Die Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz hat am 30. November 2011 Vertreter unterschiedlichster Disziplinen eingeladen, um das dort vor einiger Zeit entdeckte spätkarolingische Apokalypse-Fragment im Expertenkreis zu diskutieren. Bewusst gestalteten die Organisatoren dieser Veranstaltung, Annelen Ottermann (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz, Abteilungsleitung Handschriften-, Rara- und Alte Drucke), Stephan Jolie und Christoph Winterer (beide Deutsches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Handschriftencensus Rheinland-Pfalz) dieses Treffen von 19 Wissenschaftlern aus aller Welt als Workshop mit dem Ziel, Sichtweisen und Probleme benennen und Wege und Fragestellungen für die weitere Forschung aufzeigen zu können.
Nach der Begrüßung durch den Direktor der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek Mainz Stephan Fliedner und durch Stephan Jolie als Vertreter der Universität führten Annelen Ottermann und Christoph Winterer mit einer kurzen Beschreibung des spektakulären Funds in die Thematik der Tagung ein. So stellt das Mainzer Fragment neben der illustrierten Apokalypse in Cambrai (Médiathèque d’Agglomération de Cambrai, Ms. 386) und dem illustrierten Apokalypse-Kommentar Haimos von Auxerre (Oxford, Bodleian Library, Ms. Bodl.352) den einzigen weiteren Zeugen eines in der Trierer Apokalypse (Trier, Stadtbibliothek, Cod. 31) enthaltenen Bilderzyklus dar. Besonders bedeutsam ist beim Mainzer Fragment die einzigartige Kombination des Trierer Bilderzyklus mit dem Kommentar des Beda Venerabilis. Um Fragen nach dem Entstehungsort, der Datierung, aber auch der Textgestalt und des Layouts klären zu können, wurden fünf Experten um ihre erste Einschätzung gebeten, die sie in Form von Kurzreferaten vortrugen. Diesen schloss sich jeweils eine moderierte Diskussion an.
Zunächst äußerte sich die Entdeckerin des Fragments ANNELEN OTTERMANN (Mainz) zu den Umständen, unter denen das Fragment aufgefunden wurde. Der Trägerband, ein Druck des 16. Jahrhunderts mit der Signatur XIII q 30, ist ihr bei der systematischen Durchsicht der historischen Buchbestände aufgefallen, da es sich bei der Einbandmakulatur des Oktavbändchens um eine mit karolingerzeitlicher Schrift beschriebene Pergamentseite handelte und die darunter durchschimmernden Farben die Existenz von Illustrationen auf der Rückseite nahelegten. Wegen dieser Auffälligkeiten entschloss man sich, die Makulatur vom Buchblock abzulösen. Auf dem 19 x 27 cm großen Fragment kam auf der ehemaligen Recto-Seite eine Illustration zur ersten Vision des Johannes (Apc. 1, 7–1, 11), auf der ehemaligen Verso-Seite 14 Zeilen des Beda-Kommentars zu Apc. 1,9–1,11 und nach drei Leerzeilen der Bibeltext zu Apc. 1,12–1,14 zum Vorschein. Leider ist jedoch nur der obere Teil des Blattes erhalten. Die enge Verwandtschaft dieses Fragments zur Trierer sowie zur Cambraier Apokalypse wurde schnell erkannt. Die anfängliche Vermutung, bei dem Mainzer Fragment handele es sich um eine der fehlenden Seiten der Cambrai-Apokalypse (dort fehlt tatsächlich die entsprechende Szene), wurde rasch verworfen, nachdem man die Unterschiede im Format und die Abweichungen des Mainzer Texts vom Bibel-Text erkannt hatte. Die Frage nach der Provenienz des Trägerbandes erwies sich als schwierig, da das 1545 in Frankfurt gedruckte Bändchen mit dem Titel Urbanus Rhegius: Doctrina certissima et consolatio solidissima […] keinen ausgeschriebenen Besitzvermerk aufweist. Jedoch vermutete Ottermann aufgrund des auf dem vorderen Spiegel mit Bleistift eingezeichneten Monogramms „WS“ eine Provenienz aus der Heidelberger „Bibliotheca Palatina“.
