Vom 28. bis 29. September 2011 fand in Darmstadt an der Technischen Universität der vom Projekt „TH Darmstadt und Nationalsozialismus“ organisierte Workshop „Technische Hochschulen und Universitäten im ‚Dritten Reich’ und der Nachkriegszeit“ statt. Eingeladen waren Projektmitarbeiter/innen und Einzelpersonen (Doktorand/innen, Habilitand/innen) im fortgeschrittenen Arbeitsstadium, die sich mit Entwicklungen an Hochschulen anhand von übergreifenden Fragestellungen der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte während dem „Dritten Reich“ und der Nachkriegszeit beschäftigen.
Die Veranstaltung bot Raum, Forschungsergebnisse für die einzelnen Hochschulstandorte zu vergleichen. Von zentraler Bedeutung war die Frage, wie sich die Einflussnahme von Politik auf die jeweiligen Standorte gestaltete und welche Kontinuitäten und Brüche sich aus geänderten politischen Rahmenbedingungen ergaben.
Wie MELANIE HANEL (Darmstadt) berichtete, spielte Parteipolitik an der Technischen Hochschule Darmstadt im Nationalsozialismus nur eine untergeordnete Rolle. So konnte die Hochschule etwa ihr Selbstergänzungsrecht nahezu uneingeschränkt erhalten. Dem vorangegangen war allerdings die umfassende Säuberung der Hochschule von rassisch, politisch und fachlich unerwünschten Personen zwischen 1933 und 1936. Daneben stellte sich die Technische Hochschule Darmstadt in „vaterländischer Pflichterfüllung“ im Krieg bedingungslos in den Dienst des „Dritten Reiches“ und war integraler Bestandteil des NS-Regimes. Ein Großteil der Darmstädter Professoren engagierte sich intensiv für die Kriegsforschung, beispielsweise im „Vorhaben Peenemünde“, in den drei Darmstädter Vierjahresplaninstituten oder in zahlreichen vom Reichsforschungsrat finanzierten Einzelprojekten.
Im Gegensatz dazu versuchte sich die Universität Breslau weniger auf dem Gebiet der Kriegsforschung, sondern vielmehr als ideologische „Speerspitze“ des Deutschen Reiches zu etablieren, wie KAI KRANICH (Paderborn) darlegte. Die Hoffnungen der Breslauer Universität, mit dem Status einer „Reichsuniversität“ finanzielle Zuwendungen vom NS-Regime zu erhalten, scheiterten am REM. Nach Kranich sank Breslau spätestens 1938 wieder auf den Stand einer Provinzuniversität zurück, was er auf Breslaus unschlüssige Hochschulpolitik, aber auch auf die starke Konkurrenz von anderen Hochschulen zurückführt. Als Forschungsdesiderate nennt er die Geschichte der Technischen Hochschule Breslau und deren Beziehung zur Universität. Insgesamt wurde deutlich, dass die Entwicklungen der TH und der Universität stark von den lokalen Begebenheiten geprägt waren, was in gleicher Weise für den Fall der Bergakademie Freiberg gilt, über die NORMAN POHL (Freiberg) referierte. Er zeigte, dass die Berufungspolitik an der Bergakademie Freiberg im Nationalsozialismus zum einen von Stellenstreichungen geprägt war, welche vom sächsischen Ministerium schon im Jahr 1931 beschlossen worden waren, als kurzzeitig eine vollständige Schließung zur Diskussion stand. Zum anderen konstatierte er für die Bergakademie Freiberg eine vom Rektor und dem sächsischen Ministerium angewandte Strategie zur Politisierung der Hochschule: Extraordinariate wurden mit jungen NS-Aktivisten besetzt, die mit dem Ausscheiden von älteren Professoren in Freiberg in Ordinariate befördert wurden. Die Berufungspolitik bestand demnach nicht aus einer planmäßigen Stellenbewirtschaftung, wozu laut Pohl vor allem der vorherrschende Ordinarienegoismus geführt hatte.
