Vom 24. bis 25. November 2011 fand in Aachen die vom Lehrstuhl für Alte Geschichte am Historischen Institut der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen organisierte und von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung „Identitätsfragen im hellenistischen Griechenland“ statt. Sie war die Fortsetzung einer im März 2011 in Bochum abgehaltenen Tagung zu Metöken und Neubürgern im Hellenismus1, spannte den thematischen Bogen nun jedoch insofern weiter, als ihre Beiträge vor dem Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel verschiedene häufig unter dem Schlagwort „Identität“ subsumierte Formen der Selbstwahrnehmung, Selbstdarstellung und Abgrenzung der Griechen gegenüber Fremden untersuchten. Die Tagung fragte damit nicht nach den kulturellen Wechselwirkungen zwischen ‚Griechen‘ und ‚Nichtgriechen‘ in den durch die Eroberungen Alexanders neu erschlossenen Gebieten des Ostens oder nach der ‚Hellenisierung‘ Roms, das heißt dem Feld der Außenwirkung griechischer Kultur, das in den letzten Jahrzehnten intensiv erforscht worden ist2, sondern beleuchtete vielmehr die von der jüngeren Forschung weniger fokussierten Rückwirkungen dieser Prozesse auf die im traditionellen Siedlungsraum lebenden Hellenen.
Die Tagung wurde durch KLAUS FREITAG (Aachen) mit grundlegenden Überlegungen zum Themenkreis Identität, Ethnizität bzw. „Hellenicity“ im antiken Hellas eröffnet.3 Ausgehend von jüngeren Arbeiten zur hellenischen Ethnogenese in der Archaik plädierte Freitag für eine Erweiterung des Modells und betonte, dass es sich um einen kontinuierlichen, mit der Klassik keineswegs abgeschlossenen Prozess handle. Als fundamental für das wissenschaftliche Operationalisieren des Begriffs nannte Freitag die Erkenntnis, dass Identität stets Ergebnis sozio-kultureller Konstruktion war, die erst durch Aktivierung in spezifischen Kommunikationsvorgängen Wirkungsmacht gewann. Identität konnte daher weder von Beginn an vorhanden – ja quasi genetisch determiniert – sein noch sich zu einer unveränderlichen Größe entwickeln, sondern war vielmehr auf unterschiedlichen Ebenen als Argument abrufbar, was Freitag anhand des in der bekannten Glaukon-Inschrift erwähnten „Hellenenbundes“ und der Ringeranekdote bei Polybios, eines Spiels mit ethnischen Zuschreibungen zur Diffamierung eines Kontrahenten, aufzeigte.
Die nachfolgenden Vorträge behandelten unter dem so vorgezeichneten Gesichtspunkt ganz unterschiedliche Aspekte der griechischen Welt vom 4. bis 2. Jahrhundert v.Chr., kreisten aber um vier große Themenkomplexe. Die Wechselwirkungen zwischen hellenistischer Literatur und zeitgenössischen Formen der Identitätskonstruktion stellen dabei eine Dimension dar, die sich aufgrund der geringen Quellendichte besonders schwer beurteilen lässt.
Mit der Instrumentalisierung von Abstammung und Sprache bzw. Dialekt als Mittel zur ethnischen Positionierung und Distinktion berührte LINDA-MARIE GÜNTHER (Bochum) wesentliche Aspekte des Konstrukts Identität. Als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung diente die bekannte Darstellung zweier Syrakusanerinnen im ptolemäischen Alexandreia in Theokrits 15. Idyll. Die einer der beiden in den Mund gelegte Argumentation mit ihrer korinthischen Abstammung und ihrem peloponnesischen bzw. dorischen Dialekt diente Günther dazu, das Spannungsfeld zwischen literarischem Operationalisieren und „realen“, historischen Identitäten aufzuzeigen. Eine onomastische Analyse erwies, dass die im Gedicht verwendeten Namen der Syrakusanerinnen nicht spezifisch peloponnesisch sind. Da sich für die Einwandererstadt Syrakus jedoch generell keine typischen Namen aufzeigen lassen, scheint die Namensgebung dort ohnehin kein konstitutives Element für Identitätsbildung gewesen zu sein. Dies führte Günther zur grundlegenderen Frage, inwiefern Namen in der Antike überhaupt als Marker ethnischer Zugehörigkeit gesehen werden können oder nicht viel eher auch als Schichtenphänomen zu werten sind und ob Metöken hier vielleicht noch eine Sonderrolle einnahmen.