Im ersten Impulsreferat beschäftigte sich MICHELE C. FERRARI (Erlangen) mit dem Layout des Mainzer Fragments. Ferrari ordnete das Fragment in die Reihe der Experimente des 8. und 9. Jahrhunderts ein, die zum Ziel hatten, einen kommentierten Text der Bibel herzustellen. Als frühesten Versuch nannte Ferrari die insularen Ezechiel-Fragmente, die heute in Zürich aufbewahrt werden (Zürich, Staatsarchiv W3.19. XII). Dem Mainzer Fragment am nächsten komme jedoch der sogenannte Budapester Paulus (Budapest, Országos Széchényi Könyvtár Clmae 1) aus dem Umkreis Bischofs Arn von Salzburg († 821), bei dem die Paulusbriefe durch einen Interlinearkommentar bereichert wurden. Dieser sei laut Bernhard Bischoff im späten 8. Jahrhundert in Saint-Amand geschrieben worden. Beim Budapester Paulus wurden Text und Kommentar hintereinander in derselben Spalte angeordnet, allerdings ohne eine graphische Differenzierung der Blöcke, die unterschiedlich lang ausfielen (je nach Länge des Kommentars). Soweit der geringe Mainzer Textbestand eine Beurteilung zulasse, liege hier ein vergleichbarer Fall vor. Der Apokalypse-Text sei demnach vollständig abgeschrieben und durch den Kommentar und die Bilder erweitert worden. Als Abgrenzung der einzelnen Blöcke dienten wohl die drei Leerzeilen. Ob die ganze Handschrift auf diese Weise angelegt war oder – aus welchen Gründen auch immer – nur ein Teil des Codex, könne nicht entschieden werden. Wenn man jedoch ein konsequentes Festhalten an diesem innovativen Layout-Typ für die gesamte Handschrift annehme, müsste dies die Aufgabe des strikten Trierer Modells mit dem Text auf der einen und der Illustration auf der gegenüberliegenden Seite zur Folge gehabt haben. Dieser Annahme widersprach Peter K. Klein, der eine Übernahme des Text-Bild-Verhältnisses nach dem Trierer Modell für zwingend hielt. So habe man in Mainz den Inhalt dem Layout untergeordnet und daher Kürzungen des Kommentars in Kauf genommen. In Mainz seien die unteren drei Zeilen des Bibelzitats allein aufgrund der Raumnot unkommentiert geblieben; man dürfe entsprechend am Seitenende auch keinen Block mit einem (den Bibeltext wiederholenden) Interlinearkommentar annehmen. Auch das von Ferrari im Vortrag favorisierte Monumentalformat, das dieser – den fehlenden Apokalypse-Kommentar berücksichtigend – auf eine Größe von 27/30 x 57/60 cm hochrechnete, rief bei einigen Teilnehmern Bedenken hervor. Den goldenen Schnitt berücksichtigend müsse nach Ansicht von Robert Fuchs die Mainzer Handschrift ein wenig kleiner gewesen sein, als von Ferrari vorgeschlagen – eine Argumentation, der sich der Redner nicht verschloss. Allerdings, so war man sich weitgehend einig, handelte es sich beim Mainzer Apokalypse-Kommentar wohl um ein relativ großes Format, was für eine liturgische Nutzung der Handschrift spreche. Abschließend versuchte Ferrari eine paläographische Einordnung des Mainzer Fragments. Seiner Meinung nach lasse sich die Handschrift aufgrund des runden offenen G und des auf der Zeile liegenden, aufstrebenden S am ehesten einer touronischen Hand zuschreiben, was für eine Entstehung im Tours-Loire-Kreis im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts spreche.
Im zweiten Referat äußerte sich ROBERT FUCHS (Köln) zunächst über den Beschreibstoff und den Farbauftrag des Mainzer Fragments. Aufgrund der gelblichen Farbe der Bildseite könne man den Beschreibstoff des Mainzer Fragments auf den ersten Blick als Schafspergament identifizieren. Nach Ansicht von Fuchs wäre es lohnenswert, sowohl das Mainzer Fragment als auch die Trierer Apokalypse mikroskopisch auf ihre Farbstruktur und ihren Malschichtenaufbau hin zu untersuchen. Besonders die blaue Farbe könne einen Werkstattzusammenhang offenbaren, da bei beiden Handschriften möglicherweise zu seiner Herstellung nicht wie üblich der pflanzliche Farbstoff Indigo verwendet wurde, sondern das wesentlich teurere, aus dem Halbedelstein Lapislazuli gewonnene natürliche Ultramarin. Hätte man bei den beiden Handschriften nun diesen edlen Farbstoff benutzt, würde dies, wie auch manche recht aufwändig hergestellten Farbabstufungen, für eine Entstehung in einem besonders erfahrenen Skriptorium sprechen.
