Vom 20. bis 22. März 2013 versammelten sich etwa 35 Fachwissenschaftler unterschiedlicher Spezialisierung am Interdisziplinären Zentrum für Wissenschafts- und Technikforschung der Bergischen Universität Wuppertal zu einer von V. Remmert (Wuppertal), M. Schneider (Mainz) und H. Sørensen (Aarhus) organisierten Arbeitstagung, um die Historiographie der Mathematik im 19. und 20. Jahrhundert einer erneuten Analyse zu unterziehen. Dabei sollte sowohl reflektiert werden, wie sich die grundlegenden Veränderungen der Mathematik hinsichtlich ihres Inhaltes, ihrer Identität, ihrer Professionalisierung etc. auf ihre Geschichtsschreibung auswirkten, als auch der kulturelle Kontext genauer betrachtet werden, in dem die Arbeiten zur Geschichte der Mathematik verfasst wurden. Mit den Entwicklungen in der Mathematik vollzog sich zugleich ein sukzessiver Wandel der Mathematikgeschichte zu einem eigenständigen Forschungsgebiet mit eigenen Zeitschriften, Gesellschaften und akademischen Positionen. Dieser Prozess war verbunden mit Veränderungen in der Zielrichtung mathematikhistorischer Forschung, die bis zur Gegenwart andauern: Die zunächst stark auf das Beschreiben und Erfassen der innerlogischen Entwicklung der Mathematik bzw. ihrer Teilgebiete gerichteten Untersuchungen wurden allmählich ausgeweitet zu einer breiteren kontextuellen Betrachtung, die die Auswirkung verschiedenster Aspekte wie Ökonomie, Philosophie usw. auf die Produktion des mathematischen Wissens in die Analyse einbezog.
Die Vorträge der Tagung erstreckten sich über fast alle Zeitperioden der Geschichte der Mathematik, besondere Schwerpunkte bildeten die Darstellung der Mathematik in der griechischen Antike und der Entwicklungen im 20. Jahrhundert sowie von Biographien bedeutender Mathematiker. In ihrer Gesamtheit lieferten die Vorträge eine ganze Reihe von Beispielen für die verschiedenen Sichtweisen auf und Herangehensweisen an unterschiedliche Teilgebiete der Mathematikgeschichte. Die teilweise regen und intensiven Diskussionen der einzelnen Fragestellungen bzw. der Ansätze zu deren Lösung verdeutlichten die Komplexität der anstehenden Aufgaben und lieferten mannigfaltige Anregungen zu weiteren Forschungen.
„Geometrische Algebra“, Euklids „Elemente“ und das Theorieverständnis der Griechen – zentrale Themen in der Geschichte der griechischen Mathematik
Die geometrische Algebra, d. i. die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Auffassung, dass in der griechischen Antike ein Wesenszug der Mathematik darin bestand, algebraische Aufgaben mit geometrischen Mitteln zu lösen, bildete einen wichtigen Punkt in der Auseinandersetzung mit der Historiographie der antiken Mathematik. LEO CORRY (Tel Aviv) griff die von den Kritikern der geometrischen Algebra formulierte These auf, dass die strikte Interpretation der geometrischen Sätze als algebraisch-arithmetische Aussagen und die Verwendung einer modernen algebraischen Symbolik anachronistisch ist und dadurch wichtige Informationen des Originaltextes verloren gehen. Er betrachtete dazu, wie das Distributivgesetzes in den „Elementen“ des Euklid in verschiedenen Kontexten (Geometrie, Arithmetik, Proportionentheorie) formuliert wurde und zeigte insbesondere welch unterschiedliche Darstellung einzelne Aussagen bis hin zu deutlich veränderten Beweisen in der mittelalterlichen Arithmetik fanden. Ausgehend von der teilweise sehr polemischen Auseinandersetzung Ungurus mit der geometrischen Algebra und dessen Forderung, die griechische Mathematik neu zu schreiben, untersuchte MARTINA SCHNEIDER (Mainz) die verschiedenen Ansätze zur Historiographie der antiken griechischen Mathematik im 20. Jahrhundert. Sie skizzierte die seit den 1930er-Jahren artikulierten Einwände gegen das Konzept der geometrischen Algebra (E. J. Dijksterhuis, J. Klein, A. Szabo) und hob dabei hervor, dass diese Kritiker keine professionellen Mathematikhistoriker waren. Vor diesem Hintergrund analysierte sie den Kontext, in dem Unguru seine Position zur geometrischen Algebra entwickelte und bettete die Diskussion um die Historiographie der griechischen Mathematik als ein Objekt interdisziplinärer Forschung in die umfassenden Problemstellungen der Professionalisierung der Mathematik- und Wissenschaftsgeschichte sowie der Darstellung der modernen Wissenschaftsentwicklung ein.