DAVID ENGELS (Brüssel) ordnete in seinem Beitrag das Leben und das auf den ersten Blick disparate, nur in Fragmenten erhaltene Werk des Polemon von Ilion in den Kontext der hellenistischen Oikumene ein. In Kontrast zum herodoteischen Hellenikon zeigte Engels in einem ersten Schritt den Wandel und die Entstehung von Bezugssystemen in hellenistischer Zeit auf. Im Hinblick auf eine Charakterisierung des literarischen Schaffens Polemons, der in der Forschung als Vorläufer, wenn nicht gar Vorbild des Pausanias gesehen worden ist, diskutierte Engels den Begriff des Antiquarianismus und zeigte Möglichkeiten der Deutung des Oeuvres auf, in welchem er Anzeichen für eine Konzentration auf das ursprüngliche Kerngebiet des griechischen Siedlungsraums sah; dies sei vielleicht als bewusste Gegenstellung zur erweiterten hellenistischen Welt der Autorengegenwart zu werten. Engels schloss mit der Erwägung einer Einordnung des Polemon in das kulturelle Milieu des pergamenischen Hofes, an dem er sich möglicherweise aufhielt.
Verschiedene Aspekte von „Identität“ auf Polisebene behandelten drei Vorträge. Auf Basis aktueller Grabungsergebnisse der Universität Graz im nordarkadischen Pheneos fragten SABINE TAUSEND und KLAUS TAUSEND (Graz) nach den Bedingungen urbanen Wandels in dieser zwar kleinen, jedoch an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt gelegenen Stadt. Zur Diskussion standen die Errichtung einer Befestigung auf dem Akropolishügel am Anfang des 4. Jahrhunderts v.Chr. und deren Ausbau gegen Ende dieses Jahrhunderts. Die Baumaßnahmen stellten einen massiven Eingriff in die Siedlungstopographie dar, denn die Mauer führte offenbar durch ein Heiligtum. Vor dem historischen Kontext eines besonders für Boiotien feststellbaren Trends zum intensivierten Ausbau von Fortifikationen wurde nach den möglichen Hintergründen der Mauer- und Turmanlagen in Pheneos gefragt. Da auszuschließen sei, dass die kleine Siedlung von sich aus die Kosten schulterte, wurde ein äußeres Eingreifen der regionalen Mächte – unter ihnen vor allem Sparta – in die urbane Gestalt von Pheneos erwogen.
Mit dem Ernstfall für das Selbstverständnis einer Gemeinschaft beschäftigte sich CHRISTOPH MICHELS (Aachen), der die beachtliche Zahl gezielter Städtezerstörungen oder vergleichbar destruktiver Vertreibungs- und Umsiedlungsakte in hellenistischer Zeit in den Blick rückte. Als augenfällig erwies sich hier, dass, obwohl das Phänomen selbst bereits in Archaik und Klassik anzutreffen sei, die Rahmenbedingungen solcher Akte als spezifisch hellenistisch zu werten seien. Denn sowohl im politischen Repertoire der Monarchen als auch den Kommunikationsmöglichkeiten der Städte fänden sich ‚neue‘ Elemente. Michels untersuchte dabei Identitätsmodifikationen durch Umbenennung und/oder -gründungen. Die Frage, wie starke Folgen ein solcher Namenswechsel und die Einführung eines Herrscherkultes im politischen Gefüge der betroffenen Stadt hinterlasse, sei eindeutig noch untererforscht; analog stelle sie sich für die zahlreichen Poleis, die Vertriebenen und Verbannten die Aufnahme auf ihrem Territorium und in ihre staatlichen Strukturen gewährten – ein häufig reversibler Vorgang, der aber zu gravierenden Gleichgewichtsverschiebungen in den meisten aufnehmenden Städten geführt haben dürfte.
Mehrere Zeugnisse für das starke lokale Eigenleben und die Integrationskraft einer Polisbürgerschaft behandelte PETER KATÓ (Mainz) am Beispiel der Insel Kos. Eindrucksvoll sei hier die Konstanz, mit der – analog zu den sonst bekannten Mechanismen öffentlicher Aufmerksamkeit für städtische Euergeten – auch unbedeutende Spendenbeträge erfasst, inschriftlich fixiert und so dem öffentlichen Gedächtnis übergeben worden seien oder die Spender Seite an Seite mit den Stiftern großer Summen verewigt würden. Die ausgeprägte Tendenz der Koer zur Verbildlichung ihres sozialen Zusammenhalts zeige sich auch an der Entwicklung ausschließlich ortstypischer Monumentformen, die ganzen Berufs- und Funktionsgruppen in ihrem Stellenwert für das Polisganze einen symbolischen Rahmen zuordneten. Unverkennbar sei dabei der religiöse Kontext mit seinem Ensemble fester Ortszuweisungen politisch-sozial relevanter Denkmaltypen an die Hauptheiligtümer der Insel, die den Vorzug vor öffentlichen Straßen und Plätzen erhielten.
