Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters – Produktionsorte und Importwege

Rechtshandschriften des deutschen Mittelalters – Produktionsorte und Importwege

Organisatoren
Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.06.2011 - 29.06.2011
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Von
Gisela Drossbach, Universität München; Patrizia Carmassi, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel

Das Arbeitsgespräch in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel setzte sich zum Ziel, einen internationalen und interdisziplinären Kreis von Fachleuten zusammenzuführen, um den gegenwärtigen Kenntnisstand und die fachübergreifenden Perspektiven einer Erforschung der mittelalterlichen, insbesondere der Halberstädter Rechtshandschriften unter aktuellen Fragestellungen auszuloten und Impulse für die künftige Arbeit zu geben. Die Konzeption und Organisation lag in den Händen von Patrizia Carmassi (Wolfenbüttel) und Gisela Drossbach (München/Augsburg). Die Finanzierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährleistet.

Das Arbeitsgespräch wurde in vier thematische Sektionen gegliedert.

1. Sektion: Rechtskultur im Hoch- und Spätmittelalter

Am Beispiel des Braunschweiger Stadtschreibers Gerwin von Hameln, der seiner Heimatstadt eine der umfangreichsten Privatbibliotheken Norddeutschlands vererbte, untersuchte BERTRAM LESSER (Wolfenbüttel) Produktion, Distribution und Rezeption juristischer Handschriften. Dank seiner Kontakte zur Universität Leipzig erwarb Gerwin einige Bände mit Kommentarliteratur zum Corpus juris canonici unterschiedlicher Provenienz. Anmerkungen und Lesevermerke belegen, dass Gerwin bestimmte Texte tatsächlich studiert und ausgewertet hat. Ein Großteil der einst 336 Handschriften und Inkunabeln umfassenden Bibliothek ist heute allerdings verloren.

MICHAEL EMBACH (Trier) stellte die überlieferten Rechtshandschriften aus dem Trierer Raum vor, die vor allem aus der Benediktinerabtei St. Matthias, dem Stift St. Simeon und der alten Universität stammen. Der Abt von St. Matthias gehörte um 1200 zu den drei Offizialen des Trierer Erzbischofs; seine weitreichenden Rechtsgeschäfte spiegeln sich auch in seinem Bibliotheksbestand wider. Im Stift St. Simeon wirkten seit dem 14. Jahrhundert zahlreiche, zumeist in Oberitalien ausgebildete Rechtsgelehrte, die z. T. über eigene Fachbibliotheken verfügten, später auch für den Bischof tätig waren und an der Universität lehrten.

VINCENZO COLLI (Frankfurt am Main) ermittelte unter den 1452 Inkunabeln der ULB Halle 248 juristische Werke, von denen 65 Bände eine Halberstädter Provenienz aufweisen. 35 Exemplare wurden in Italien, 29 in Deutschland und eines in Frankreich gedruckt. Von einigen venezianischen Ausgaben der Corpora iuris abgesehen, enthalten sie vorwiegend kanonistische Kommentarwerke aus verschiedenen Epochen.

GERO DOLEZALEK (Aberdeen/Leipzig) präsentierte Statistiken über prozentuale Anteile juristischer Literatur in mittelalterlichen kirchlichen Bibliotheken, die anhand der Handschriftenbestände der Biblioteca Apostolica Vaticana, der UB Leipzig und der ULB Halle gerwonnen werden konnten. Je nach der Definition von „juristisch“ und „Literatur“ enthalten etwa zehn Prozent aller Pergamenthandschriften des 12.–15. Jahrhunderts juristische Literatur. Dies gilt auch für die Bestände aus Halberstadt und Magdeburg.

MARTIN BRETT (Cambridge/U.K.) schilderte in seinem öffentlichen Abendvortrag die Kirchenrechts¬sammlungen von ca. 1050 bis ca. 1150 als Beispiel für eine limitierte Verbreitung von Ideen im lateinischen Abendland. Nur wenige Texte, beispielsweise die Werke Burchards von Worms oder die Panormia, waren in großer Anzahl weit verbreitet; die Wirkung der meisten Werke blieb lokal begrenzt. Während vor 1150 nordalpine Rechtssammlungen schnell und häufig in den Mittelmeerraum gelangten und dort einen erheblichen Einfluss ausübten, nahm in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts Italien und insbesondere Bologna die führende Position in der Jurisprudenz ein. Die Werke italienischer Juristen wurden in Europa ähnlich maßgebend wie die Texte der Pariser Theologen.

