Zentrum und Peripherie. Die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Zentrum und Peripherie. Die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Organizer(s)
Roman Fröhlich; Mira Jovanović-Ratković; Peter Larndorfer; Cornelia Siebeck; Frank Wiedemann; Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien; Gedenkstätte Mauthausen; Mauthausen Archiv; Österreichische Gesellschaft für Zeitgeschichte
Location
Mauthausen
Country
Germany
From - Until
30.09.2011 - 04.10.2011
Conf. Website
By
Fabian Schwanzar, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Auf dem diesjährigen ‚17. Workshop zu Geschichte und Gedächtnisgeschichte der Konzentrationslager’, der seit 1994 von und für Doktoranden/-innen organisiert wird, fanden sich gut 30 Teilnehmer/innen in der Gedenkstätte Mauthausen zusammen, um sich über ihre aktuellen Forschungsprojekte auszutauschen. Das übergeordnete Thema des vom Zukunftsfonds der Republik Österreich, der Friede-Springer-Stiftung, der Fritz Thyssen Stiftung und der Österreichischen Hochschüler/innenschaft finanzierten sowie von der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien und der österreichischen Gesellschaft für Zeitgeschichte unterstützten Workshops lautete „Zentrum und Peripherie. Die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Konzentrationslager“. Neben zwölf Vorträgen gab es ein vielseitiges Begleitprogramm: eine Führung in der Gedenkstätte Mauthausen sowie eine Diskussion mit Mitarbeitern/-innen über deren Neukonzeption, eine Exkursion zum ehemaligen Konzentrationslager Gusen und einen Stadtrundgang zur NS-Geschichte und Gedenkkultur in Linz.

In ihrer Einführung skizzierten RENÉE WINTER und PETER LARNDORFER (beide Wien) die Entwicklungen und Zäsuren der österreichischen Erinnerungskultur im Allgemeinen und der Gedenkstätte Mauthausen im Besonderen. Die „Externalisierung“ des Nationalsozialismus (M. Rainer Lepsius) beruhte zunächst auf der – von den Alliierten unterstützten – Annahme, das „erste Opfer“ der Aggressionen des Deutschen Reichs gewesen zu sein, im Weiteren aber auch auf der Heroisierung österreichischer Soldaten, die zur Abwehr der „russischen Bedrohung“ beigetragen hätten. Die Debatten um die Gedenkstätte Mauthausen stünden gewissermaßen symbolisch für die Verdrängungsprozesse, da das Konzentrationslager zwar als Ort nationalsozialistischer Verbrechen thematisiert wurde, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Täterschaft in der österreichischen Gesellschaft jedoch kaum angestoßen wurde – und noch bis in die 1990er-Jahre reproduzierte die Dauerausstellung das schematische Opfernarrativ.

Im ersten Panel wurden Dissertationsprojekte vorgestellt, die ihren Fokus vornehmlich auf die Historiographie der NS-Konzentrationslager legen. DAGMAR LIESKE (Berlin) sprach über die Häftlingsgruppe der Berufsverbrecher und Sicherungsverwahrten im Konzentrationslager Sachsenhausen. In ihrer Forschungsarbeit analysiert Lieske, wie diese Häftlinge zunächst in das Lager kamen, welche Position sie in der Häftlingsgemeinschaft einnahmen und welcher Behandlung durch die SS sie ausgesetzt waren. Mit dieser quellenbasierten Studie zu den sogenannten „Grünwinkligen“, die sich nach 1945 nicht politisch organisierten und auch deshalb im deutschen Erinnerungsdiskurs – bis heute – kaum wahrgenommen werden, soll eine Forschungslücke zum Häftlingsalltag und zur Lagerhierarchie geschlossen werden.

