„Ich kann dies mit Bestimmtheit von ihnen angeben, weil ich es weiss“ (Hdt. 1,140). – Woher und unter Anwendung welcher Methoden der berühmte Halikarnassier seine Informationen über die Vergangenheit bezogen hat, wie glaubwürdig oder fiktiv diese gewesen sind und wie narrativ-literarisch oder wahrheitsgemäß-kritisch er diese in seinem berühmten Werk verarbeitet, aufbereitet und umgeformt hat – all dies sind grundlegende Fragen der Herodot-Forschung. Vier Dezennien nach der wichtigen Monographie von Detlev Fehling (Die Quellenangaben bei Herodot, Studien zur Erzählkunst Herodots, Berlin 1971), in welcher die Quellen Herodots als weitestgehend fiktiv und die Nachforschungen und Methoden des „Vaters der Geschichtsschreibung“ in weiten Teilen kritisch als literarisches Konstrukt entschleiert worden sind, versammelten sich auf Einladung der Fächer Alte Geschichte (Fachbereich 6) und Klassische Philologie (Fachbereich 10) an der Philipps-Universität Marburg international renommierte Forscherinnen und Forscher zu einer neuerlichen Auseinandersetzung und Diskussion über Herodot und seine Quellen.
Nach der Begrüßung durch die Dekaninnen Verena Epp und Sonja Fielitz der Fachbereiche 6 und 10 leiteten die beiden Veranstalter der Tagung, Boris Dunsch (Klassische Philologie) und Kai Ruffing (Alte Geschichte), in die Thematik der Tagung ein. Dunsch rückte die Person und das Werk Detlev Fehlings mit einführenden Worten in den Mittelpunkt. Wirkung und Beurteilung von Fehlings Untersuchung in der Forschung wurden dann von Ruffing in kurzen Ausführungen aufgezeigt. Trotz der großen Kritik, mit der Fehling bedacht wurde, muss konstatiert werden, dass „Die Quellenangaben bei Herodot“ einen Paradigmen-Wechsel in der Bewertung und Erforschung des herodoteischen Werkes veranlasst hat, was besonders nach der 1989 erfolgten Übersetzung ins Englische deutlich geworden ist.
Die erste Sektion „Die Entstehung der Historien“ wurde von ELIZABETH IRWIN (New York) eröffnet. Irwin zeigte auf, dass die Verbindung der mythischen Theseus-Erzählung mit Dekeleia lediglich bei Herodot ersichtlich ist und auch ein Heros namens Dekeleos lediglich bei dem Autor der Historien begegnet. Die Relevanz von Dekeleia im herodoteischen Werk rühre, wie Irwin überzeugend darlegte, von der akuten politischen Situation, in welcher Herodot sein Werk verfasste, her. Die spartanische Besetzung Dekeleias müsse demzufolge als terminus post quem für die Entstehung des Werkes angesehen werden, für welches die Forschung eine ganzheitlich zusammenhängende Abfassung postuliert. Entgegen der communis opinio ist daher eine Spätdatierung des herodoteischen Werkes denkbar.
Die zweite Sektion „Herodot und seine Quellen“ eröffnete HEINZ-GÜNTHER NESSELRATH (Göttingen). Er zeigte an einigen Stellen, dass Herodot auf indigenen Quellen gründet. So führte er unter anderem aus dem Skythen-Logos die drei Ursprungsmythen an, welche allesamt nicht aus einem griechischen Umfeld stammen könnten. Mit Recht verdeutlichte der Vortrag, dass natürlich dennoch fiktive Erfindungen möglich seien, aber diese nicht zwangsläufig von Herodot selbst stammen müssten, sondern von diesem in sein Werk übernommen worden sein könnten.
ROBERT ROLLINGER (Innsbruck / Helsinki) zeigte Parallelen zwischen Herodots Bericht über rituell-kultisches Verhalten des persischen Großkönigs und inschriftlich dokumentierter Kulthandlungen neuassyrischer Herrscher auf. Im Zuge ideologischer Herrschaftslegitimation haben neuassyrische Regenten an der Peripherie ihres Reiches, nach ihrem Selbstbild dem Rand der Welt, Bildsäulen und Inschriften errichtet, welche einen Anspruch auf Weltherrschaft artikulieren. Hierzu gehörten auch Rituale wie das Waschen der Waffen im Meer. Rollinger führte diese Handlungen anhand von Inschriften Salmanassars III. vor und verdeutlichte zudem, dass es sich um ideologische Legitimation, aber keinesfalls um realpolitische Herrschaftsansprüche gehandelt hat. Gleiche Motive der Kulthandlung, die noch bis in sasanidische Zeit verfolgt werden können, werden von Herodot auch Xerxes zugeschrieben, aber hinsichtlich der Gestaltung der Figur des Großkönigs umgeformt. Woher Herodot diese Information bezogen hat, kann nicht konkret eruiert werden.