Das überraschende Faktum, dass die englische Ausgabe der „Elemente“ von Euklid durch T. Heath im Jahre 1908 trotz mehrerer Übersetzungen vor und nach der Heath’schen Publikation für längere Zeit die Standardversion des Euklid wurde, behandelte BENJAMIN WARDHAUGH (Oxford) in seinem Vortrag. Er stellte Heaths Werk in die seit 1551 bestehende Tradition englischer Übersetzungen des Euklid und unterzog den Erfolg des Werkes einer kontextuellen Analyse, in der er unter anderem Heaths Biographie, die Präsentation des Textes, die Muster für den Umgang mit antiken Texten, die Rezeption und den Leserkreis der Übersetzung betrachtete. Den Themenkreis der antiken Mathematik beschloss MICHAEL WEINMANN (Berlin) mit einer Erörterung des Verhältnisses von Theorie und Praxis in der Entwicklung der griechischen Mathematik am Beispiel des Verfahrens der Wechselwegnahme (Anthyphairesis). Gestützt auf Ansichten von Szabo, Knorr und Fowler zur Entwicklung dieses Verfahrens und dessen Bedeutung für die Behandlung der Inkommensurabilität, leitete er die These ab, dass ein genaueres Verstehen der praktischen Methoden die lang andauernde Betonung der Theorie korrigieren kann und zu einem besseren Bild von der Entwicklung führt.
In enger Verbindung mit der antiken griechischen Mathematik steht die Mathematik in Mesopotamien, deren Historiographie von JENS HØYRUP (Kopenhagen) genau analysiert und charakterisiert wurde. In seinen klaren Überblick unterschied er mehrere Etappen und verdeutlichte eindrucksvoll wie eng die Behandlung der Mathematik in Mesopotamien an die Entwicklung der Assyriologie gekoppelt und von ihr abhängig war. Nur in den glorreichen Jahren von 1930 bis 1938, in denen mit Neugebauer, Struve, Thureau-Dangin u. a., die Forscher Assyriologe und Mathematikhistoriker (bzw. Astronomiehistoriker) zugleich waren, sowie nach der Neubelebung der Forschungen nach 1980 wurden innovative Ansätze und neue Ergebnisse seitens der Mathematikgeschichte hervorgebracht. Wohl und Wehe interdisziplinärer Forschung für die Mathematikgeschichte können kaum besser veranschaulicht werden.
Geschichte der Mathematik im 20. Jahrhundert – von der Faktengeschichte zur kontextuellen Darstellung
Interdisziplinäre Forschungen bilden naturgemäß auch einen wichtigen Aspekt in der Historiographie der Mathematik im 20. Jahrhundert, die einen zweiten Schwerpunkt der Tagung bildete. ANNE-SANDRINE PAUMIER und DAVID AUBIN (Paris) diskutierten das verstärkte kollektive Bearbeiten von Aufgaben in der mathematischen Forschung in Beziehung zum Begriff der wissenschaftlichen Schule sowie die Auswirkungen dieser veränderten Forschungspraxis auf die Historiographie der Mathematik. Sie analysierten dazu eine Reihe der erfolgreichen mathematischen Seminare, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts in Paris gegründet und durchgeführt wurden, und fragen insbesondere am Beispiel der Bourbaki-Gruppe sowohl nach dem Platz, der solchen Kollektiven in der Geschichte der Mathematik zuerkannt wurde, als auch nach der Übernahme kollektiven Arbeitens in der Historiographie der Mathematik. Ein solches kollektives und interdisziplinäres Herangehen an die Mathematikgeschichte untersuchte JENNY MUMM (Hamburg) am Beispiel der Arbeitsgruppen zur Mathematikgeschichte, die an verschiedenen deutschen Universitäten (Kiel, Frankfurt/Main, Göttingen) in den 1920er-Jahren entstanden. Die an der Universität Kiel in den 1920er-Jahren durchgeführten Forschungen, die individuellen Motive der Forscher, der Aufbau von Kooperationen zwischen den einzelnen Gruppen sowie die Erweiterung bzw. Verpflanzung dieses Netzwerkes nach dem Weggang von O. Toeplitz und H. Scholz von Kiel nach Bonn bzw. Münster lieferten ihr das nötigen Faktenmaterial.