Mit dem Vortrag von GÜNTHER LUXBACHER (Berlin) wurde der Fokus auf Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensmuster eines einzelnen Ordinarius gelenkt. Am Beispiel des Darmstädter Ordinarius August Thum demonstrierte er wie ein Wissenschaftler aufgrund der politischen Rahmenbedingungen im „Dritten Reich“ den Zenit seiner Karriere erreichen konnte. Im Rahmen der Autarkiepolitik, die die Einsparung von Rohstoffen propagierte, wurde dem Materialwissenschaftler Thum sowohl die großzügige finanzielle Förderung des Reichsforschungsrats als auch eine politische Würdigung seiner Forschungen in Form des Kriegsverdienstkreuzes erster Klasse zuteil. Thum, Experte für die Materialeigenschaften von Stahl, verlagerte seinen Forschungsschwerpunkt auf die werkstoffgerechte Ersparnis beim Verbauen von Material und konnte im NS dem von ihm propagierten Leichtbau zum Durchbruch verhelfen.
KATHRIN BAAS (Münster) und DANIEL DROSTE (Münster) fragten wiederum nach der personellen und fachlichen Entwicklung der Disziplinen Geographie und Biologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. So stelle Baas fest, dass das Jahr der Machtergreifung in der geographischen Forschung keine Zäsur bedeutete, dass aber die bestehende völkische Ausrichtung nun eine besondere Wertschätzung durch die Nationalsozialisten erfuhr. Auch in der Lehre änderte sich wenig, lediglich die Rassenkunde wurde ab 1934 stärker integriert. Im Nationalsozialismus erfolgte außerdem eine Vernetzung in politische Institutionen, wie die „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“. Im Krieg vollzog sich dann eine Schwerpunktverschiebung in Richtung der angewandten Geographie: So arbeiteten die Münsteraner Professoren beispielsweise als Kartographen für die Marine und hielten Vorträge für die Wehrmacht.
Für die Biologie machte Droste klar, dass die Institute der Universität Münster aus nationalsozialistischer Sicht nicht sonderlich wichtig waren. Dies bescherte den lokalen Akteuren umso größere Spielräume, sowohl der Gauleitung und dem mit ihr eng verbundenen Kurator, als auch den Ordinarien, die bei Neuberufungen weiterhin nach ihrem Ermessen entscheiden konnten. Letztere unterschieden deutlich zwischen ihrer Lehre, die sie anpassten, und der Forschung, wo sie zumeist vor 1933 begonnene Themen fortsetzten und eher wenig Schritte der Anpassung für nötig hielten. An ihrer Regimeloyalität gebe es ausweislich der großen Zahl von Parteimitgliedern keinen Zweifel, und dass es 1945 – im Gegensatz zu 1933 – auf beiden Ordinariaten einen Wechsel gab, hänge nicht mit Selbstreinigung oder Entnazifizierung zusammen.
Ebenfalls anhand des Münsteraner Beispiels untersuchte KRISTINA SIEVERS (Münster) das bislang wenig beachtete Kräfteverhältnis des in Preußen üblichen Kurators, des ständigen Vertreters des Ministeriums in der Universität, zum Rektor. Hier gab es 1937 eine Zäsur, weil der nationalsozialistische Gaupersonalamtsleiter zum ersten hauptamtlichen Kurator ernannt wurde. Aber weil C. Beyer sich nicht als Vertreter Berliner, sondern Münsteraner Interessen sah, brachte dieser Vorgang der Westfälische Wilhelms-Universität Münster, die ihren Platz gleichfalls am ehesten in der Provinz sah, letztlich nur Vorteile, auch wenn die Spannungen zwischen Kurator und kurzfristig amtierenden Rektoren naturgemäß erhalten blieben. Über Beyer konnte der Gauleiter erheblichen Einfluss auf Berufungsfragen ausüben. In der Nachkriegszeit wiederum fielen diese Konflikte zwischen der staatlichen Hochschulverwaltung und den Rektoren weg, da sie in dem Wunsch nach einem schnellen Wiederaufbau geeint handelten.