Mandrokles’ Gemälde, welches die Überquerung der persischen Truppen unter Darius I. über den Bosporus gezeigt haben soll, war Thema des Vortrags von STEPHANIE WEST (Oxford). West ging zunächst auf die Motive des Mandrokles ein, der das Gemälde samt eines kurzen Epigramms in den Tempel der Hera auf Samos geweiht haben soll. Als wichtig wurde herausgestellt, dass das Gemälde nicht als reales Abbild des persischen Heereszuges verstanden werden kann, sondern als bewusste Darstellung des Herrschaftsanspruches und der grenzenlosen Allmacht des Perserkönigs, dessen aus sämtlichen Völkern seines Reiches bestehende Armee auf einen neuen Kontinent zieht. Das Gemälde könnte somit als eine Quelle für Herodots Vorstellung des Perserheeres gedient haben, die – wie in der Folge von West dekonstruiert wurde – kaum den historischen Tatsachen entsprochen haben kann. Die Präsenz des Großkönigs Darius I., der nach Herodot – und nach dem Gemälde des Mandrokles – persönlich seine Truppen nach Europa geführt haben soll, wurde ferner von West einer kritischen Prüfung unterzogen, welche das überzeugende Ergebnis erbrachte, die Anwesenheit des Perserkönigs als fiktiv anzusehen.
FRANCESCO PRONTERA (Perugia) richtete das Augenmerk auf die verwandtschaftlichen Beziehungen verschiedener Völker der Frühzeit im Werke Herodots, bspw. die Verbindung zwischen Kolchern und Ägyptern oder Lydier und Tyrrhenern. Prontera verdeutlichte, dass die frühen Beziehungsgeflechte Bedeutung für die ganzen Historien haben, man also stets nach dem Interesse des Autors an solcherlei Verwandtschaftsbanden zu fragen habe. Anhand der Gegenüberstellung von Athen (Pelasger, nicht eingewandert, unbekannte Sprache) und Sparta (aus Thessalien eingewandert, hellenisiert) demonstrierte er diese literarische Konstruktion innerhalb der Historien.
Im ersten Vortrag der dritten Sektion „Herodot als Literat I“ nahm REINHOLD BICHLER (Innsbruck) die Autopsie-Behauptungen in den Blick. Diese wurden von dem auktorialen Erzähler in für sein Publikum zugänglichen Regionen verwendet und sind thematisch meist in zwei Bereichen auszumachen: in dem Themenfeld der Chronologie der Frühzeit und im Bereich anthropomorpher Götterbilder bzw. der religiösen Kult- und Ritualpraktiken für solcherlei Götterbilder. Für die Begründung seiner Angaben über die Chronologie der Frühzeit benutze Herodot geologische Beobachtungen der Umwelt, die durch Autopsie-Behauptung an Glaubwürdigkeit gewinnen sollten. Die anthropomorphe Göttervorstellung sehe Herodot in Ägypten begründet, von wo sie den griechischen Kulturkreis erreicht habe. Seine Bemerkungen sollen in ihrem Wahrheitsanspruch auch hier durch persönliche Autopsie untermauert werden.
Einen eindringlichen Blick auf das Nachleben Herodots in der lateinischen Literatur warf BORIS DUNSCH (Marburg). Im Œuvre Ciceros finden sich insgesamt zwölf direkte Bezugnahmen zu Herodot, die in drei Gruppen gegliedert werden können: ausführliche Berichte über herdoteische Erzählungen, kurze Nennungen einzelner in den Historien verarbeiteter Sachverhalte und schließlich Urteile und Wertungen Ciceros über den Autor. Während sich die ersten beiden Gruppen in den philosophischen Schriften Ciceros ausfindig machen lassen, begegnet die dritte in rhetorischen Werken. Hinzu kommen weitere Belegstellen, die ohne eine explizite Nennung inhaltlich auf Herodot anspielen. Dunsch verdeutlichte, dass die meisten Bezugnahmen Ciceros, sowohl die inhaltlichen Wiedergaben als auch die stilistischen Urteile, keineswegs auf direkte Textkenntnis oder Herodot-Lektüre zurückzuführen sind. Vielmehr sei eine mittelbare, durch hellenistische Autoren tradierte Kenntnis des herodoteischen Werkes anzunehmen.