JESSICA TANNENBAUM (Weiden) lenkte den Blick auf eine Tätergruppe und fragte am Beispiel des Krankenreviers des Lagers Flossenbürg nach der Rolle von Ärzten in der nationalsozialistischen Selektionspolitik. Als Gruppenbiographie konzipiert, setzt sich die Arbeit – auch im Vergleich zu anderen Konzentrationslagern – mit der medizinischen Versorgung der Häftlinge auseinander und möchte darüber hinaus beleuchten, welche strafrechtlichen Konsequenzen sich aus der medizinischen Praxis ergaben.

TANJA VON FRANSECKY (Berlin) und KOBI KABALEK (Israel) gaben Einblicke in ihre Forschungen, die sich im weitesten Sinne mit dem Transport zu den und zwischen Konzentrationslagern beschäftigen. Fransecky untersucht Fluchtversuche von Deportationszügen im Ländervergleich Frankreich, Belgien und den Niederlanden und porträtierte am Beispiel zweier Ausbrüche aus Zügen ab Mechelen (Belgien) und Drancy (Frankreich) die Chancen und Grenzen solcher Fluchten. Obwohl der Viehwaggon zu einer „Ikone des Holocaust“ geworden ist, haben sich die Überlebenden nur selten zu ihren Erfahrungen der Deportationen geäußert, weshalb Fransecky Zeitzeugengespräche führte und auswertete. Darüber hinaus untersucht Fransecky Täterdokumente, etwa Polizeiberichte, die Auskunft über die Rolle deutscher Schutzpolizisten geben, die sich als Begleitpersonal der Deportationszüge aktiv am Holocaust beteiligten. Kabalek sprach über die Bewegung zwischen den Konzentrationslagern aus der Perspektive der Überlebenden und diskutierte den Transport als wichtigen Erinnerungsreferenzpunkt. Im Mittelpunkt standen die Erinnerungen Irena Liebmans, die von Kabalek 2003 im Rahmen des internationalen „Mauthausen Survivors Documentation Project“ interviewt wurde.

BIANCA ROITSCH (Oldenburg) umriss in ihrem Referat das Verhältnis zwischen „Volksgenossen“ und „Gemeinschaftsfremden“ im Umfeld der Lagerorte Bergen, Esterwegen und Moringen und beleuchtete damit zugleich die Wahrnehmung der Konzentrationslager durch lokal ansässige Akteure, ein Phänomen, das etwa Sybille Steinbacher für Dachau akribisch erforscht hat.1 Roitsch geht methodisch und theoretisch über diesen Ansatz hinaus, indem sie nicht nur den Funktionswandel der Lager in der NS-Zeit, sondern auch deren Nachnutzung bis etwa 1960 in den Blick nimmt und im Anschluss an jüngere Forschungstendenzen mit der Analysekategorie der „Volksgemeinschaft“ operiert. Diese versteht sie als Ausdruck der sozialen Praxis und geht etwa der Frage nach, welche weltanschaulichen Kontinuitäten in der Bevölkerung über 1945 hinaus existierten. Das am niedersächsischen Forschungskolleg „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft’?“ angesiedelte Dissertationsprojekt versteht die Lager als Projektionsfläche der Identitätsbildung der „Bystander“.

Über ein anderes Beziehungsgeflecht im Umfeld der Konzentrationslager, nämlich das zwischen britischen Militärs und deutscher Bevölkerung referierte HENRIKE ILLIG (Bremen). Die Briten erreichten das Lager Bergen-Belsen am 15. April 1945 und die katastrophalen Zustände, die filmisch und fotografisch festgehalten wurden, lösten bei den alliierten Soldaten einen Schock aus. Illig erläuterte die unmittelbaren Reaktionen und Maßnahmen auf diese Schockerfahrung und diskutierte die Interaktion zwischen den Befreiern und Deutschen in der Umgebung der Lager.

