Im Reichskrieg König Heinrichs VII. gegen die Württemberger (1310-1316) waren die bedeutendsten Städte Eberhards I. von Württemberg 1312 gezwungen, sich der Reichsstadt Esslingen zu unterwerfen. Schon gut ein Jahr später kehrte der Tod Kaiser Heinrichs VII. die Machtverhältnisse wieder um, doch ohne dieses unerwartete Ereignis hätte sich auch eine längerdauernde Dominanz Esslingens gegenüber Württemberg etablieren können. Diese im Rückblick überraschende Feststellung bot den Anlass, grundlegende Fragen der Beziehungen spätmittelalterlicher Reichsstädte zu ihnen benachbarten Akteuren im Rahmen einer Tagung zu untersuchen.
In ihrer Einführung wies ELLEN WIDDER (Tübingen) auf die bewusst offene Konzeption der Tagung hin, die sowohl die Beziehungen von Reichsstädten mit den sie umschließenden fürstlichen Territorien als auch das von Reichsstädten ausgebildete Territorium im Umland beinhaltet. Dass beide Bedeutungen nicht nur deshalb eng zusammenhängen, weil die reichsstädtische Territorienbildung in der Regel auf Kosten der umliegenden Herrschaften ging und umgekehrt, zeigte schon der öffentliche Abendvortrag „Reichsstadt oder sogar Reichsland? Esslingen und die Grafschaft Württemberg nach 1300“ des Esslinger Stadtarchivars JOACHIM HALBEKANN (Esslingen). An dem Kräftemessen zwischen Esslingen und den Württembergern, dessen Ausgang keineswegs von Anfang an abzusehen war, machte Halbekann exemplarisch deutlich, wie komplex und widersprüchlich sich die Beziehungen zwischen Reichsstädten und benachbarten Herrschaftsträgern gestalten konnten.
Wie Reichsstädte bei der Territorienbildung von dynastischen Brüchen profitieren konnten, legte CHRISTIAN HEINEMEYER (Tübingen) am Beispiel der „Brauneckschen Lehen“ dar, um die nach dem Aussterben der Herren von Hohenlohe-Brauneck (1390) mehrere langwierige gerichtliche und außergerichtliche Auseinandersetzungen geführt wurden. Die wichtigsten Kontrahenten im Streit um die Lehen waren die Nürnberger – etliche Bürger hatten schon vor dem Tod Konrads von Brauneck Lehen der Hohenlohe-Brauneck inne –, die Burggrafen von Nürnberg, die als Markgrafen von Brandenburg große Bedeutung entwickelten, und die Bischöfe von Bamberg. König Wenzel belehnte zunächst die Burggrafen von Nürnberg mit den Reichslehen; dagegen erwirkte die Stadt noch 1390 ein Urteil vor dem Nürnberger Landgericht. Der Erwerb von Teilen der Lehen durch Albrecht von Brandenburg im Jahr 1448 führte zu Konflikten zwischen dem Markgrafen und dem Bischof von Bamberg. Sie einigten sich 1466 vertraglich auf eine Belehnung Ludwigs von Eyb, eines der Räte Albrechts von Brandenburg, der in diesem wie in anderen Fällen als dessen Strohmann in Territorialfragen fungierte. Auf Beschwerde der Nürnberger belehnte Kaiser Friedrich III. 1470 die Stadt für drei Jahre und beauftragte sie, die bestehenden Belehnungen der einzelnen Bürger zu erneuern. Zwar erreichte Markgraf Albrecht 1471 beim Kaiser seine eigene Belehnung mit den Brauneckschen Lehen, die er an Ludwig von Eyb ausgab. Dennoch verdeutlicht das Beispiel die beachtlichen Spielräume, die sich für die Nürnberger aus einem Urteil und letztlich unklaren Rechtsverhältnissen über Generationen ergeben konnten, und ermöglicht neue Einsichten in das Phänomen der „Bürgerlehen“.