2. Sektion: Transferbewegungen und Schulen

PETER LANDAU (München) beschäftigte sich mit einer in der UB Halle aufbewahrten Handschrift aus Halberstadt, die ausschließlich kanonistische Werke des späten 12. und frühen 13. Jahrhunderts enthält. Dazu gehören zwei kurze Summen zum Decretum Gratiani, die um 1170–1185 in Frankreich entstanden. Der ältere Text, eine Kurzfassung der Summa Monacensis, steht am Anfang der Kommentierung Gratians in Frankreich und wurde wahrscheinlich von dem Pariser Kanonisten Petrus von Louveciennes geschrieben. Die Handschrift, die nach Landaus Annahme um 1220 durch Johannes Teutonicus nach Halberstadt gelangt sein könnte, belegt damit frühe Einflüsse der französischen Kanonistik in Ostsachsen.

Bei der Analyse des zweiten dekretistischen Kommentars dieses Codex, der Summa Permissio quedam (SPQ), kam TATSUSHI GENKA (Tokio) zu abweichenden Ergebnissen. Seine Untersuchung der Gesamtüberlieferung dieses Werkes zeigt, dass die Hallenser und die Bamberger Handschrift Can. 17 von einer gemeinsamen, vermutlich aus dem anglo-normannischen Raum stammenden Vorlage herrühren. Von dort wurde eine Abschrift nach Deutschland transferiert, als deren Reinschrift die heutige Bamberger Handschrift gelten kann, die vermutlich auch in Bamberg hergestellt wurde. Die Herkunft der Hallenser Handschrift ist laut Genka hingegen weniger klar: Er nimmt an, dass sie entweder über Italien nach Deutschland gelangt sei oder von einem dort geschulten Schreiber nördlich der Alpen hergestellt wurde.

PATRIZIA CARMASSI (Wolfenbüttel) untersuchte ein Missale (heute Stiftung Dome und Schlösser in Sachsen-Anhalt, Domschatz zu Halberstadt, Inv.-Nr. 474), das der Dompropst Johannes Zemeke der Halberstädter Kathedrale vor seinem Tod 1245 gestiftet hatte. Camassis Ziel war es, den Zusammenhang zwischen dem Kanonisten und dem Theologen Zemeke durch seine Stiftungen zu eruieren. Dazu untersuchte sie die von Zemeke geschriebenen, benutzten und geschenkten Bücher. Zemeke stiftete neben dem Missale unter anderem zwei weitere liturgische Handschriften, deren ikonographisches Programm zu seinen theologischen und kirchenrechtlichen Ansichten passt.

GISELA DROSSBACH (München/Augsburg) konnte zeigen, dass die als Collectio Monacensis bezeichnete Dekretalensammlung über Jahrhunderte im Münchener Augustinerkloster verblieb und dort Funktionen wie Gelehrtenstolz, Identifikation, Erhalt, Respekt und Memoria erfüllte. Wie dagegen die nach ihrem heutigen Aufbewahrungsort benannte Collectio Hallensis nach Halberstadt gelangte – als archivalische Zufallsüberlieferung oder als Stiftung o. ä. aus dem Umkreis des Johannes Teutonicus – ist heute nicht mehr nachweisbar.

3. Sektion: Autoren, Werke und Überlieferung

ABIGAIL FIREY (Lexington/USA) revidierte mit ihrer Analyse der genannten Handschrift die vorherrschende Charakterisierung des 10. Jahrhunderts als “an age without jurists” oder „period of primitive law“. Der im monastischen Milieu entstandene Codex enthält eine heterogene spätkarolingische Kirchenrechtssammlung auf der Grundlage der Collectio Dacheriana sowie eine beträchtliche Anzahl von Textstellen aus dem Römischen Recht, darunter bisher unbekannte Exzerpte aus Julians Epitome und Justinians Novellae. Fireys Analyse der Handschrift widerlegt die geltende Forschungsmeinung und zeigt das 10. Jahrhundert als eine Epoche blühender juristischer Kultur.

DANICA SUMMERLIN (Cambridge/UK), untersuchte in methodologischer Hinsicht, wie englische Bischöfe die Bestimmungen des dritten Laterankonzils von 1179 umsetzten. Dabei zeigte sich, dass eine Anwendung in der diözesanen Rechtspraxis kaum stattfand, während die Kanones im fachjuristischen Umfeld der Rechtsschulen rasch und breit rezipiert wurden. Summerlin konnte nachweisen, dass nach dem Erscheinen weit verbreiteter Dekretalensammlungen ab ca. 1185 die Lateranbestimmungen zunehmend als autoritative Texte erscheinen, während ihre wortgetreue Promulgation erst später erfolgte. Dies spricht eher für eine schrittweise Integration der Lateranbestimmungen in das kirchliche Leben und in das Kirchenrecht als für ihre unmittelbare lokale Akzeptanz.

