Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Die Tschechoslowakei und die DDR 1948/49-1989

Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität im Staatssozialismus. Die Tschechoslowakei und die DDR 1948/49-1989

Organisatoren
Collegium Carolinum München
Ort
Bad Wiessee
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.11.2011 - 06.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Arnost Stanzel, München

Spätestens seit der frühen Neuzeit diente das Versprechen von Ordnung und Sicherheit als ein zentrales Argument für die Legitimation staatlicher Herrschaft. Vorstellungen davon, was „normal“ ist und was die Gesellschaft bedroht, offenbaren also viel vom staatlichen Selbstverständnis. So merkte MARTIN SCHULZE WESSEL (München) in der Eröffnung der Jahrestagung des Collegium Carolinum an, dass man die Konferenz über „Ordnung und Sicherheit. Devianz und Kriminalität“ auch als Beitrag zu der Frage verstehen könne, was eigentlich sozialistische Staatlichkeit gewesen sei. Denn der Staatsozialismus habe eine ganz bestimmte Auffassung von Ordnung und Kriminalität gehabt. Er habe Kriminalität und abweichendes Verhalten als Relikt der bürgerlichen Gesellschaften und somit als ein Problem definiert, das sich mit fortschreitender Entwicklung der sozialistischen Gesellschaften von selbst lösen würde.

Gleich mehrere Tagungsthemen griff THOMAS LINDENBERGER (Wien) in seiner Keynote Speech zu „Sicherheit, Ordnung und Sehnsucht nach Normalität. Überlegungen zum zeitweiligen Gelingen staatssozialistischer Herrschaft in der DDR“ auf. Zu Beginn seines Vortrags zeigte er die Traditionslinien, in denen sich die Ordnungsvorstellungen des sozialistischen Regimes bewegten: Auf Ideen der frühen Neuzeit basierten Bemühungen, für das Gemeinwohl zu sorgen – ein sehr umfassender Ansatz im Sinne einer „guten Policey“. Zugleich schöpfte die konkrete Justiz- und Polizeiarbeit aus der europäischen Polizei- und Rechtsgeschichte der Moderne, etwa in der Beschränkung der Polizei auf die Funktion des ausführenden Arms der Justiz. In der Realität führte dies aber vor allem zur Entwicklung eines Polizeistaates, der den „ungeschriebenen Artikel 1 der DDR schützte: Die Würde des Arbeiter- und Bauernstaates ist unangreifbar.“ Dies machte Lindenberger unter anderem am Beispiel des Diebstahls von Volkseigentum fest, der gewissermaßen einen direkten Angriff auf die Staatlichkeit darstellte und dementsprechend bestraft wurde. Das Trauma von 1953 habe zudem zur Verbreitung militärischer Grundsätze in der Polizeiarbeit und Ausbildung geführt. Die Angst vor der Infragestellung der eigenen Staatlichkeit und ihrer zentralen Inhalte habe die Kommunisten zu Ordnungs- und Sicherheitsfanatiker gemacht. In der Diskussion spielten insbesondere Fragen nach Besonderheiten der DDR-Entwicklung eine große Rolle, etwa zur Ideengeschichte oder der Militarisierung der Polizeiarbeit, die beispielsweise weder in Westdeutschland noch in der Tschechoslowakei ein solches Ausmaß wie in der DDR erreichte.

Im zweiten einführenden Vortrag des Panels befasste sich VOLKER ZIMMERMANN (München) mit „Kriminalität, Kriminologie und Verbrechensprävention im Staatssozialismus“ am Beispiel der Tschechoslowakei, der DDR und Polens. Er vertrat die These, dass die Staatsführungen über die krisenhafte Entwicklung ihrer Gesellschaften kaum überrascht gewesen sein dürften – wenn sie sich mit den Ergebnissen der eigenen kriminologischen Forschung kritisch auseinander gesetzt hätten. Diese betrieben seit Anfang der 1960er-Jahre unter anderem die kriminologischen Institute bei den Staatsanwaltschaften. Dabei entwickelten sich die Erklärungsansätze für die Entstehung von Kriminalität im Sozialismus durchaus weiter. So wurde die dominierende Relikttheorie unter anderem durch den so genannten Widerspruchsansatz ergänzt, der Ursachen für Verbrechen im Widerspruch von gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Realität und persönlichen Ansprüchen sah. Die Forschungsergebnisse der kriminologischen Institute waren in der Tat aufschlussreich, was Zimmermann am Beispiel des Themas Korruption zeigte. Hier belegte etwa die tschechoslowakische Kriminologie mit großangelegten Meinungsumfragen zum Thema Rechtsbewusstsein gerade auf diesem Feld eine dauerhafte Erosion von Moral- und Wertvorstellungen und ein sinkendes Vertrauen in den Staat. Doch die Kraft zu einer unideologischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Gründen für die Korruption und anderen Formen von Kriminalität entwickelten die staatssozialistischen Regime nicht.