Die diplomatischen und juristischen Strategien der Stadt Augsburg zur Sicherung ihrer territorialen Erwerbungen stellte EVELIEN TIMPENER (Kassel) in den Mittelpunkt ihrer Ausführungen. Die im Hinblick darauf wichtigsten Konfliktgegner und Kooperationspartner der Stadt waren einerseits Bischof und Domkapitel, andererseits die Herzöge von Bayern, insbesondere der Landshuter Linie. Die wechselnden Konstellationen in den Beziehungen der Stadt zu diesen Akteuren und ihre Handlungsmöglichkeiten beleuchtete Timpener an den Beispielen des Augsburger Bischofsstreits der Jahre 1413-1423, der Auseinandersetzungen mit Bischof Peter von Schaumburg um die Mitte des 15. Jahrhunderts und des Reichskriegs gegen Herzog Ludwig IX. von Bayern-Landshut (1459-1463), an dem sich Augsburg auf Druck des Kaisers beteiligte. Während es der Stadt im Verlauf des 14. Jahrhunderts gelang, die politischen Einflussmöglichkeiten des Bischofs innerhalb der Stadt stark zurückzudrängen, erwies sich ihr Streben nach dem Erwerb eines geschlossenen Territoriums im Umland als weniger erfolgreich. Doch wie von der Referentin selbst und in der Diskussion hervorgehoben wurde, hatte keine Reichsstadt am Ende des Spätmittelalters ein wirklich geschlossenes Territorium, so dass die Durchdringung von Gebieten durch die Bündelung von Besitzungen und Rechten unterschiedlicher Art durchaus als Erfolg bewertet werden kann. Zudem war Augsburg auch ohne ein großes Territorium zweifellos eine florierende Stadt.
CHRISTIAN SCHOLL (Münster) untersuchte überwiegend am Beispiel der Städte Zürich, Bern und Ulm die Rolle jüdischer Finanziers bei reichsstädtischen Expansionsbestrebungen. Als Kreditgeber wurden diese aufgrund der hohen Verzinsung ihrer Darlehen nur selten herangezogen (H.-J. Gilomen), doch gab es andere Möglichkeiten, ihre Finanzkraft zu nutzen. Eine Form der Ausnutzung war die vom Kaiser ausgesprochene Befreiung von Schuldrückzahlungen an jüdische Gläubiger, für die sich in der Forschung seit dem 19. Jahrhundert die euphemistische Bezeichnung „Judenschuldentilgung“ eingebürgert hat. Für beide Seiten vorteilhaft war hingegen ein anderes Modell, das auch der Erzbischof von Trier verschiedentlich anwandte. So konnte die Stadt Bern, nachdem sie Burgdorf und Thun besetzte hatte, diese Städte von den Neu-Kyburgern erwerben, weil sie jüdischen Kreditgebern als Sicherheit für deren Schulden dienten. Analog dazu mussten die Grafen von Werdenberg, die sich im Städtekrieg finanziell endgültig ruiniert hatten, 1377 den Ulmern die Stadt Langenau abtreten, die sie zu der Zeit an in Ulm ansässige Juden verpfändet hatten. Im Gegenzug beglich Ulm Schulden der Grafen in Höhe von mehr als 10.000 Gulden. Dasselbe Vorgehen konnte Scholl auch bei mehreren, teils von langer Hand geplanten Transaktionen des Erzbischofs von Trier feststellen. In diesen Fällen agierten die Juden quasi als Agenten ihres Herrn bzw. der jeweiligen Stadt und erhielten dadurch eine Absicherung gegen Kreditausfälle. Scholl betonte, dass die Verschuldung der betroffenen Adeligen bei Juden nicht die Ursache, sondern eine Folge ihrer finanziellen Probleme waren, denn die erwähnten hohen Zinsen führten dazu, dass auch die Adeligen sich erst dann auf größere Kredite bei Juden einließen, wenn andere Möglichkeiten der Kapitalbeschaffung erschöpft waren.
Mit dem Burgrecht thematisierte HEINRICH SPEICH (Fribourg) ein weiteres Instrument städtischer Politik, das unter anderem der territorialen Expansion dienen konnte. Er hob jedoch hervor, dass die Aufnahme von Adeligen, geistlichen Institutionen, Städten und Landgemeinden in das Burgrecht einer Stadt nicht unbedingt Ausdruck einer langfristigen gezielten Territorialpolitik war, sondern primär der Wahrung punktueller Interessen aller Beteiligten diente, so dass in der Regel beide Seiten profitierten. Dementsprechend waren die individuell ausgehandelten Einbürgerungsverträge im 14. Jahrhundert meist auf fünf bis zehn Jahre begrenzt und konnten bei Bedarf ausgesetzt werden, z.B. wenn ein Lehnsherr es verlangte. Entgegen älterer Forschungsmeinungen waren Speich zufolge manche Adelsfamilien gerade durch das Burgrecht und die dadurch begründete enge Bindung an eine Stadt ausgesprochen erfolgreich. Auch eingebürgerte Körperschaften hatten durch das Burgrecht Vorteile wie den Zugang zu städtischen Märkten und Rechtsbeistand. So erklärt sich, dass manche Städte wechselseitige Burgrechtsverträge schlossen. Auch die meisten landesherrlichen Städte konnten frei Burgrechte vergeben und so unter anderem den Gegnern von Reichsstädten Zuflucht gewähren.