SUSANNE LEPSIUS (München) analysierte zwei Sammelhandschriften aus dem Kollegiatstift Halberstadt (heute ULB Halle, Ye 2o 68, vielleicht Erfurt, und Ye 4o 4, Rostock), die unter anderem den Traktat De armis et insigniis zu Fragen des Wappen- und Warenzeichenrechts aus der Feder des bekannten Juristen Bartolus von Sassoferrato enthalten. Ihr Überlieferungskontext lässt auf ein starkes Interesse der Besitzer bzw. Schreiber an kirchlichen Rechtsfragen schließen.

MARTIN BERTRAM (Rom) entwarf für diesen kanonistischen Grundlagentext ein qualifiziertes Überlie¬ferungs¬bild. Er stellte fest, dass die Unterscheidung von vollständigen Handschriften, Teilabschriften, Fragmenten, verlorenen Handschriften unter anderem im konkreten Fall spezieller Abgrenzungen bedarf. Obwohl eine vollständige Erfassung etwa der kleineren Fragmente oder der Nennungen in vormodernen Bibliothekskatalogen nicht möglich ist, so können dennoch genau definierte Teilbereiche erfasst werden, die Vergleiche mit anderen massenhaft überlieferten Texten erlauben.

Mit den beiden ehedem in der Halberstädter Bischofskurie aufbewahrten Codices des Liber Sextus beschäftigte sich TILMANN SCHMIDT (Rostock). Eine Abschrift ist nach seiner Ansicht Teil eines vermutlich in Bologna angefertigten Codex des Liber Extra, der kontinuierlich ergänzt wurde. Sie ist nicht glossiert; die bereits im Codex enthaltenen Dekretalen werden in der Abschrift des Liber Sextus nur noch mit den Initien angegeben. Die zweite Handschrift mit der Glosse des französischen Kardinals Johannes Monachus stammt vermutlich aus Paris. Beide Gebrauchshandschriften des Liber Sextus dürften laut Schmidt sehr bald nach dessen Promulgation angefertigt worden sein.

4. Sektion: Mediale Aspekte der Überlieferung

SUSAN L’ENGLE (St. Louis/Missouri) untersuchte den Büchertransfer von Studenten der juristischen Fakultäten in Bologna und Padua vom 13. bis ins 15. Jahrhundert auf der Basis von Quellensammlungen wie den Acta nationis Germanicae universitatis Bononiensis und dem Chartularium Studii Bononiensis. Dabei kam L’Engle zu dem Ergebnis, dass im 13. Jahrhundert relativ wenige Studenten neue Bücher in Auftrag gaben, sondern eher Kopien aus zweiter Hand ausliehen und nach dem Studium wieder zurückgaben. Im 13. und 14. Jahrhundert seien die Handschriften über längere Zeiträume in Bologna und Padua zirkuliert. Erst im 15. Jahrhundert wurden Rechtshandschriften von Studenten als dauerhafter Besitz erworben und in ihre Heimat mitgenommen, wo sie auch Aufnahme in kirchliche, staatliche und städtische Sammlungen und Bibliotheken fanden.

Um den Besitz juristischer Bücher in Spanien ging es SUSANNE WITTEKIND (Köln), die hierfür erstmalig die archivalischen Zeugnisse über Buchbesitz in Barcelona untersuchte. Wittekind konnte aufzeigen, wer welche zivilrechtlichen bzw. kanonistische Texte besaß, kaufte und verkaufte, und zu welchem Preis dies geschah. Im Fokus standen juristische Handschriftenbestände in den Kloster- und Kathedralbibliotheken, die abschließend mit den erhaltenen Rechtshandschriften aus Halberstadt verglichen wurden.

Eine grundlegende kanonistische Mikrostudie lieferte JOHN WEI (Grinnell/Illinois) im letzten Vortrag des Workshops. Er konnte zeigen, dass die Exemplare des Decretum Gratiani aus der Halberstädter Dombibliothek (heute Halle, ULB, Ye 2° 36 und 51) nicht wie bisher angenommen in Italien, sondern in Frankreich geschrieben wurden. Die Handschrift Ye 2° 51 des Decretum Gratiani gehört wie der heute in Wolfenbüttel aufbewahrte Cod. Guelf. 32 Helmst. zur nordfranzösischen Textgruppe S, deren Schriftheimat laut Wei in Paris oder Sens zu lokalisieren ist.