PETER K. KLEIN (Tübingen) referierte zunächst über die Ikonographie des Mainzer Fragments, das auf der einen Seite die erste Vision des Johannes (Apc. 1,7–1,13) illustriere. Um die enge ikonographische Verwandtschaft zur Trierer Apokalypse zu demonstrieren, stellte Klein dem Mainzer Fragment die gleiche Szene aus der Trierer Handschrift (fol. 4v) gegenüber. Neben den eindeutigen ikonographischen Gemeinsamkeiten zeigten sich jedoch auch stilistische Unterschiede. Die im Mainzer Fragment zu beobachtende Tendenz zur Verhärtung der Konturen, zur Vereinfachung des Faltenstils und zur Ornamentalisierung der Formen spreche für eine wesentlich spätere Entstehungszeit als die Anfang des 9. Jahrhunderts geschaffene Trierer Apokalypse. Stilistisch näher komme dem Mainzer Fragment die spätkarolingische Apokalypse in Cambrai. So zeige sich bei beiden Handschriften ein schon genuin mittelalterlich anmutender „horror vacui“. Der zweite Teil des Vortrages beschäftigte sich mit dem möglichen Entstehungsort des Mainzer Fragments, das neben drei weiteren Handschriften (Cambridge, St. John's College, MS. H. 6; Lambach, Stiftsbibliothek, Hs. VI mit dem Blatt Washington D.C., National Gallery, Inv. Nr. B-17.715; Einsiedeln, Stiftsbibliothek Ms 176) zu den einzigen illustrierten Beda-Kommentaren überhaupt zähle. Jedoch seien die Bilder bei diesen Handschriften nicht wie in Mainz eng mit dem Text verzahnt, sondern dort seien jeweils nur einige wenige Bilder dem Text vorangestellt. Die im Mainzer Fragment auf einzigartige Weise gelungene Synthese eines Beda-Kommentars mit dem Trierer Apokalypse-Zyklus setze voraus, dass sich sowohl die Trierer Apokalypse als auch ein Beda-Kommentar der beta 2-Gruppe (Einteilung nach dem Kommentar von Roger Gryson zur 2001 erschienen kritischen Ausgabe 1) an einem gemeinsamen Ort befunden hätten und dass die Idee zur Vereinigung des Trierer Zyklus mit einem Beda-Kommentar sich allein aus diesem Zusammentreffen ergeben habe. Aber auch die Cambrai-Apokalypse sei weder ohne das Trierer (Ikonographien) noch das Mainzer Vorbild (Rahmungen) realisierbar gewesen. Da Beda-Kommentare der beta-Gruppe vor allem in Tours entstanden seien und da die Trierer Apokalypse in einem nordfranzösischen Skriptorium unter dem Einfluss der Schreibschule von Tours entstanden sei, könne man nicht ausschließen, dass auch das Mainzer Fragment aus einem Skriptorium unter dem Einfluss von Tours geschaffen wurde. Als Entstehungsort sei Nordfrankreich anzunehmen, möglicherweise sogar Cambrai selbst, wo sich im 10. Jahrhundert mit dem heutigen Ms. 395 der Médiathèque in Cambrai (bei Gryson Handschrift Q) nachweislich ein Beda-Kommentar der beta 2–Familie befand.
Bezugnehmend auf den vorangegangenen Beitrag und die Textfiliation von Gryson unternahm FABRIZIO CRIVELLO (Turin) den Versuch, die Malereien des Mainzer Fragments mittels stilistischer Beobachtungen einem bestimmten Skriptorium zuzuordnen. So stimmte er Klein im Wesentlichen zu, der das Mainzer Fragment einem nordfranzösischen Skriptorium zuschrieb. Aufgrund des zweidimensionalen Figurenstils und der Tendenz zur Ornamentalisierung hielt Crivello das Mainzer Fragment für ein Werk aus dem Umkreis der späten frankosächsischen Buchmalerei, von der seit dem zweiten Viertel des 9. Jahrhunderts vor allem aus den Klöstern Saint-Amand und Saint-Vaast illuminierte Handschriften bekannt sind. Crivello, der so wie Klein davon ausging, dass sich das Mainzer Fragment und die Cambrai-Apokalypse an einem gemeinsamen Ort befanden, nahm die Cambrai-Apokalypse näher in den Blick und stellte dabei bestimmte Übereinstimmungen mit dem Anfang des 10 Jahrhunderts entstandenen Cambrai-Evangeliar (Cambrai, Médiathèque d’Agglomération de Cambrai Ms. 327) fest. Diese vielleicht aus dem Kloster Saint-Vaast bei Arras stammende Handschrift sei der Cambrai-Apokalypse vor allem im Figurenstil ähnlich. Nicht auszuschließen sei, dass sich auch in Cambrai ein Skriptorium befand, das unter starkem Einfluss der frankosächsischen Schule stand. Die Beziehungen zwischen den Skriptorien und Bibliotheken von Cambrai und Saint-Vaast waren eng und zwar sowohl durch ihre geographische Nähe als auch durch die wechselseitigen Beziehungen ihrer Äbte und Bischöfe.
