese Funde belegen den recht unterschiedlichen rechtlichen Rahmen, in denen sich die Juden in Spanien (noch nach 1492) im Gegensatz zu den Juden in Mitteleuropa bewegten.
Einen Überblick über die Funde von Einbandfragmenten in den Bibliotheken und Archiven in der Schweiz bot JUDITH ISSERLES (Genf). Die Forschungen zu Einbandfragmenten in der Schweiz reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. Erst in den letzten Jahren ist jedoch mit einer systematischen Bestanderhebung begonnen worden. Meist fanden sich Fragmente von Bibel- und Mahzorausgaben.
SASKIA DÖNITZ (Berlin) stellte Fragmente aus der Staatsbibliothek Berlin vor. Darunter sind acht Pergamentblätter ashkenazischer Herkunft, die einen Kommentar zur hebräischen Bibel mit stark grammatisch-linguistischer Ausrichtung bieten. Es wurde die Möglichkeit diskutiert, dass es sich um Kommentare des Menahem ben Salomo, des Autors von Sekhel Tov aus dem 12. Jahrhundert, handelt.
Ein bereits bekanntes Fragment zum Alphabet des Ben Sira mit einer supralinearen lateinischen Übersetzung (das sogenannte Durham-Fragment) unterzog JUDITH OLSZOWY-SCHLANGER (Paris) einer erneuten Betrachtung, wobei sie anhand der kalligraphischen Ausführung und der Vokalisation die Schlussfolgerung zog, dass der hebräische Text aus der Hand eines Juden stammt. Die Gestaltung des Fragments weist auf die enge wechselseitige Beziehung zwischen Juden und Christen in England im 13. Jahrhundert.
Zusammenfassend hielt OLSZOWY-SCHLANGER fest, dass das Colloquium viele neue und wichtige Aspekte der hebräischen Einbandforschung beleuchtet hat. Die Fragmente bereichern unser Wissen über die mittelalterliche jüdische Buchkultur sowohl im geistigen wie im materiellen Sinne. Die Überlieferungsträger und ihre Geschichte, die Materialität der Texte also verdienen die Aufmerksamkeit der Forschung zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentum mindestens genauso wie ihr Inhalt.
Konferenzübersicht:
Andreas Lehnardt (Mainz): Introduction: Ginze Europe – The State of Research and new Developments
Mauro Perani (Ravenna): Documents on Jewish Economic Activity in the 14th- 16th Centuries from the Italian Genizah
Abraham David (Jerusalem): Ginze Yerushalayim – Hebrew Binding Fragments in the Jewish National Library Jerusalem
Simha Emanuel (Jerusalem): The first Autograph of the Tosaphists from the European Genizah
Pinhas Roth (Jerusalem): Fragments of Medieval Halakhic Works in Girona
Judith Kogel (Paris): Reconstruction of a Sefer Haftarot from the Rhine Valley
Michael Krupp (Jerusalem): Rare Fragments from Yemen
Elodie Attia (Mainz): A List of Books discovered in Munich Specimens
Alina Lisitsina (Moskau): The newly found Hebrew Fragments in the Russian State Library
Luca Baraldi (Modena): Diagnostics and Chemical Analysis as Interpretative Skills for Manuscripts
Tamas Visi (Olomouc): Hebrew Fragments in a Regional Perspective: Reconstructing the Book Culture of Jews in Medieval Moravia
Esperança Valls (Gerona): Economic Hebrew Fragments of Arxiu Històric de Girona
Martha Keil (Wien): Fragments as Objects: Medieval Austrian Fragments in the Jewish Museum Vienna
Saverio Campanini (Paris): Carta pecudina literis hebraicis scripta. The Awareness of the Binding Hebrew Fragments in History: An Overview and a Plaidoyer.
Javier Castano (Madrid): Specimens of Jewish Deathbed Bequests (15th century Spain).
Justine Isserles (Genève): Hebrew Manuscript Fragments in Switzerland
Saskia Dönitz (Berlin): ‘With two Letters two Worlds were created’ – A Fragment on the Hebrew Letters from Genizat Germania
Judith Schlanger (Paris): Fragments of Jewish-Christian Relations: the Alpha Beta de Ben Sira of Durham
Anmerkung:
[1] siehe Tagungsbericht Genizat Germania – hebräische Einbandfragmente aus Deutschland. 06.06.2007-07.06.2007, Mainz, in: H-Soz-u-Kult, 01.08.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1643>. Die Beiträge dieser ersten Konferenz zum Thema hebräische Einbandfragmente in Deutschland wurden inzwischen in dem von Andreas Lehnardt herausgegebenen Band Genizat Germania. Hebrew and Aramaic binding fragments from Germany in context, Leiden 2010 publiziert.