Das folgende Panel „‚Ordnungshüter‘ – Staatssicherheit und Polizei“ leitete ein aufgrund der Abwesenheit des Referenten verlesener Vortrag von TOBIAS WUNSCHIK (Berlin) über die Arbeitsteilung zwischen Staatssicherheit und Polizei in der DDR ein. Dabei wurde deutlich, dass es sich hier um eine ungleiche Beziehung handelte, in der Erich Mielkes Stasi gegenüber der Volkspolizei den Ton angab. So kontrollierte die Stasi die Volkspolizei in der Personalpolitik. Hinzu kam, dass die Anzahl der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) in den Reihen der Volkspolizei vergleichsweise hoch war, bei der Kriminalpolizei lag der Anteil der IMs und anderer Kräfte der Staatssicherheit sogar bei 23 Prozent. Dennoch habe gerade die Leitung der Volkspolizei durchaus Spielraum im Rahmen des „Politisch-Operativen Zusammenwirkens“ gehabt, zwischen den Polen vorauseilender Gehorsam und Obstruktion habe es viele Handlungsmöglichkeiten gegeben.

Bei VÁCLAV ŠMIDRKALs (Prag) Vortrag über freiwillige Helfer der Polizei in der Tschechoslowakei und der DDR wurde deutlich, dass nicht nur IMs die Arbeit der Polizei unterstützten, sondern auch „gewöhnliche“ Bürger. Nach dem Vorbild der sowjetischen Hilfsbrigaden der Miliz entstanden in den 1950er-Jahren in der ČSSR die „Pomocná stráž veřejné bezpečnosti“ und in der DDR die „Freiwilligen Helfer der Volkspolizei“. Die meist männlichen Mitglieder stellten in der DDR seit den 1960er-Jahren 120.000 Helfer, in der ČSSR pendelte die Zahl zwischen 60.000 und 90.000. Motivation für die Mitarbeit waren unter anderem Auszeichnungen oder Vorteile in anderen Lebensbereichen. Die Helfer waren vor allem mit Bagatelldelikten befasst und wurden von der Bevölkerung oft als „Hilfssheriffs“ belächelt. Dennoch konnten sie jederzeit auch politische Vergehen melden, und gerade im Grenzgebiet erwiesen sie sich als durchaus effiziente Stütze der Grenzwachen. In der Diskussion wurde nach weiteren Gründen für die Motivation und ihrem Beitrag zur Stabilisierung des Systems gefragt. Šmidrkal berichtete, dass neben Loyalität gegenüber dem Regime und Hoffnung auf Vorteile die Sorge um die Sicherheit am Wohnort ein wichtiger Beweggrund gewesen sei. Der Schwerpunkt der Arbeit habe auf dem Lande gelegen, wo reguläre Polizeikräfte weniger stark vertreten waren.

Im Panel „‚Ordnungshüter‘ und Täter – Darstellung im Kriminalfilm“ stand die filmische Repräsentation von Verbrechen und ihrer Bekämpfung im Mittelpunkt. PETR KOURA (Prag) konnte in seinem Referat über das Bild von Straftätern und Polizisten in tschechoslowakischen Kriminalfilmen sehr eindrucksvoll zeigen, wie die Streifen die damaligen staatlichen Vorstellungen widerspiegelten. So waren die Täter nie Arbeiter, aber oft in „bourgeoisen Milieus“ angesiedelt. Am Beispiel von Filmausschnitten wurde auch die Veränderung der Figur des Ermittlers offensichtlich: Der draufgängerische Typ des Kommissars aus der Vorkriegszeit wurde allmählich vom nachdenklichen und meist unbewaffneten sozialistischen Kommissar abgelöst. Auch in CIPRIAN CIRNIALAs (Berlin) „Überlegungen zur Polizeiästhetik“ am Beispiel der Darstellung von Händen in Kriminalfilmen war die Unterscheidung zwischen altem und neuem Typus Kommissar ein wichtiges Thema. Anhand bewaffneter oder unbewaffneter Hände in der tschechoslowakischen Fernsehserie „Major Zeman“ – und auch in einigen ostdeutschen und rumänischen Serien – wurde der sozialistischen, „friedlichen“ Gesellschaft die bloße, geöffnete Hand zugeordnet. Die Ästhetik der Hand sei so als Symbol für das Verhältnis von Gewalt und Legitimität staatlicher Ordnung im Sozialismus zu verstehen.