Mit den Ausführungen zur Nachkriegsgeschichte der Freiberger Bergakademie von BERTRAM TRIEBEL (Freiberg) und ANKE GEIER (Freiberg) folgten nun zwei Vorträge, die sich mit der wissenschaftlichen Entwicklung in der DDR beschäftigten. Triebel analysierte die Personalpolitik der ersten zehn Jahre nach 1945 an der Bergakademie Freiberg. Auf den ersten Blick bestätigt der Austausch der Hälfte der Professoren die Rede der SED vom besseren Deutschland in der Sowjetisch Besetzten Zone. Qualifizierten Ersatz fand sie allerdings nur in derselben Altersgruppe wie die Entlassenen, die überwiegend ebenfalls Mitglieder der NSDAP waren und aus der Industrie kamen. Diese dankten ihrerseits dem neuen Regime ihre unverhoffte Chance, doch noch die prestigeträchtige akademische Karriere ergreifen zu können, mit loyalem Pragmatismus – der sich in einer erneuten Parteimitgliedschaft äußern konnte – was ihnen mit sogenannten Sonderverträgen vergoldet wurde und sie zugleich an der Flucht in den Westen hinderte.
Anhand der bis heute kaum bekannten „Wissenschaftlich-Technischen Büros“ bestätigte Geier die von Triebel konstatierte Personalkontinuität. Gegründet wurden die Büros von der Sowjetunion, die sich – wie die anderen Siegermächte auch – die überlegenen deutschen Kenntnisse anzueignen wünschte. So lieferte das Freiberger Institut für Braunkohleforschung unter Leitung Prof. Kegels ein unverhofftes Beispiel personeller und wissenschaftlicher Kontinuität über den Umbruch von 1945. Hier wurden in russischem Auftrag auch politisch Belastete engagiert, sofern sie nur als fähige Wissenschaftler die Forschung in Monografien zusammenfassten und russische Spezialisten an den unzerstörten Labors fortbildeten. Zugleich wurden dadurch auch die Grundlagen zur später in der DDR führenden Rolle Freibergs in der Braunkohleforschung gelegt.
Das einzige Beispiel für den Umgang von Geisteswissenschaften mit dem überwundenen Nationalsozialismus bot CHRISTA KLEIN (Freiburg) anhand der Aussagen dreier Mitglieder der Freiburger Philosophischen Fakultät. Für die Zeit zwischen 1945 und 1970 rekonstruierte sie drei einander ablösende Verknüpfungen von Diskursen und institutionellen Bedingungen (von ihr raison d’être genannt): erstens die vom Mediävisten Tellenbach vertretene Ansicht, nicht der Nationalsozialismus, sondern schon die sich nach 1890 abzeichnende „Grundlagenkrise“ sei die Wurzel des Übels, und das daraus abgeleitete Rezept, die Geisteswissenschaften müssten wieder hinter diese Zeit zurückfinden; zweitens die vom Remigranten Bergsträsser in den 1950er-Jahren propagierte These, gegen die denkbare Rückkehr nationalsozialistischer Verführung helfe nur eine normative, antitotalitäre Demokratisierungswissenschaft, wie sie besonders von Politikwissenschaft und Soziologie Freiburger Prägung vertreten werde. Dagegen erhob sich seit den 1960er-Jahren als dritte Version der Einwand, die Kritik richte sich nur auf die Vergangenheit, nicht aber auf die Gegenwart; es war der Ritter-Schüler Zmarzlik, der diese Position vertrat und damit bei seinen Kollegen Empörung auslöste, von Studenten dagegen Zustimmung erfuhr.