Die zweite Hälfte des Workshops richtete ihr Augenmerk besonders auf die Nachgeschichte der Konzentrationslager und deren Transformation zu Gedenkstätten, Aspekte, die seit den 2000er-Jahren vermehrt in das Blickfeld der Holocaust-Forschung gerückt sind. Zur Gedenkkultur in den Niederlanden zeigte IRIS VAN OOIJEN (Amsterdam), dass die ehemaligen Lager Vught, Amersfoort und Westerbork inzwischen etablierte „nationale Orte“ seien. In ihrem Vortrag beleuchtete sie exemplarisch die verschiedenen (Um-)Nutzungen der letzten bis heute erhalten gebliebenen Baracke 1b des Lagers Vught, in der seit den 1950er-Jahren molukkische Soldaten mit ihren Familien lebten. Eindrücklich verwies Ooijen auf den Wettstreit der Erinnerungen, der aus der Differenz zwischen Nachkriegs- und postkolonialen Erinnerungen und dem Gedächtnis der Holocaust-Überlebenden resultiere.

FABIAN SCHWANZARs (Jena) Vortrag nahm die Versuche in den Blick, in Essen eine lokale Erinnerungsstätte zu errichten. Dort wurde 1980 nach einer langen Phase der Umnutzung durch das ‚Haus Industrieform’ die Mahn- und Gedenkstätte ‚Alte Synagoge Essen’ eröffnet, weil sich Akteure des gesellschaftlichen und politischen Spektrums zusammenfanden, um eine „lebendige Gedenkstätte“ und einen „Ort der Begegnung“ zu etablieren.

Dass der Umgang mit den materiellen Überresten der Lager als soziale Praxis verstanden werden kann, präsentierte MAGDALENA REST (Wien) an ihrem von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie beeinflussten Zugriff auf den Gedenkort Ebensee. Welche Relevanz besitzen die materiellen Zeugnisse für die Repräsentation der Verbrechen in Gedenkstätten? Die Antworten auf diese Frage fallen auch gut zehn Jahre nach erscheinen des Sammelbands von Detlef Hoffmann zu diesem Thema unterschiedlich aus – und kürzlich versammelten sich im Deutschen Historischen Museum erneut Wissenschaftler, um dieses Spannungsverhältnis zu diskutieren.2

Der Beitrag von JENS-CHRISTIAN HANSEN (Odense) beschäftigte sich mit den strukturellen Schwierigkeiten, vor Ort konkret an ein ehemaliges Konzentrationslager zu erinnern. Am Beispiel der langen Entstehungsgeschichte der KZ-Gedenkstätte Husum-Schwesing beschrieb er die Beseitigung der materiellen Lagerüberreste nach dem Krieg und verwies darauf, dass trotz der Anfang der 1980er-Jahre einsetzenden Bemühungen um eine Gedenkstätte bis heute keine endgültige Konzeption umgesetzt worden ist.

Mit der Frage, wie das Thema Homosexualität in der polnischen Literatur und in Zeitzeugenberichten über Konzentrationslager dargestellt wird, befasste sich ALICIJA PODBIELSKA (Krakau), die dazu die Autoren (und Überlebenden) Zofia Posmysz, Stanislaw Grzesiuk und Marian Pankowski vorstellte. In ihren Texten hätten diese Autoren, im Gegensatz zum Mainstream der Holocaust-Literatur, homosexuelle Praktiken nicht pauschal negativ konnotiert, und damit, wie im Fall von Pankowski, sogar die zeitgenössische Holocaustrezeption herausgefordert.

Zum Abschluss erläuterte MICHAEL BECKER (Jena), wie sich die deutsche Soziologie nach 1945 der Herausforderung gestellt hatte, die nationalsozialistischen Konzentrationslager als soziales Phänomen zu untersuchen. Die Zunft hätte sich dieser Aufgabe im Großen und Ganzen nicht angenommen, ein Versäumnis, das Becker auf große personelle wie institutionelle Kontinuität zurückführte. Als wesentlichen Faktor räumte er aber auch die Konkurrenzsituation zu den Nachbarfächern Philosophie und Geschichtswissenschaft ein, wobei insbesondere die Rolle der Historischen Sozialwissenschaft noch zu untersuchen wäre.