Die 300 Spartiaten, die an den Thermopylen bis zum letzten Mann aufopfernd kämpften, sind dank unterschiedlichster Rezeption in der Moderne ein sattsam bekannter Topos. KAI RUFFING (Marburg) untersuchte in seinem Vortrag die Verwendung der Zahl 300 im herodoteischen Opus sowie in weiteren literarischen Werken der Antike. Es zeigte sich, dass besonders die Zahl 300 sehr häufig Verwendung findet, so beispielsweise für Truppen- oder Flottenstärke. Die Zahl werde dabei als eine Art „Ausrufezeichen“ verwendet, das die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht und dessen Bewusstsein schärft. 300 könne dabei als besonders schwache Truppenstärke erscheinen, wodurch die Leistung der dreihundert Männer verdeutlicht werde oder auch als indirekte Kritik an den gegen 300 Männer/Schiffe auftretenden Gegnern. Meist handle es sich bei der Zahl aber um ein literarisch-narratives Instrument, welches bewusst eingesetzt worden sei.
Beschlossen wurde der erste Tag des Kolloquiums durch einen Abendvortrag von ARBOGAST SCHMITT (Marburg) zur Frage einer aristotelischen Herodot-Lektüre. Der Referent führte zunächst kurz in das aristotelische Geschichtsbild ein, indem er das Denken, die Vorstellung und das Bewusstsein von Geschichte und darauf aufbauend die Darstellung von Historie nach Aristoteles erläuterte. Die Darstellung erfordere eine Analyse des menschlichen Handelns, wobei der Mensch zwar als selbst bestimmt, aber auch stets als in einer gewissen Abhängigkeit befindlich zu erkennen ist. Schmitt thematisierte weiter das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung. Nach der aristotelischen Philosophie habe der Geschichtsschreiber dem Dichter vergleichbare Aufgaben; es bestehe jedoch ein Unterschied darin, dass der Historiker, während der Poet sein Thema auswählen könne, diese Freiheit nicht habe. Der Geschichtsschreiber versuche fernerhin darzustellen, was als wahrscheinlich verstanden werden kann, wobei die Wahrscheinlichkeit durch das jeweils darzustellende Individuum bestimmt wird. Der Vortrag, der hier nur in einer kurzen Skizze umrissen werden kann, sensibilisierte für eine Herodot-Lektüre unter aristotelischen Kriterien von Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein.
Die vierte Sektion „Herodot als Literat II“ wurde von MARCO DORATI (Urbino) eröffnet. Dorati präsentierte theoretische Ansätze der Narratologie, mittels welcher das Werk Herodots und besonders seine „Indicazioni di fonti“ zu verstehen und zu entschlüsseln sind. Eindrücklich wurden die unterschiedlichen Konstruktionsebenen des Werkes, deren fiktionale und faktische Intention sowie die Aufgliederung einzelner storyworlds vorgeführt.
WOLFANG RÖSLER (Berlin) wandte sich in seinem Vortrag jener Herodot-Stelle zu, die für Fehling in seinem Werk „Die Quellenangaben bei Herodot“ von zentraler Bedeutung gewesen ist und demzufolge auch an prominenter erster Stelle Bearbeitung fand. Für Fehling war der Bericht über die mirakulöse Rettung Delphis vor den einfallenden Persern eine reine Fiktion Herodots. Rösler kam nach einer gründlichen Analyse zu einem anderen Urteil. Viel eher als Herodot seien die Delphier als Urheber der Geschichte anzusehen. Röslers Vortrag korrespondierte in gewisser Hinsicht mit den Überlegungen Nesselraths, wonach bei der Untersuchung der Ursprünge einzelner Episoden im herodoteischen Werk stets die Frage cui bono? zu stellen sei.
WOLFGANG BLÖSEL (Kassel) untersuchte anschließend die Motivzuschreibungen in den Historien und beleuchtet einzelne große Einzelpersönlichkeiten. Er konnte etwa aufzeigen, dass der Themistokles des herodoteischen Werkes als ein Spiegelbild des realpolitischen Athens des 5. Jahrhundert v.Chr. zu deuten ist. Für Herodot, der Kritik an der athenischen Politik üben wollte, war es einfacher, die große politische Gesamtlage anhand einzelner Figuren zu spiegeln. Darüber hinaus war es möglich, die herausragenden griechischen Persönlichkeiten anhand der Perserkönige zu kontrastieren.