Von der Frage, ob es sich bei der Territorialbildung Berns um einen Sonderfall handelte, ging ROLAND GERBERs (Bern) Vortrag aus. Dass die für die Verhältnisse des mittelalterlichen Reichs lediglich mittelgroße Reichsstadt das größte städtische Territorium nördlich der Alpen aufbauen konnte, ist in der Tat außergewöhnlich, doch legte Gerber dar, dass die Mittel zu Erwerb und Sicherung dieses Territoriums sich nicht grundsätzlich von den Praktiken anderer Städte unterschieden. Wie andernorts stand zunächst die Sicherung der Lebensmittelversorgung und Handelswege im Zentrum, die Stadt war defensiv orientiert, schloss viele Bündnis- und Burgrechtsverträge und nützte sich bietende Gelegenheiten zur territorialen Erweiterung. Strukturell begünstigt wurde sie dabei durch die Absenz einer starken Herrschaft in unmittelbarer Nähe und die Durchsetzungsprobleme der Könige im 14. Jahrhundert. Der Umschwung zu einer offensiven Expansionspolitik erfolgte erst 1384 mit dem Auskauf der Kyburger, an den sich der Erwerb elf weiterer Herrschaften bis hin zur Eroberung des Aargaus 1415 anschloss. Dieser Kauf stellte ein erhebliches Risiko dar und wäre ohne die Einnahmen aus den Steuern und Abgaben Tausender von Ausbürgern nicht zu finanzieren gewesen. In der Folgezeit verschafften die stetig wachsenden Steuereinnahmen der Stadt zunehmenden politischen Spielraum und ermöglichten die Konsolidierung des Territoriums durch Kauf von Burgen, Herrschaften und Hoheitsrechten in den folgenden Jahrzehnten. Auffallend ist, dass die aggressive Expansion zu einer Zeit einsetzte, als die Notabeln aus Handwerk und Handel die politische Dominanz der Patrizier zurückdrängen konnten. Anders als die Stadthistoriographie seit Konrad Justinger verbreitete, verdankte sich die bernische Territorialbildung also nicht der inneren Eintracht der Stadt, sondern nicht zuletzt der verstärkten politischen Partizipation der Bürgerschaft.
Die beiden folgenden Beiträge weiteten den Blick auf Norddeutschland. HEIKO LASS (Bochum) nahm mit Hamburg als einziger Referent eine Landstadt in den Blick, deren Situation und Territorialpolitik jedoch Parallelen zu derjenigen der Reichsstädte erkennen lässt. Ähnlich wie Bern lag die Hansestadt am Rande verschiedener Herrschaftsgebiete, konnte von diesem Machtvakuum profitieren und verschiedene Adelsherrschaften in der Umgebung auskaufen. Gebietserwerbungen dienten weniger der Territorienbildung als vielmehr der Sicherung von Handelsstützpunkten und Handelswegen, in diesem Falle vor allem der Elbschifffahrt. Dementsprechend sind sie in Zusammenhang mit zahlreichen Verträgen zur Absicherung des Handels, insbesondere dem Aufbau eines wechselseitigen Geleitsystems mit Lübeck, zu sehen. Nur selten eroberten die Hamburger Gebiete mit Waffengewalt, auch in den Ausbau von Burgen und Befestigungen investierten sie kaum. Vor allem in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, einer Zeit besonderen Reichtums, konnte die Stadt über Pfandschaften und Kauf zahlreiche Erwerbungen tätigen. Die meisten dieser Gebiete gingen allerdings in der Folgezeit wieder verloren, und insbesondere der Ausgriff nach Ostfriesland zur Bekämpfung des Seeräubertums sollte sich als schwere finanzielle Belastung erweisen. Um 1450 stand die Stadt vor dem finanziellen Ruin und wurde zudem durch das erstarkende dänische Königtum in ihren Möglichkeiten beschränkt.
FLORIAN DIRKS (Erfurt) stellte am Beispiel der Fehden von Stadt und Erzstift Bremen die Bedeutung von Tagfahrten als Mittel der friedlichen Konfliktbeilegung dar. Diese Treffen dienten der Vermeidung riskanter und teurer militärischer Auseinandersetzungen sowie langwieriger und ebenfalls kostspieliger Gerichtsprozesse. Allerdings ist es nicht ganz einfach, anhand der oft lakonischen Quellenzeugnisse außergerichtliche von gerichtlichen Verfahren abzugrenzen.