Aber auch jenseits des Stadtstaats wirksame Identitätskonzepte wurden behandelt. Eine spezifische Form regionaler Identität, die dem vertrauten System der griechischen Poliswelt diametral gegenüber zu stehen scheint, analysierte FRANK DAUBNER (Stuttgart). Auf Basis der epigraphischen Überlieferung – darunter unediertes Material jüngster Grabungen – betrachtete er anhand der Fallbeispiele verschiedener Zentren (Gitana, Phoinike, Butrint) die antike Landschaft Epeiros nach dem Ende der Aiakidendynastie. Durch die inschriftlichen Selbstbezeichnungen zahlreicher Epiroten konnte er ein von der Darstellung des griechischen Geographen Strabon deutlich zu scheidendes Bild rekonstruieren. Daubner machte für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen verschiedene, hierarchisierte Identitätsebenen plausibel. Ihre Aktivierung war offenbar situationsgebunden und reichte vom schließlich auseinander gebrochenen Epeirotischen Bund über die drei großen Stämme (koiná) hinab zu Clans, deren Zugehörigkeiten zu größeren Zusammenschlüssen – und damit auch ethnische Zuschreibung – offenbar einem konstanten Wandel unterworfen waren. Daubner stellte sich auf der Basis dieses Materials gegen die ältere teleologische Auffassung, die Entwicklung in allen griechischen Landschaften sei auf die Ausbildung von Polisstrukturen und weiter zur Bildung von Bundesstaaten oder Monarchien verlaufen. Epeiros zeige sich nicht als „rückständiger“ Sonderfall, sondern als Beispiel großer Beharrungskraft und Funktionalität der geschichtet-abstammungsorientierten Strukturen.
Als gescheitertes Herrschaftskonzept, aber auch als verpasste Identitätschance kennzeichnete JOHANNES ENGELS (Köln) die Errichtung der vier makedonischen Regionen (merídes) nach der Katastrophe der Schlacht von Pydna (168 v.Chr.). Nach römischem Willen sollten sie einander neutralisieren, eine direkte Machtausübung Roms erübrigen und das Erbe des Antigonidenreiches ohne unerwünschte Außenwirkung antreten. Nachdem mit dem Ende der Königsdynastie das Makedonien einigende Band verschwunden war, habe der gleichzeitige Wegfall der reichsweiten Führungselite durch Krieg oder Verschleppung nicht allein wertvolle Kompetenzen gekostet, sondern zudem das Ausbleiben eines neuen Identifikationsangebots für die Bewohner der Teilstaaten verursacht; ihre Reaktion, wahrscheinlich ein auf Lokal- und Clanebene reduziertes Selbstverständnis, habe im Zusammenspiel mit anderen Unruhefaktoren des römischen Ordnungsmodells dessen Untergang im Andriskos-Aufstand vorbereitet, der noch einmal gesamtmakedonische Bindungen mobilisierte.
Identitätsstiftung als außenpolitische Herausforderung stellte eine weitere, wichtige Facette dar. Eine konkrete historische Konfliktsituation untersuchte dabei KLAUS SCHERBERICH (Aachen). Mit einem so ironischen wie erhellenden Seitenblick auf den Dritten Golfkrieg des Jahres 2003 wandte sich Scherberich den praktisch-militärischen wie legitimatorischen Mühen König Philipps V. von Makedonien zu, während des Bundesgenossenkrieges (220-217 v.Chr.) eine schlagkräftige Allianz gegen den Aitolerbund zu vereinen. Typisch ‚hellenistische‘ Elemente konnte Scherberich bei den von Philipp formulierten Kriegszielen nicht ausmachen, vielmehr bewegte sich der Makedonenkönig in traditionellen Bahnen. Wenn dem Versuch, Einigkeit unter den Bündnern zu erzeugen, letztlich nur wenig Erfolg beschieden war, zeigte sich doch im Vorgehen Philipps die auch für andere Akteure wie die Ätoler, Achäer oder auch Rhodos greifbare Notwendigkeit, die eigene Außenpolitik mit einem positiv konnotierten „Programm“ zu versehen.