Das Tagungsresümee sowie die abschließende Diskussionsleitung wurden von CHRISTOPH MEYER (Frankfurt am Main) übernommen.

Insgesamt förderte der Workshop ein Gespräch, das aktuelle und grundlegende Probleme der Produktion, Distribution und Rezeption juristischer Handschriften des Mittelalters erörterte. Im Einzelnen wurden prinzipielle Fragenkomplexe diskutiert, wie die Motive für die Sammlung juristischer Handschriften, der Verlauf geografischer und institutioneller Wege des Handschriftenverkehrs, die Rolle der Halberstädter Bildungseinrichtungen, ihre Institutionengeschichte und ihre Organisationsformen für die dort vermittelten Inhalte, die Aufschlüsse, die die Codices im Hinblick auf die Materialität ihrer Benutzung geben.

Das Arbeitsgespräch wurde der Komplexität und Vielfalt der Materie gerecht und zeichnete sich durch die Konzentration auf die lokal überlieferten Quellen, den komparativen Ansatz sowie die internationale Ausrichtung aus. Die interdisziplinären Fragestellungen mit Berücksichtigung paläographische, kodikologischer und philologischer neben den allgemein historischen und rechtshistorischen Aspekten hat zu neuen Ergebnissen und Fortschritten in der Erschließung des Bestandes der Halberstädter Rechtshandschriften seit dem Aufsatz von A. Diestelkamp von 1927 und dem Kurzkatalog (Handschriftencensus) vom Jahr 2000 geführt. Diese beziehen sich auf die genaue Herkunft der Handschriften (oft Frankreich und nicht Italien), auf die Überlieferung der verschiedenen Texte und Textredaktionen, auf die Rekonstruktion von Bibliotheken einzelner Gelehrter (Gerwin von Hameln, Zemeke) oder kirchlicher Institutionen.

Konferenzübersicht:

I. Rechtskultur im Hoch- und Spätmittelalter
Diskussionsleitung: Christian Heitzmann (Wolfenbüttel)

Bertram Lesser (Wolfenbüttel): Der Braunschweiger Stadtschreiber Gerwin von Hameln († 1496) als Sammler und Benutzer juristischer Literatur

Michael Embach (Trier): Rechtshandschriften aus Trierer Bibliotheken

Vincenzo Colli (Frankfurt am Main): Von der Handschrift zum gedruckten Buch: Juristische Inkunabelbestände aus Halberstadt, Dombibliothek, in Halle

Gero Dolezalek (Leipzig): Transfer von Rechtstexten und Statistik. Das Beispiel Halberstadt

Öffentlicher Abendvortrag
Martin Brett (Cambridge/UK): Transmission of Canon Law manuscripts as cultural phenomenon

II. Transferbewegungen und Schulen
Diskussionsleitung: Jürgen Wolf (Marburg)

Peter Landau (München): Frühe französische Dekretistik in Halberstadt. Die Summa Monacensis und die Summe „questio si iure naturali“ in Halle, ULB Ye 2° 52

Tatsushi Genka (Tokio/Japan und München): Bologna – Halberstadt – Bamberg: die Dekretsumme „Permissio quaedam“ in Halle, ULB Ye 2° 52

Patrizia Carmassi (Wolfenbüttel): Johannes Teutonicus: Rechtsgelehrter und Handschriftenstifter in der Halberstädter Kirche

Gisela Drossbach (München): Bologna – München – Halberstadt: Dekretalenrecht unter besonderer Berücksichtigung von Halle, ULB, Ye 2° 80

III. Autoren, Werke und Überlieferungen
Diskussionsleitung: Gero Dolezalek (Leipzig)

Abigail Firey (Lexington/Kentucky/USA): How did canon law change in the Carolingian era?

Danica Summerlin (Cambridge/UK): Reading the canons of the 1177 Lateran Council

Susanne Lepsius (München): Bartolo di Sassoferrato

Martin Bertram (Rom): Die Überlieferung des Liber Extra – mit Ausflügen ins Allgemeine

Tilmann Schmidt (Rostock): Liber Sextus und Regulae iuris

IV. Mediale Aspekte der Überlieferung
Diskussionsleitung: Michael I. Allen (Chicago)

Susan L’Engle (St. Louis/Missouri/USA): The Transmission of Legal Manuscripts from Bologna and Padua to German Collections

Susanne Wittekind (Köln): Illuminierte Rechtshandschriften aus Spanien

John Wei (Grinnell/Illinois/USA): Legal Certainty and Textual Diversity in Gratian’s Decretum

Schlussdiskussion
Diskussionsleitung: Christoph Meyer (Frankfurt am Main)


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