Die fünfte Sektion „Herodot und die Nachbarn der Griechen“ wurde durch einen weiteren Vortrag von STEPHANIE WEST zu „Skylax’s problematic voyage“ eröffnet: Die Reise des Skylax gehört inhaltlich in den Kontext der persischen Eroberung des Indus-Gebietes und ist im Werk Herodots Teil einer langen geographisch-ethnographischen Einführung, welche vor dem Bericht über den Skythen-Feldzug des Darius steht. Die Referentin betonte die politische und ideologische Konnotation geographischer Angaben und erläuterte unter diesen Gesichtspunkten das herodoteische Weltbild der drei Kontinente Europa, Asien und Libyen. Ferner richtete West den Focus auf Herodots Quellen. Vermutlich habe dieser nur indirekt Wissen von dem literarischen Werk des Skylax oder bezog seine Informationen aus mündlicher Kunde.
JOSEF WIESEHÖFER (Kiel) führte zunächst anhand einiger Fallbeispiele die Rezeption unterschiedlicher Perserbilder in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart vor. Besonders das weitverbreitete, aber letztlich haltlose Credo, die Abwehr der Perser im 5. Jahrhundert v.Chr. habe welthistorische Bedeutung für Mittel- und Westeuropa gehabt, wurde hierbei angemerkt. Die populäre Vorstellung, die persische Großmacht hätte bei einem Erfolg gegen den Hellenenbund ganz Europa „provinzialisiert“ und kulturell überformt, wurde von Josef Wiesehöfer einer kritischen Prüfung unterzogen. Durch eine Dekonstruktion Herodots gelangte er zu dem Ergebnis, dass Xerxes wohl kaum an eine direkte Beherrschung, sondern vielmehr an eine indirekte Herrschaft gedacht haben dürfte. Eine solche indirekte Einflussnahme sei in ähnlicher Form auch für das 4. Jahrhundert v.Chr. durch finanzielle Subventionen verschiedener griechischer Städte ersichtlich. Ferner müsse, wie auch Robert Rollinger in seinem Vortrag urteilte, zwischen der großköniglichen Ideologie und der realpolitischen Umsetzung selbiger unterschieden werden.
In dem Abschlussplenum resümierten die Veranstalter zunächst die Ergebnisse der Vorträge sowie deren Positionierung innerhalb der Herodot-Forschung. Anschließend wurde nochmals der Bezug zu Fehlings Werk hergestellt und auf Fortschritte und Ergebnisse, aber auch auf neue und alte Problemfelder verwiesen, die zu lösen letztendlich nicht das Ziel der Tagung gewesen ist. – "Ich aber muss anführen, was berichtet wird, alles zu glauben aber bin ich nicht gehalten." (Hdt. 7,152)
Konferenzübersicht:
Begrüßung durch die Dekaninnen der Fachbereich 6 und 10
Boris Dunsch und Kai Ruffing (Marburg), Begrüßung und Einführung
Sektion 1: Die Entstehung der Historien
Chair: Oliver Stoll
Elizabeth Irwin (New York): Theseus, Decelea and the Date of the Histories
Sektion 2: Herodot und seine Quellen
Chair: Oliver Stoll / Boris Dunsch
Heinz-Günther Nesselrath (Göttingen): Indigene Quellen bei Herodot und ihre Erfinder – einige Fallbeispiele
Robert Rollinger (Innsbruck); Altorientalisches bei Herodot
Stephanie West (Oxford): 'Every picture tells a story': Mandrokles' remarkable painting (Hdt. 4. 88)
Francesco Prontera (Perugia): Dati e fonti nella archaiologia di Erodoto
Sektion 3: Herodot als Literat I
Chair: Wolfgang Rösler
Reinhold Bichler (Innsbruck): Zur Funktion der Autopsie-Behauptungen in den Historien Herodots
Boris Dunsch (Marburg): Innumerabiles sunt fabulae. Herodot bei Cicero
Kai Ruffing (Marburg): 300
Abendvortrag
Arbogast Schmitt (Marburg): Gibt es eine aristotelische Herodot-Lektüre?
Sektion 4: Herodot als Literat II
Chair: Reinhold Bichler
Marco Dorati (Urbino): Indicazioni di fonti ("Quellenangaben") e narrazione storica: alcune considerazioni narratologiche
Wolfgang Rösler (Berlin): Ein Wunder im Kampf um Delphi (8, 38f.): Historische Überlieferung oder Fiktion Herodots?
Wolfgang Blösel (Kassel): Herodots Kritik am zeitgenössischen Athen in den Darstellungen der Alkmaioniden, des Miltiades und Themistokles
Sektion 5: Herodot und die Nachbarn der Griechen
Chair: Robert Rollinger
Stephanie West (Oxford): Skylax’s problematic voyage: a note on Herodotus IV 44
Josef Wiesehöfer (Kiel): Herodot und ein persisches Hellas. Auch ein Beitrag zu populärer und 'offiziöser' Geschichtskultur
Abschlussplenum