Im Panel „Strafe im Staatssozialismus“ zeigte PAVEL KOLÁŘ (Florenz) in seinem Vortrag „Capital Punishment and State Sovereignity in Late Socialism“, wie man anhand von Debatten um die Todesstrafe Selbstverständnis und Konzeption von Staaten erfassen kann. Kolář geht von einem Paradox liberaler Staaten aus: Um die Todesstrafe „humaner“ zu gestalten, findet sie hinter verschlossenen Türen statt, verliert so aber ihre Abschreckungsfunktion. Auch im Sozialismus sei nach dem Ende des Stalinismus, in dem die Exekution noch ein Mittel zur Herstellung staatlicher Ordnung war, eine ähnliche Entwicklung zu beobachten gewesen. An diesem Punkt ansetzend, dienten die Todesstrafe und ihre Praktiken bzw. Diskurse dazu, die Entwicklung postotalitärer sozialistischer Regime zu verstehen.

Das Gefängniswesen der Tschechoslowakei am Beispiel der pönologischen Forschung thematisierte ONDŘEJ HLADÍK (Prag). Er kam zu dem Ergebnis, dass der ganze Komplex der Resozialisierungs- und Erziehungsprogramme überraschend pragmatisch gewesen sei: Nicht die Schaffung des „Neuen sozialistischen Menschen“ sei das Ziel gewesen, sondern es hätten ältere Ansätze dominiert, die vor allem eine problemlose Unterbringung und später auch Resozialisierung von Straftätern gewährleisten sollten. Das in den 1960er-Jahren geschaffene Pönologische Forschungsinstitut der Tschechoslowakei sei jedoch zu Beginn der 1980er-Jahre geschlossen worden, was unter anderem mit dem intensiven und offenen wissenschaftlichen Austausch mit westlichen Wissenschaftlern zusammengehangen haben könnte.

Am folgenden Tag begann die Konferenz mit zwei Referaten im Panel „Gewalt als staatliches und gesellschaftliches Phänomen“, in dem MICHAL PULLMANN (Prag) in seiner „Critique of Violence in Late Socialist Czechoslovakia“ die These zur Diskussion stellte, dass Ruhe (hier „Klid na práci“ – „Ruhe zum Arbeiten“) und die Abwesenheit öffentlicher Gewalt eine der Hauptsäulen für die Stabilisierung der sozialistischen Tschechoslowakei gewesen seien. Nach dem Ende der Säuberungen infolge der Niederschlagung des Reformkommunismus habe seit 1973 eine Phase der Konsolidierung eingesetzt, in der das Regime eine erhöhte Toleranz gegenüber den „ordentlichen“ Bürgern zeigte. Erst am Ende des Staatssozialismus begann das Fundament des Staates zu bröckeln: Diskussionen über unkontrollierbare Gewalt, etwa von Fußballfans, zeigten, dass auch der Staatsozialismus ein spezifisches Kriminalitätsproblem hatte. 1989 war das Versagen des Staates, für Ruhe zu sorgen, letztlich auch ein Zeichen für seinen Untergang. MURIEL BLAIVE (Wien) konfrontierte das Publikum mit einer ganz anderen Form von Gewalt, nämlich der an schwangeren Frauen. In ihrem Vortrag „Power and Violence over the Female Body in Czechoslovakia“ zeigte sie, wie die Geburtspraktiken in der ČSSR als Gewalt gegen Frauen ausgelegt werden können.