Am Beispiel der auf dem Gebiet der Mathematikgeschichte tätigen amerikanischen Forscher C. B. Boyer, J. L. Coolidge, H. E. Eves, M. Kline, D. J. Struik, und R. L. Wilder studierte JEREMY GRAY (Milton Keynes) wie sich deren berufliche Situation und deren institutionelle Verankerung auf die Annäherung an die Mathematikgeschichte auswirkte. Alle sechs publizierten zwischen 1939 und 1974 wichtige Arbeiten zur Mathematikgeschichte. Aber nur Boyer hatte eine Ausbildung und eine Promotion in Mathematikgeschichte, während vier von ihnen aktiv auf mathematischem Gebiet tätig waren. Alle wirkten in Abteilungen bzw. Instituten für Mathematik, nicht für Wissenschaftsgeschichte, wobei sich nur Boyer um Beziehungen zu Wissenschaftshistorikern bemüht zu haben scheint und einzig Wilder in dieser Periode Verbindungen zur Philosophie der Mathematik aufbaute. Der Prozess bedarf jedoch noch weiterer Detailanalysen.
Diesen Blick auf die Mathematikgeschichte des 20. Jahrhunderts erweiterte BRITTANY SHIELDS (Philadelphia) um Fragen und Probleme, die sich bei der Darstellung der Geschichte des Courant-Instituts für mathematische Wissenschaften an der Universität New York ergaben. Speziell diskutierte sie, wie die sehr reichhaltig vorliegenden Memoiren, Interviews und persönlichen Erinnerungen von Institutsmitgliedern für die Geschichte des Instituts genutzt werden können und bewertet werden müssen, und was die Mathematikhistoriker aus diesen Primärquellen hinsichtlich des Selbstverständnisses der Mathematiker, deren sozialer und kultureller Identität sowie deren Ansichten zur Rolle der Mathematik in der Gesellschaft ableiten können.
Diese Rolle der Wissenschaftlerpersönlichkeit und deren Veränderungen analysierte DAVID ROWE (Mainz) an Hand des Werkes von O. Neugebauer. Dabei stellte er weniger dessen Stellung in der und Verdienste für die Wissenschaftsgeschichte in den Blickpunkt, sondern widmete sich eingehend dessen Biographie und dem Kontext, in dem Neugebauer den Wandel vom aktiven Forscher in Mathematik und theoretischer Physik zum Mathematikhistoriker in Göttingen am Ende der 1920er-Jahre vollzog. Er verwies auf die Notwendigkeit weiterer Studien, speziell zu den Verbindungen Neugebauers zu den Forschergruppen in Münster und Frankfurt, um dessen Motive für die Hinwendung zur Mathematikgeschichte aufzuklären.
Die Entwicklung der Mathematik in der nachfolgenden Dekade, den 1930er Jahren, adäquat zu erfassen, charakterisierte NORBERT SCHAPPACHER (Strasbourg) wegen der engen Verflechtung von Wissenschaft und Politik (ein Faktum, das auch für die folgenden Jahrzehnte gilt) als sehr schwierig. Er demonstrierte dies an der Person C. Chevalley, der als Mitbegründer der Bourbaki-Gruppe das Gesicht und die Fortschritte der Mathematik in Frankreich nachhaltig beeinflusste, in den 1930er-Jahren aber als Anhänger und Mitgestalter der „theoretischen Politik“ eine aktive politische Rolle spielte. Es eröffneten sich hier zwei völlig verschiedene Welten und obwohl die Vertreter der „theoretischen Politik“ auch die Mathematik von diesem Standpunkt bewerteten, scheint, so Schappacher, Chevalleys politischer Standpunkt die Arbeit in der Bourbaki-Gruppe nicht beeinflusst zu haben.
Die Rolle der Mathematikerpersönlichkeit in der Historiographie der Mathematik
Traten in den bisher genannten Vorträgen Mathematiker vor allem durch ihre Beschäftigung mit der Geschichte der Mathematik in Erscheinung so durfte die Darstellung der Lebensläufe einzelner Mathematiker, also die wissenschaftliche Biographik als wichtiger Zweig der Historiographie nicht fehlen. Die diesbezüglichen Vorträge präsentierten insbesondere unterschiedliche Möglichkeiten, allgemeinere Aspekte der Entwicklung des Faches an individuellen Beispielen zu erörtern.
EVA KAUFHOLZ-SOLDAT (Mainz) zeigte am Beispiel der biographischen Literatur über S. Kovalevskaja wie vielfältig die Persönlichkeit einer Mathematikerin beschrieben und bewertet werden kann und skizzierte die Schwierigkeiten einer adäquaten Würdigung. Kovalevskaja erlangte als erste Frau, die als Professor für Mathematik lehrte, eine Ausnahmestellung in der akademischen Welt. Mit einer Autobiographie trug sie selbst zum Bekanntwerden ihres Lebensweges bei und förderte damit indirekt viele Arbeiten, in denen ihr Schicksal mit allgemeinen Fragen der Frauenbewegung, der Intelligenz von Frauen u. a. verknüpft und die Analyse ihrer mathematischen Leistungen in den Hintergrund gerückt wurde; ein Phänomen, das nicht nur bei berühmten Mathematikerinnen zu beobachten ist.