Im letzten Impulsreferat fokussierte WILLIAM SCHIPPER (St. John’s/Neufundland) den Text des Mainzer Fragments und versuchte, ihn einer der Familien zuzuordnen, die Roger Gryson in seiner 2001 erschienen Edition definiert hat. Gryson, der am Mainzer Workshop leider nicht teilnehmen konnte, hatte sich schriftlich zum Mainzer Fragment geäußert und die ersten 14 Zeilen als Text der sogenannten beta-Gruppe identifiziert, einer Textfassung, die über Alkuin aus England nach Tours gelangt war. In dieser Gruppe bilden nach Gryson die Textzeugen EFLQT die fünf Haupthandschriften. Schipper, der das Mainzer Fragment erneut untersuchte, stellte fest, dass es nicht gelinge, den Text des Mainzer Fragments eindeutig einer von Grysons Untergruppen (beta 1-Gruppe mit den Haupthandschriften T und E oder beta 2-Gruppe mit FLQ) zuzuordnen. Vielmehr teile das Fragment einige Varianten mit den Handschriften FLQT und andere mit E. Obwohl es, wie Klein aufgrund einer Entdeckung von Gryson einwarf, einen sehr auffälligen Schreibfehler in der Cambraier Handschrift Q gibt, der möglicherweise durch verständnissuchende Korrektur zu einer singulären Variante im Mainzer Fragment führte, lehnte Schipper auf Nachfrage Hs. Q aufgrund der übrigen Differenzen als Vorlage des Fragments ab.
Wie zu erwarten war, zeigte sich am Ende der Tagung, dass in fast allen angesprochenen Aspekten ein erheblicher Klärungsbedarf bestehen blieb. Zwar war man sich weitgehend darüber einig, dass das Mainzer Fragment wohl einer im weitesten Sinne nordfranzösischen Werkstatt zuzuschreiben ist, jedoch ist es bisher noch nicht gelungen, den Entstehungsort näher einzugrenzen. Auch blieben weiterhin Meinungsverschiedenheiten bezüglich des im Fragment in einzigartiger Weise realisierten Layouts bestehen. Die intensive Textanalyse des Apokalypse-Fragments durch William Schipper zeigte, dass die bisher angenommene enge Verwandtschaft zur Handschrift Q nicht zwingend ist und es hier weiteren Untersuchungsbedarf gibt. In der Gesamtschau gelang es den Teilnehmern des Workshops, durch die teils sehr lebhaften Diskussionen, Impulse für weiteres Forschen zu geben. Auf die künftigen Ergebnisse zu diesem spätkarolingischen Kommentar-Fragment darf man jedenfalls gespannt sein.
Konferenzübersicht:
Moderation und Abschlussdiskussion
Christoph Winterer (Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Begrüßungen
Stephan Fliedner (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz)
Stephan Jolie (Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutsches Institut)
Vorstellung der geladenen Gäste
Annelen Ottermann (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz)
Einführung in das Programm – Fragen und Ziele
Christoph Winterer (Deutsches Institut, Johannes Gutenberg-Universität Mainz)
Hs frag 18 – Fundsituation und Provenienz des Trägerbandes
Annelen Ottermann (Wissenschaftliche Stadtbibliothek Mainz)
Textkritik und Paläographie
Michele C. Ferrari (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit)
William Schipper (Memorial University, St. John’s /Neufundland, Department of English Language and Literature)
Maltechnik
Robert Fuchs (Fachhochschule Köln, Institut für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft)
Ikonographie und Funktion
Peter K. Klein (Eberhard Karls Universität Tübingen, Kunsthistorisches Institut)
Stilistische Einordnung der Malereien
Fabrizio Crivello (Università degli Studi di Torino, Dipartimento di Discipline artistiche, musicali e dello spettacolo)
Öffentlicher Abendvortrag
Peter K. Klein (Eberhard Karls Universität Tübingen, Kunsthistorisches Institut): Das karolingische Apokalypse-Fragment in Mainz und die abendländische Apokalypse-Illustration
Anmerkung:
1 Roger Gryson (Hrsg.): Bedae Presbyteri. Expositio Apokalypseos (Corpus Christianorum. Series latina 121 A), Turnhout 2001.