Im ersten der drei Panels zu „Jugendkriminalität und -devianz“ wurde in Abwesenheit von CHRISTIANE BRENNER (München) ihr Vortrag „‚Warum sind sie so?‘ Der Umgang mit ‚gestörter‘ Jugend in der sozialistischen Tschechoslowakei“ verlesen. Zunächst wurde der Entwicklung der Jugendsoziologie seit den 1960er-Jahren und den Debatten über Prävention und Strafe sowie der strafrechtlichen Praxis nachgegangen. Das ideologisch geprägte Verständnis von Jugend und ihrer Rolle in der Gesellschaft und die Tatsache, dass das Problem der Jugendkriminalität praktisch ausschließlich in der Zuständigkeit der Justiz lag, habe eine vergleichsweise harte Strafpraxis gegenüber Jugendlichen befördert. Dies sei von Fachleuten schon früh kritisiert worden. Versuche, den Akzent in Richtung Erziehung zu verschieben – etwa durch die Einbindung gesellschaftlicher Organisationen in Prävention, Strafvollzug und „Nachsorge“ – hätten sich aber als wenig erfolgreich erwiesen. Zu diskutieren bleibe, ob die Härte dem Staat genutzt habe, da sie nachweisbar auf Zustimmung der Bevölkerung getroffen sei.

CAROLINE FRICKE (Potsdam) beleuchtete in ihrem Vortrag zu „Von der Devianz zur Delinquenz – Gesellschaftliche und staatliche Betreuungs- und Kontrollmaßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität in der DDR“ die Entwicklung im Landkreis Schwerin. Insgesamt seien die Argumentationslinien in der DDR ähnlich wie in der Tschechoslowakei verlaufen. Auch hier habe man nach den Gründen jugendlichen Aufbegehrens gesucht, allerdings mit der Tendenz, die Heranwachsenden unter Generalverdacht zu stellen. In so genannten Jugenddokumentationen wurden Treffpunkte und Gruppen von Jugendlichen beschrieben, die sich der kollektiven Freizeitgestaltung entzogen oder „westlich“ kleideten. Erklärt wurde solches Verhalten außer mit schädlichen westlichen Einflüssen vor allem mit sozialer Verwahrlosung aufgrund schwieriger Familienverhältnisse. Folglich war die Einweisung in Jugendheime eine mögliche Konsequenz für „deviante“ Jugendliche – wobei ehrenamtliche Konfliktkommissionen der Betriebe und Wohngebiete sowie ehrenamtliche Betreuer von Jugendlichen, die verordnete Erziehungsmaßnahmen kontrollierten, den Verlauf des jeweiligen Falles wesentlich mitbeeinflussten.

In „Zwischen Zäsur und Kontinuität. Die polizeiliche Auseinandersetzung mit chuligánství in der Tschechoslowakei der fünfziger und sechziger Jahre“ beschäftigte sich MATĚJ KOTALÍK (Potsdam/Prag) mit dem so genannten „Rowdytum“. Unter anderem auf der Grundlage von Polizeiakten untersuchte er den normativen Begriff des „chuligánství“ und fragte, worum es sich dabei überhaupt handelte, wie dagegen vorgegangen wurde und wie die wissenschaftliche Debatte verlief. Seit 1955 gab es erste Berichte über Rowdytum, das bald darauf als Tatbestand eingeführt wurde. Die Definition war dabei sehr schwammig – mitunter reichte es aus, westliche Musik zu hören. In der Wissenschaft begann ab den 1960er-Jahren die Suche nach den Gründen und folgte eine Revision der Lehrmeinung: Nicht mehr allein die Relikttheorie war bestimmend, sondern psychologische und soziologische Erklärungsfaktoren lösten politische und ideologische ab. Dennoch sei der Kampf des Regimes gegen das Rowdytum nicht erfolgreich gewesen und zeige somit nicht nur die Mittel des repressiven Staates, sondern auch dessen Grenzen.

Anschließend gab MARTIN FRANC (Prag) einen Einblick in das harte Leben in Lehrlingsheimen in der Tschechoslowakei. In der Zeit zwischen Breschnews Abtreten und Gorbatschow sei eine Konjunktur der Auseinandersetzung mit Schikanen unter Jugendlichen zu beobachten gewesen, vor allem in Form einer zuweilen sehr drastischen filmischen Darstellung. Dies könne auch damit zusammenhängen, dass bewusst Ängste vor der gewalttätigen Jugend geschürt worden seien, um Repressionen zur Gewährleistung der von Michal Pullmann beschriebenen Ruhe für den „Normalbürger“ und „zum Arbeiten“ zu legitimieren.