Gegenwärtig wird für die KZ-Gedenkstätte Mauthausen eine neue Dauerausstellung konzipiert und die Teilnehmer/innen erhielten Gelegenheit, mit Mitarbeitern/-innen über aktuelle pädagogische Vermittlungsformen und die Neuausrichtung narrativer Konzepte zu diskutieren. Problematisiert wurde, ob und inwiefern diese Gedenkstätte zukünftig ein Ort sein sollte, an dem Besucher/innen über „europäische Identität“ reflektieren.

Der Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager hat sich als Plattform für junge Holocaustforscher etabliert, die hier ihre einschlägigen Dissertationsprojekte in Form eines Werkstattberichts präsentieren können. Die Konferenz war geprägt von einer sehr lebhaften, offenen Diskussionskultur, wie man sie im heutigen Wissenschaftsbetrieb nicht immer anzutreffen vermag. Besonders hervorzuheben ist, dass die Diskussionen in diesem Jahr fast durchgängig in englischer Sprache geführt wurden und somit alle Teilnehmer/innen die Chance erhielten, ihre Positionen einzubringen. Inhaltlich war an einigen Referaten und Diskussionen ein gewachsenes Bewusstsein für den Holocaust als gesamteuropäisches Phänomen ablesbar, wobei der Schwerpunkt insgesamt eher auf der lokalen und regionalen NS-Geschichte lag.

Der ‚18. Workshop zu Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager’ wird im ‚Denkort Bunker Valentin’ in Bremen stattfinden.3

Konferenzübersicht:

Einführung
Renée Winter/Peter Larndorfer (Wien): Erinnerungspolitik in Österreich 1945 bis heute

Panel I: Geschichte

Dagmar Lieske (Berlin): Unbequeme Opfer? Das Instrument der kriminalpolizeilichen Vorbeugehaft und Kriminelle als Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen

Jessica Tannenbaum (Weiden): Medizin im Konzentrationslager Flossenbürg 1938 bis 1945

Tanja von Fransecky (Berlin): Fluchten und Fluchtversuche jüdischer Deportierter aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden

Kobi Kabalek (Israel): Die Erfahrung der Bewegung zwischen den Konzentrationslagern

Bianca Roitsch (Oldenburg): Soziale Praxis und Identitätskonstruktionen im Umfeld nationalsozialistischer Lager an den niedersächsischen Fallbeispielen Bergen, Esterwegen und Moringen

Henrike Illig (Bremen): Der Umgang der britischen Befreier mit der deutschen Bevölkerung in der Umgebung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Panel II: Gedächtnis

Iris van Ooijen (Amsterdam): Niederländische Denkmalanlagen zum 2. Weltkrieg als umstrittene Räume

Fabian Schwanzar (Jena): Vom Protest zur Erinnerung. Gedenkstättenbewegung und Geschichtspolitik 1979 bis 1990

Magdalena Rest (Wien): Die Praxis der Bearbeitung von Gedenkorten am Beispiel der Gedenkstätte Ebensee

Jens-Christian Hansen (Odense): Geschichte und Konzeption der KZ-Gedenkstätte Husum-Schwesing

Alicija Podbielska (Krakau): Homosexualität in der polnischen Literatur über NS-Konzentrationslager

Michael Becker (Jena): Die ausgebliebene Rezeption der nationalsozialistischen Konzentrationslager in der deutschen Soziologie – Ursachen und Konsequenzen des Versagens einer wissenschaftlichen Disziplin

Anmerkungen:
1 Sybille Steinbacher, Dachau: Die Stadt und das Konzentrationslager in der NS-Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt 1993.
2 Detlef Hoffmann (Hrsg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ-Relikte und KZ-Denkmäler 1945-1995, Frankfurt am Main 1998. Vgl. die Konferenz „Orte - Dinge - Spuren. Der Umgang mit den materiellen Zeugnissen in Gedenkstätten für Opfer des Nationalsozialismus“: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=17315 (08.02.2012).
3 Siehe http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=18310&count=728&recno=86&sort=datum&order=downm&order=down (08.02.2012).


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