Der faktengesättigte Beitrag von DORIT ENGSTER (Göttingen) beschrieb schließlich den Schlussakt der politischen Autonomie Griechenlands, den chancenlosen Achaiischen Krieg zwischen Rom und der noch verbliebenen griechischen Hauptmacht (146 v.Chr.), vor allem als Folge wachsender Empfindlichkeiten innerhalb des Achaiischen Bundes, dessen maßgebliche Politiker sich zwischen den Optionen einer konsequenten Orientierung an den Wünschen Roms oder der Einnahme einer selbstbewussten bis provokanten Haltung polarisierten. Deutlich wurde, wie sehr hier neben persönlicher Konkurrenz auf der Führungsebene auch die nie abschließend gelöste Kernfrage griechischer Staatlichkeit verhandelt wurde, die Tragweite des Anspruchs politischer Selbstständigkeit. Die anschließende Aussprache kreiste besonders um die erstaunlich schwache Bindungskraft des achaiischen Koinon gerade im Vergleich zum Aitolerbund; mehrere Intervenienten zogen Parallelen vom immer wieder durchschlagenden Eigeninteresse der Mitglieder, das leicht im Austritt gipfelte, zur Dauerkrise um Integrationsstand und grundsätzliche Ausrichtung der Europäischen Union.
Referenten und Publikum gelangten nur widerwillig zum Ende der Schlussdiskussion, die sich schnell zu einer methodologischen Grundsatzdebatte entwickelte. Sie wandte sich dem Identitätsbegriff selbst zu, der – wie die ähnlich fundamentalen Konzepte „Macht“ oder „Gewalt“ – so unverzichtbar wie bei näherem Hinsehen problembeladen ist. Für die hellenistische Welt steht als Konkurrent nach wie vor der Begriff „Ethnizität“ im Raum, der jedoch wichtige Komponenten ausspart, ohne die sich Phänomene der Selbst- und Fremdwahrnehmung (oder -deutung) nicht beschreiben lassen, etwa die Erinnerungskultur oder die Rolle politischer Strukturen. Großes Einverständnis zeigte sich in der Überzeugung, dass in jedem Fall mit komplexen Gebilden zu rechnen sei, etwa einer Mehrzahl von Identitätsebenen mit wachsendem Einzugsbereich, die beim Einzelnen wie bei der so definierten Gruppe aktiviert werden, je nachdem, wem sie sich gegenübersehen. Weiterhin gebe das Spektrum der Tagungsbeiträge Hinweise auf einen kontinuierlichen Prozess der Abstoßung alter und der Aufnahme neuer identitätsstiftender Komponenten, widerspreche also einem statischen Identitätsverständnis.
Wie Bewusstsein und Zuschreibung von Identitäten jeweils mit Inhalten gefüllt und in politisch-soziales Handeln umgesetzt wurden, bleibt – so das Fazit der Beteiligten – eine Hauptfrage der künftigen altertumswissenschaftlichen Forschung, die sich angesichts der Quellenlage leider an den Grenzen ihrer Möglichkeiten bewege. Ausgeschöpft erscheinen sie keineswegs, auch ohne die deutlich geäußerte Hoffnung, dass der Ruf nach einer Anschlussveranstaltung zum kaiserzeitlichen Griechenland Gehör findet.
Konferenzübersicht:
Klaus Freitag (Aachen): „Hellenicity im Hellenismus?“
Sabine Tausend / Klaus Tausend (Graz): „Pheneos und die arkadische Identität“
Linda-Marie Günther (Bochum): „'Korinthischen Stammes sind wir wie Bellerophontes' – Syrakusaner/innen fern der Heimat“
David Engels (Brüssel): „Hellenistische Periegese: Polemon von Ilion“
Klaus Scherberich (Aachen): „Philipp V. gegen die Ätoler oder der (vergebliche) Versuch, eine Koalition der Willigen zu schmieden“
Frank Daubner (Stuttgart): „Epirotische Identitäten nach der Königszeit“
Christoph Michels (Aachen): „Von neu beginnen? Zerstörung und Wiederaufbau von Poleis im Hellenismus“
Peter Katò (Mainz): „Polis, Kult und Beruf: Bezugspunkte sozialer Identität im hellenistischen Kos“
Johannes Engels (Köln): „Die Problematik der Schwäche der makedonischen „Identität“ der vier regiones Makedoniens zwischen 168/7 und 148 v. Chr.“
Dorit Engster (Göttingen): „Der Achäische Krieg“
Anmerkungen:
1 Zum Programm des Bochumer Workshops vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=15698> (07.12.2011).
2 Vgl. etwa Bernd Funck (Hrsg.), Hellenismus, Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters, Akten des Internationalen Hellenismus-Kolloquiums, 9. - 14. März 1994 in Berlin, Tübingen 1996.
3 Vgl. Jonathan M. Hall, Hellenicity. Between Ethnicity and Culture, Chicago 2002.