Im dritten und letzten Panel zur Jugend waren Musik und Drogen Thema. So untersuchte ESTHER WAHLEN (Regensburg) Punk in der ČSSR. Sie argumentierte, dass sich das Bild von Punks verändert habe, was Aussagen über ein sich wandelndes Normverständnis des Staates erlaube: Während zu Beginn der 1980er-Jahre Punkbands mit Auftrittsverboten belegt und ihr Treiben als „ästhetisch abnormal“ und dem Sozialismus widersprechend abgelehnt wurden, habe man einige Jahre später eher gefragt, warum der Punk manche Jugendliche viel stärker ansprach als die regimegesteuerte Musikproduktion und die Gründe im Konservatismus der Gesellschaft und der Suche nach einem Ventil verortet. Diese Perspektivenverschiebung, betonte Wahlen, verweise auf eine innere Ausdifferenzierung, die auch abweichenden Ideen kleine Freiräume geboten habe.

Der Drogenkonsum, so JAN KOLÁŘ (Prag), sei ähnlich wie der Punk ein Import aus dem Westen gewesen, wobei in der Tschechoslowakei weniger klassische Rauschmittel wie Kokain Anwendung fanden, sondern eher verschreibungspflichtige Medikamente. Um diese herum habe sich eine Subkultur entwickelt, die sich in Gruppen organisierte und die von der Staatsmacht als Gangs kriminalisiert wurden. In ihrem Selbstbild waren deren Angehörige aber harmlos.

Im letzten Panel der Tagung zu „‚Abweichendes‘ und ‚Abseitiges‘ an der Grenze zur Straftat“ stellte EVA PLUHAŘOVÁ-GRIGIENĖ (Hamburg/Leipzig) in ihrem Vortrag über „‚Abseitige‘ Themen der tschechoslowakischen Fotografie im Staatsozialismus“ zu Beginn fest, dass von Künstlern vor allem Loyalität verlangt wurde – wer schwieg, habe seine Ruhe gehabt. Dennoch wurde dieser Personenkreis genau beobachtet, was die Referentin die Frage stellen ließ, wo die Grenzen zwischen konformen und nichtkonformen künstlerischen Ausdrucksformen verliefen. Als Beispiel wählte sie den Fotografen Jindřich Štreit. Fotografie sollte im Sozialismus den „gesunden Kern“ der Gesellschaft zeigen und erzieherisch wirken. Diese Auffassung wurde Štreit zum Verhängnis: Er hatte in den 1980er-Jahren eine von Armut, Alkoholismus und Verfall geprägte Wirklichkeit in der Tschechoslowakei fotografiert. Damit überschritt er die Grenzen des Erlaubten und verhielt sich – in den Augen des Staates – selbst deviant bzw. kriminell.

Im letzten Beitrag der Tagung beschäftigte sich STANISLAV HOLUBEC (Jena) mit der Entkriminalisierung von „Homosexualität in der Tschechoslowakei 1948-1989“. Auffallend sei gewesen, dass die Tschechoslowakei Homosexualität verhältnismäßig früh legalisiert habe (1961), eine offene Debatte über das Thema aber erst Ende der 1980er-Jahre eingesetzt habe, was Holubec unter anderem auf die gesellschaftliche Stagnation in der Tschechoslowakei während der Zeit der „Normalisierung“ zurückführte.

In der Abschlussdiskussion wurden noch einmal einige wichtige Punkte zusammengefasst. So sei zum einen zu beobachten, dass die Jugendkriminalität derzeit einen wichtigen Forschungstrend darstelle. Gerade sie biete interessante Fragestellungen, was aber auch die Gefahr berge, andere Kriminalitätsarten aus den Augen zu verlieren. Des Weiteren seien in den vierzig Jahren Staatssozialismus einige Verschiebungen zu beobachten gewesen: Die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen seien zunehmend offener geworden, doch habe dies kaum Konsequenzen für das staatliche Handeln gehabt. Vor allem in den 1980er-Jahren habe eine Beschleunigung der Diskussionen stattgefunden, wie unter anderem im Referat zum Punk deutlich wurde: Die Erklärungsmuster veränderten sich rapide, orthodoxe Glaubensgrundsätze wurden innerhalb weniger Jahre infrage gestellt.