Den Umgang einer Technischen Hochschule mit ihrer eigenen Rolle im Nationalsozialismus untersuchte ISABEL SCHMIDT (Darmstadt). Sie wandte die von der Forschung für die Nachkriegszeit bisher wenig beachtete interessengeleitete Akteursperspektive auf das Darmstädter Beispiel an und kam zu dem Schluss, dass der Technischen Hochschule ein selbstgestalteter institutioneller, personeller und fachlicher Übergang vom „Dritten Reich“ in die Nachkriegszeit gelang. So konnte die Leitung der Hochschule im Rahmen der Entnazifizierung erhebliche Handlungsspielräume nutzen und das Ergebnis der Spruchkammerverfahren der Darmstädter Professoren wesentlich in ihrem Sinne lenken. Die Berufungspolitik, so Schmidt, war in der unmittelbaren Nachkriegszeit als zentrales Aushandlungsfeld der Machtbalance zwischen Kultusministerium und Hochschule einigen Veränderungen unterlegen, spätestens Mitte der 1950er-Jahre trat aber eine Phase der Normalisierung ein. Auch hier gelang es der Hochschule, erfolgreich ihre Selbstbestimmungsrechte aufrechtzuerhalten. Besonders zugespitzt traf dies bei der Wiedergutmachung zu: Wie anderswo auch wurde in Darmstadt keiner der während des NS vertriebenen Professoren zurückberufen.
Durch das Zusammenführen der neuesten Forschung zu Universitäten und Hochschulen während und nach dem Nationalsozialismus haben sich viele Erkenntnisse als allgemeingültig herausgestellt. So lässt sich festhalten, dass die Entwicklung der verschiedenen Hochschulen und Fächer maßgeblich von den Interessen der Ordinarien, fachinternen Logiken und lokalen politischen Akteuren geprägt wurden. Für das Verständnis von Wissenschaftswandel in Zeiten von politischen Zäsuren sind diese Faktoren demnach von zentraler Bedeutung.
Konferenzübersicht:
Christof Dipper (Technische Universität Darmstadt): Einleitung
Sektion 1: Hochschulen und Forschung während des Nationalsozialismus
Melanie Hanel (Technische Universität Darmstadt): Hochschulpolitik und kriegswichtige Forschung an der THD im Nationalsozialismus
Kai Kranich (Universität Paderborn): Die Hochschulen in Breslau zur Zeit des Nationalsozialismus. Wege und Irrwege von Anpassung und Wandel
Norman Pohl (Technische Universität Bergakademie Freiberg): Gezielte Berufungspolitik, bergakademische Stellenbewirtschaftung oder Ordinarienegoismus? Zur Veränderung der fachlichen Ausrichtung der Bergakademie Freiberg in der NS-Zeit
Günther Luxbacher (Technische Universität Berlin): „...zu einer restlosen Ausnutzung der Werkstofffestigkeit“. August Thums Konzept der Werkstoffe des Maschinenbaues und die NS-Autarkiepolitik
Kathrin Baas (Universität Münster): "Erdkunde als politische Angelegenheit" - Geographische Forschung an der Universität Münster im Nationalsozialismus
Sektion 2: Systemübergreifende Wissenschaftsentwicklungen: Akteure und Strukturen
Daniel Droste (Universität Münster): Die biologischen Institute der WWU Münster 1922-1962
Kristina Sievers (Universität Münster): Rektorat und Verwaltung der Universität Münster
Bertram Triebel (Technische Universität Bergakademie Freiberg): Der lange Atem einer Generation. Die Professorenschaft der Bergakademie im Nationalsozialismus und Sozialismus
Sektion 3: Hochschulen und Wissenschaft in der Nachkriegszeit und der Umgang mit der NS-Vergangenheit
Anke Geier (Technische Universität Bergakademie Freiberg): Kontinuität in der Forschung? Die Bergakademie in der Nachkriegszeit
Christa Klein (Universität Freiburg): Die Entwicklung geisteswissenschaftlicher Raison d'Être 1945-1970 an der Philosophischen Fakultät Freiburg und deren Verhältnis zum NS
Isabel Schmidt (Technische Universität Darmstadt): Zwischen Vergangenheitspolitik und Zukunftsmanagement. Die TH Darmstadt in der Nachkriegszeit