Thematisch verwandt, aber wieder auf den südwestdeutschen Bereich konzentriert, war der Beitrag von NIKLAS KONZEN (Tübingen/Stuttgart) über das Verhältnis von Württemberg und Rottweil insbesondere während der 1420-1423 ausgetragenen sogenannten Zollernfehde zwischen den Grafen Eitel Friedrich und Friedrich dem Oettinger, von der die Stadt unmittelbar betroffen war. In den Jahren von ca. 1390-1440 schlossen die Grafen von Württemberg regelmäßig Bündnisse auf einige Jahre mit einzelnen oder mehreren Städten. Zwischen Württemberg und Rottweil bestand daneben eine enge Kooperation durch das in der Stadt ansässige Hofgericht, das den Vorrang unter den schwäbischen Gerichten beanspruchte. Während die Richter des Hofgerichts dem engen Umfeld der Württemberger angehörten, stellten Bürgermeister, Schultheiß und Rat der Stadt die Urteilssprecher. So kann nicht verwundern, dass die Urteile zu Gunsten beider Seiten ausfielen und die Unabhängigkeit des Gerichts oft angezweifelt wurde. Etliche Rottweiler Patrizier waren zudem in württembergischen Diensten und erwarben umfangreichen Besitz im Umland der Stadt, der zur Grundlage des Rottweiler Landgebiets wurde.
Peter Blickle stellte 1974 fest, dass es noch keine Gesamtdarstellung der reichsstädtischen Territorialpolitik gebe. Dieser Befund gilt bis heute, und vielleicht ist es auch gar nicht möglich, die Erkenntnisse einzelner Fallstudien zu vergleichen und zu verallgemeinern. Dennoch kristallisierten sich in CHRISTIAN HEINEMEYERs (Tübingen ) Zusammenfassung und in der Schlussdiskussion einige Tendenzen heraus. Heinemeyer hob noch einmal hervor, dass die Reichsstädte trotz der starken Prägung des Reiches durch den Adel eigenständige politische Akteure waren. Doch wurde an den vorgestellten Beispielen immer wieder deutlich, dass bei der Ausbildung städtischer Territorien langfristige Planung eine geringere Rolle spielte als in der Forschung oft angenommen. Grundbesitz und Rechte wurden erworben, wenn sich günstige Gelegenheiten boten, oft auch zur Verfolgung anderer Zwecke wie der Sicherung von Handelswegen oder der Beeinflussung von Personenbeziehungen. Vielfach betrieben die Städte erst im ausgehenden Mittelalter eine gezielte Arrondierungs- und Expansionspolitik. Diese war für den Erfolg einer Stadt auch nicht unbedingt möglich, wie besonders an den Handelsstädten Augsburg und Hamburg gezeigt worden war. Als weiteres Charakteristikum städtischer Territoralbildung kann festgehalten werden, dass sie typischerweise vom Erwerb von Grundbesitz und Rechten einzelner Bürger ausging, die häufig Ämter in den städtischen Gremien bekleideten, so dass städtische und persönliche Interessen oft kaum zu trennen sind. Sehr deutlich wurde auch, dass Reichsstädte und Adel sich keineswegs immer antagonistisch gegenüberstanden. Der Erwerb von Lehnsbesitz seitens der Bürger auf der einen, Aufnahme in das Burgrecht und Zuzug von Adeligen auf der anderen Seite führte zur wechselseitigen Annäherung bis hin zur Integration nicht weniger Adeliger in die städtischen Oberschichten.
Konferenzübersicht:
Joachim J. Halbekann (Esslingen): Reichsstadt oder sogar Reichsland? Esslingen und die Grafschaft Württemberg nach 1300 (Öffentlicher Abendvortrag)
Ellen Widder (Tübingen): Einführung
Christian Heinemeyer (Tübingen): Dynastische Brüche und reichsstädtischer Territorienausbau. Nürnberg in den Konflikten um die sogenannten Brauneckschen Lehen
Evelien Timpener (Kassel): Grenzen setzen, Grenzen wahren. Die Reichsstadt Augsburg und ihre diplomatischen und juristischen Bemühungen zur Sicherung des städtischen Territoriums
Christian Scholl (Münster): Die Rolle jüdischer Finanziers bei reichsstädtischen Expansionsbestrebungen
Heinrich Speich (Fribourg): Im Burgrecht mit der Reichsstadt. Das politische Instrument Burgrecht in den oberdeutschen Reichsstädten Bern, Zürich und Rottweil
Roland Gerber (Bern): Sonderfall im Südwesten? Berns erfolgreiche Territorialbildung im späten Mittelalter
Heiko Laß (Hannover): Die Stadt Hamburg und ihr Territorium im Spätmittelalter
Florian Dirks (Erfurt): Kooperation und Kommunikation unter Anwesenden im Konflikt. Die Bedeutung von Tagfahrten als Mittel der Konfliktbeilegung am Beispiel der Fehden von Stadt und Erzstift Bremen im Spätmittelalter
Niklas Konzen (Tübingen/Stuttgart): Feindliche Übernahmen: Württemberg, Reichsstadt und Hofgericht Rottweil in der Zollernfehde
Christian Heinemeyer (Tübingen): Zusammenfassung und Abschlussdiskussion