Zudem stellte sich die Frage, ob die Krisen zum Ende hin in der Tschechoslowakei Ergebnis der versteinerten Normalisierungszeit gewesen waren oder es sich viel eher um eine verspätete Ankunft in der Moderne, dem Westen folgend, gehandelt habe. Oder aber waren die Diskurse über Kriminalität gar nicht neu, sondern nur ihre Thematisierung in der Öffentlichkeit? Dabei wurde auch auf die Bedeutung des Generationenkonflikts für die Jugendkriminalität hingewiesen: Während sich beispielsweise altgediente Mitarbeiter am Betriebseigentum bedienten, wurde dies bei der Jugend streng geahndet. Viele Jugendliche waren von dieser Ungleichbehandlung schockiert, verloren ihren Glauben an das System und reagierten mit Passivität, andere auch mit Frustration und Gewalt.

Die Tagung hat gezeigt, wie fruchtbar die Beschäftigung mit „Abseitigem“ sein kann, um das „Normale“ – bzw. die Vorstellung von Normalität – in einer Gesellschaft zu erkennen. Insbesondere ließ sich die Konstruktion von Devianz und abweichendem Verhalten gut nachvollziehen, und auch, welchen Schwankungen Vorstellungen von Recht, Moral und Ordnung unterlagen. Hier stellt sich – gerade beim Thema Jugenddevianz und -kriminalität – auch die Frage nach der Vergleichbarkeit dieser Phänomene mit der Entwicklung in westeuropäischen Staaten und in den USA. Wünschenswert wäre es zudem, auch jenseits von Rowdytum und Jugendkultur verstärkt nach abweichendem Verhalten zu suchen: etwa beim „gewöhnlichen“ Diebstahl.

Konferenzübersicht:

Panel I.: Ordnung und Sicherheit, Devianz und Kriminalität

Martin Schulze Wessel: Begrüßung

Thomas Lindenberger: Sicherheit, Ordnung und Sehnsucht nach Normalität. Überlegungen zum Scheitern der staatsozialistischen Herrschaft

Volker Zimmermann: Kriminalität, Kriminologie und Verbrechensprävention im Staatssozialismus

Panel II.: „Ordnungshüter“ – Staatssicherheit und Polizei

Tobias Wunschik: Zwischen Arbeitsteilung und Konflikt. Staatssicherheit und Polizei in der DDR

Václav Šmidrkal: Aus Liebe zu Ordnung und Sicherheit? Freiwillige Helfer der Polizei in der Tschechoslowakei und der DDR

Panel III.: „Ordnungshüter“ und Täter – Darstellung im Kriminalfilm

Petr Koura: Verbrecher und Polizisten in tschechoslowakischen Kriminalfilmen. Zur Entwicklung der Darstellung von Kriminalität im Staatssozialismus

Ciprian Cirniala: Die unbewaffneten Hände des Major Zeman. Überlegungen zur Polizeiästhetik

Panel IV.: Strafe im Staatssozialismus

Pavel Kolář: Capital Punishment and State Sovereignty in Late Socialism

Ondřej Hladík: Penological Research and the Czechoslovak Prison Service in the 1970s

Panel V.: Gewalt als staatliches und gesellschaftliches Phänomen

Michal Pullmann: Critique of Violence in Late Socialist Czechoslovakia

Muriel Blaive: Power and Violence over the Female Body in Czechoslovakia

Panel VI.: Jugendkriminalität und –devianz

Christiane Brenner: „Warum sind sie so?“ Der Umgang mit unangepassten und straffälligen Jugendlichen in der sozialistischen Tschechoslowakei

Caroline Fricke: Von der Devianz zur Delinquenz – Gesellschaftliche und staatliche Betreuungs- und Kontrollmaßnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität in der DDR

Matěj Kotalík: Zwischen Zäsur und Kontinuität. Die polizeiliche Auseinandersetzung mit chuligánství (Rowdytum) in der Tschechoslowakei der 1950er- und 1960er-Jahre

Martin Franc: Schikanen unter Kindern und Jugendlichen als fachliches und gesellschaftliches Problem in der ČSSR in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre

Esther Wahlen: Punk in der ČSSR. Diskurse um soziale Abweichung im Spätsozialismus

Jan Kolář: Drug Users in Socialist Czechoslovakia: Gangs of Drug Addicts

Panel VII.: „Abweichendes“ und „Abseitiges“ an der Grenze zur Straftat

Stanislav Holubec: Homosexualität in der Tschechoslowakei 1948–1989

Eva Pluhařová-Grigienė: An den Rändern der Gesellschaft: ‚abseitige‘ Themen der tschechoslowakischen Fotografie im Staatssozialismus


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts