Im Jahr 2013 feiert die deutsche Sozialdemokratie ihr 150-jähriges Bestehen. Ein Anlass für die Mitarbeiter der Zeitschrift Archiv für Sozialgeschichte (AfS), sich mit den Inhalten, Strukturen, Akteuren und Orten von linker Politik aus historischer Sicht auseinanderzusetzen. Den Rahmen dazu bildete ein Autoren-Workshop, der unter dem Titel „Demokratie und Sozialismus. Linke Parteien in Deutschland und Europa seit 1860“ vom 22. bis 23. November 2012 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn stattfand, um die möglichen Beiträge für die kommende Aufsatzsammlung zu besprechen.
In seinem einleitenden Referat betonte MEIK WOYKE (Bonn), dass die Bandbreite der Themen über die Forschungen zum Jubiläumsjahr hinausginge, da Milieuprozesse im internationalen Vergleich den Schwerpunkt der Veranstaltung markierten. Neben Fortschritts- und Wachstumsentwicklungen wurde während der Veranstaltung auch ein Augenmerk auf Brüche und Verluste gelegt, die sich von ihren Anfängen bis zur Gegenwart offenbarten.
Wie stark die Verflechtungen zwischen den einzelnen Zugängen zur Aufarbeitung der Milieuprozesse sind, zeigte sich am Tagungsprogramm, bei dem eine sektionale Unterteilung vermieden wurde. Stattdessen kennzeichneten die Untersuchungsfelder neben verschiedenen räumlichen und zeitlichen Dimensionen auch mannigfaltige Einflussfaktoren, Strukturdeterminanten und Perspektiven. Aus diesem Grund werden die Beiträge im Folgenden nicht der Chronologie des Workshops folgend zusammengefasst, sondern nach inhaltlichen Korrelationen, die sich aus den Diskussionen ergeben haben.
Die Sozialdemokratie in ihrer Rezeption als Volks- bzw. Massenpartei untersuchten ADOLFO PEPE (Teramo) für das Beispiel Italien und STEFAN BERGER (Bochum) in einem Vergleich zwischen der Labour Party in England und der SPD in Deutschland. Während sowohl die SPD als auch die Labour Party auf eine Tradition zurückblicken konnten, die bereits im 19. Jahrhundert einsetzte, wurde die Partito Socialista Democratico (PSDI) in Italien erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet. Mit verschiedenen Abspaltungsbewegungen kämpfte sie in besonderem Maße um ihre Legitimität im parlamentarischen System. Die SPD und die Labour Party arbeiteten hingegen stärker an ihrem antikapitalistischen Profil, wobei in der Bundesrepublik die Zugeständnisse gegenüber dem wirtschaftlichen System während der 1960er-Jahre schneller als in England erfolgten.
Wie Sozialdemokraten mit dem Status einer Minderheit umgingen, der gleichermaßen eine nationale und transnationale Perspektive eröffnete, zeigten THOMAS OELLERMANN (Ústi nad Labem) und LUTZ HÄFNER (Göttingen). Oellermann widmete sich den sogenannten sudetendeutschen Sozialdemokraten und dekonstruierte den bisherigen – aus einer Top-Down-Perspektive argumentierenden – Forschungsstand, indem er die lokale Ebene als Ausgangspunkt für heterogene und einflussreiche Bewegungen innerhalb des Arbeitermilieus beschrieb. Häfner dagegen legte den Schwerpunkt auf die Wechselwirkungen zwischen deutschen Sozialdemokraten und russischen Sozialrevolutionären in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und kam zu dem Ergebnis, dass beide Parteien die sozialistische Revolution als Ziel verkündeten, aber unterschiedliche Wege sahen, dorthin zu gelangen. Gemeinsam war beiden Vorträgen, dass sich durch die dargestellten Aktivitäten und Diskurse eine hohe Breitenwirkung für das jeweilige Milieu beobachten ließ.
Einen zentralen Themenkomplex bildeten die Darstellungen von Politikentwürfen zur gesellschaftlichen Umsetzung des „Sozialen“ und der „Demokratie“. Erstere beschrieb KRISTIAN STEINNES (Trondheim) für die europäische Ebene, indem er die Ideen von nordeuropäischen Sozialdemokratien für ein „soziales Europa“ nach Ende des Zweiten Weltkriegs in einen Zusammenhang brachte und trotz temporärer Brüche insgesamt eine Hinwendung zu Europa konstatierte. JORIS GIJSENBERGH (Nijmegen) hingegen legte in einem Drei-Länder-Vergleich zwischen Schweden, Deutschland und Niederlande einen stärkeren Fokus auf den „Demokratie“-Begriff. Er resümierte, dass neben der überlagernden Debatte zur Frage nach Alternativen von Demokratie auch über verschiedene Demokratie-Formen diskutiert wurde, die entweder in die Richtung einer Staatsform oder eines Lebensweges gingen. Einen Gegenentwurf zur Demokratie-Debatte stellte MIKE SCHMEITZNER (Dresden) mit einer Ideengeschichte der „Diktatur des Proletariats“ zur Zeit der Weimarer Republik vor: So sei es zwar ein Merkmal von Krisenzeiten gewesen, sich mit dieser Konzeption als Alternative zur Demokratie auseinanderzusetzen, jedoch war damit keineswegs eine vereinheitlichbare Formel für die Umsetzung verbunden. MATTHIAS MICUS und FELIX BUTZLAFF (Göttingen) schließlich schlossen die Klammer in diesem Teil durch ihre politikwissenschaftliche und gegenwartsbezogene Betrachtung der Diskussionen im Vorfeld der SPD nach dem „Dritten Weg“. In einem Zehn-Länder-Vergleich mit einem Untersuchungszeitraum über die letzten 15 Jahre beobachteten sie als ubiquitäre Merkmale der jeweiligen Sozialdemokratien eine Professionalisierung und Zentralisierung sowohl in der Außendarstellung als auch in der innerparteilichen Willensbildung. Grundsatzprogrammatische Diskurse verloren demnach an Bedeutung.
Einen Blick auf Vordenker, deren Ideen nachhaltig auf sozialdemokratische Politik und das Personengefüge zurückwirkten, warfen SUSANNE GÖTZE (Potsdam/Metz) mit ihrer Ausführung zur französischen Parti Socialiste Unifié (PSU) und PHILIPP KUFFERATH (Göttingen) mit seinem Beitrag zu den Netzwerkern um Peter von Oertzen. In beiden Vorträgen konzentrierten sich die Referenten mit den 1950er- bzw. 1960er-Jahren auf verhältnismäßig kleine Zeitspannen, die eine besonders hohe Dichte der Aktivitäten verzeichneten. Die PSU entwickelte unter ihrem Spiritus Rector Michel Rocard auf soziologischen Diskursen basierende Sozialismus-Definitionen, die bis dato innerhalb des gesamten Milieus neuartig waren und von der späteren Parti Socialiste aufgenommen wurden. Peter von Oertzen operierte zwischen der reformorientierten und der antikommunistischen Linken innerhalb der SPD und demonstrierte damit, dass der Ideen- und Informationsaustausch zwischen den Flügeln trotz Blockbildung funktionierte.
Unter welchen Umständen und Einflüssen linke Parteien in der krisenhaften Zeit zwischen den beiden Weltkriegen ihre Politik umzusetzen versuchten, rekonstruierten CASPER KIRKELS (Nijmegen) und JOACHIM HÄBERLEN (Berlin) im internationalen Vergleich und auf lokaler Ebene mittels der außerparlamentarischen Massenbewegungen in den 1930er-Jahren. Im Vordergrund der sozialdemokratischen Straßenpolitik stand die Hoheit um den öffentlichen Raum, den sie sich gegenüber den Nationalsozialisten bzw. Faschisten und den Kommunisten erarbeiten mussten. Kirkels stellte dabei heraus, dass Massendemonstrationen und Aufmärsche adaptiert wurden und damit auch bei Sozialdemokraten zu einem legitimen Instrument von politischer Außendarstellung wurden. Häberlen hinterfragte die Innenwirkung dieser Straßenpolitik für das Beispiel Leipzig und erkannte einen sozialräumlichen Zusammenhang bei dem gemeinsamen Auftreten von Sozialdemokraten und Kommunisten gegen Nationalsozialisten. Im Gegensatz zu einschlägigen Aufsätzen der Forschung sei die Zusammenarbeit bei derartigen Aktionen auf Grund gegenseitigen Misstrauens innerhalb der direkten Nachbarschaft nicht möglich gewesen, stadtviertelübergreifend hingegen schon. Auf die parlamentarische Ebene stützte sich HARM KAAL (Nijmegen), der den Einfluss gesellschaftlicher Wertevorstellungen auf die sozialdemokratische Sprache für die Niederlande untersuchte. Er kam zu dem Ergebnis, dass die Sociaal Democratische Arbeiders Partij (SDAP) um die Jahrhundertwende stark von Sinnbildern der Religion, des Pflichtbewusstseins und Vorstellungen von politischer Bildung beeinflusst waren, die auf die eigenen Ideen übertragen wurden.
Abschließend wies BENJAMIN ZIEMANN (Sheffield) mit einem Rückgriff auf ein Zitat von August Bebel darauf hin, dass die Begriffe des „Sozialismus“ und der „Demokratie“ in ihrer Verbindung nicht nur dem ständigen historischen Wandel unterlagen, sondern seit der ersten Herstellung von Bezügen Auslöser von Kontroversen und unterschiedlichen Interpretationen waren. Insbesondere das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheitsanspruch und Partizipationsversprechen, das die sozialdemokratische Politik prägte, gilt es darzustellen und in unterschiedlichen Kontexten auszuloten.
Insgesamt leistete die Tagung durch ihre große Bandbreite an Themen einen wichtigen Beitrag: Denn neben den internationalen Vergleichen wurden – über die Historisierung der Parteien hinaus – auch das Vorfeld der Sozialdemokratien sowie die Wechselwirkungen der linken Strömungen in den Blick genommen, um Erklärungszusammenhänge multiperspektivisch zu erschließen. Da sich der zeitliche Schwerpunkt im Wesentlichen auf das 20. Jahrhundert konzentrierte, wäre für die weitere Forschung eine ähnlich komplexe Darstellung für die Gründungsphase der Parteien und Milieus fruchtbar.
Konferenzübersicht:
Meik Woyke: Begrüßung und Einführung
Adolfo Pepe: Das „kurze Jahrhundert“ der linken Volks- und Massenparteien und die frühzeitige Krise der parlamentarischen Parteiendemokratie in Italien 1945-1992
Philipp Kufferath: Netzwerke in der SPD nach 1945 zwischen antikommunistischer Reformorientierung und linkssozialistischer Opposition
Susanne Götze: Die Parti Socialiste Unifié (PSU) in den 1960er Jahren: Eine sozialistische Neukonzeption jenseits von SFIO und PCF als „Dritter Weg“ im Kalten Krieg
Kristian Steinnes: The European Turn: „Social Europe“ and Social Democracy in Northern Europe, 1950-1985
Moderation: Friedrich Lenger
Harm Kaal: Continuity and Change in the Social-Democratic Language of Politics. The Case of the Netherlands, c. 1880-1950
Joris Gijsenbergh: The Social-Democratic Redefinition of the Concept of „Democracy“ in Sweden, Germany and the Netherlands, 1918-1939.
Casper Kirkels: Socialists Struggle for the Streets. Street Politics of West European Social Democrats in the 1930s.
Thomas Oellermann: Die deutsche Sozialdemokratie in der ersten tschechoslowakischen Republik – Die Arbeiterbewegung einer Minderheit
Moderation: Beatrix Bouvier
Öffentlicher Abendvortrag
Stefan Berger: Wege und Irrwege des demokratischen Sozialismus: Der Beitrag von Labour Party und SPD zur Herausbildung und Verteidigung sozialdemokratischer Ideale im 19. und 20. Jahrhundert
Moderation: Dieter Dowe/Meik Woyke
Lutz Häfner: „Genossen“? Sozialismuskonzeption und Demokratievorstellungen der Partei der Sozialrevolutionäre im Zarenreich und ihre Beziehungen zur SPD und zu der II. Internationale 1902-1914
Mike Schmeitzner: Linke in Bewegung. Zur Faszination der proletarischen Diktatur in der demokratischen Revolution 1918-1920
Joachim Häberlen: Verfeindete Nachbarn: Zum Zusammenbruch des linksproletarischen Milieus am Ende der Weimarer Republik am Beispiel Leipzigs
Moderation: Meik Woyke
Matthias Micus/Felix Butzlaff: Neue Antworten in veränderter Zeit. Internationale Vorbilder zur Reformulierung des sozialdemokratischen Ideenkerns seit dem „Dritten Weg“
Moderation: Benjamin Ziemann