HENRIK K SØRENSEN (Aarhus) wählte dann einen metabiographischen Zugang, um durch das Herausarbeiten eines Rollenmodells und dessen Veränderungen in den biographischen Arbeiten Rückschlüsse auf den Professionalisierungsprozess ziehen zu können. Speziell analysierte er im „American Mathematical Monthly“ und im „Bulletin of the American Mathematical Society“ um 1900 erschienene Biographien von prominenten Mathematikern und studierte wie dabei in individueller und kollektiver Form das in den USA im Entstehen begriffene Berufsbild des Mathematikers geprägt wurde. Dies verglich er mit biographischen Arbeiten skandinavischer Mathematiker, die das Andenken an und das Vermächtnis von N. H. Abel in Verbindung mit dessen 100. Geburtstag benutzten, um ein spezielles Bild von der Mathematik in Skandinavien zu zeichnen und zu popularisieren. Gleichfalls auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichtsschreibung in Skandinavien bewegte sich REINHARD SIEGMUND-SCHULTZE (Kristiansand), der den ungewöhnlichen Weg von J. Lohne zur Wissenschaftsgeschichte betrachtete. Er verwies auf Lohnes mangelnde Anerkennung insbesondere in Norwegen, die vermutlich auch mit dessen deutschfreundlicher Einstellung in den 1940er-Jahren zusammenhängt. Lohne hatte kaum eine mathematikhistorische Ausbildung und fand über physikgeschichtliche Fragen beim Studium älterer Quellen sowie die Kontrolle der dort angegebenen Messwerte und Berechnungen zur Beschäftigung mit der Mathematikgeschichte. Er trug wesentlich dazu bei, die Ergebnisse von T. Harriot unter anderem zum logarithmischen Rechnen und zur Algebra bekannt zu machen. Dies wird allgemein anerkannt, doch bleiben bei der Beurteilung Lohnes eine Reihe von Fragen offen.
Von der Mathematik in der islamischen Gesellschaften bis zur Neuorientierung der Mathematikgeschichte am Ende des 18. Jahrhunderts
Ein umfassendes, aber recht kritisches Bild zeichnete SONJA BRENTJES (Berlin) von der Historiographie der Mathematik in islamischen Ländern. Unter Verweis auf eine Arbeit von F. Charette, in der das Studium und die Interpretation von arabischen Quellen zur Astronomie- und Mathematikgeschichte vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert beschrieben wird, wies sie auf mehrere schwer wiegende Defizite der Forschungen im 19. und 20. Jahrhundert hin, die häufig zu stark vereinfachte Darstellung der historischen Entwicklung und das Vernachlässigen bzw. Ignorieren besonders der nachklassischen Texte aus dem 13. und nachfolgenden Jahrhunderten. Positiv hob sie für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hervor, den innovativen Charakter der islamischen Wissenschaft stärker anzuerkennen und die Araber nicht mehr vornehmlich als Bewahrer der griechischen Wissenschaft zu sehen. Sie würdigte das seit den 1970er-Jahren verstärkte Engagement von Wissenschaftlern aus afrikanischen und asiatischen Ländern in der Wissenschaftsgeschichte, konstatierte aber fehlende methodologisch-theoretische Grundlagen, den zunehmenden Einfluss politisch-ideologischer Positionen und das Fehlen von hinreichend vielen, gut ausgebildeten Nachwuchswissenschaftlern als negative Tendenzen, wobei die Nachwuchsfrage ein generelles Problem der Mathematikgeschichte ist.
FLORIS COHEN (Utrecht) untersuchte wie für die adäquate Beschreibung der sich in der Physik, speziell der Mechanik, und der Mathematik um 1600 vollziehenden Prozesse die Konzepte der „Wissenschaftlichen Revolution“ und der „Mathematisierung der Natur“ im 20. Jahrhundert herausgebildet wurden. Er unterzog dazu die Arbeiten von E. J. Dijksterhuis, E. A. Burtt und A. Koyré sowie den Kontext ihrer Entstehung einer vergleichenden Analyse und charakterisierte Koyré als den aktivsten und dadurch auch wirksamsten Vertreter dieser Ideen. Das Ganze bettete er ein in einen bis zur Gegenwart reichenden Überblick zum Gebrauch des historischen Konzepts der Mathematisierung der Natur, in dem er verschiedene Phasen des Auf- bzw. Abschwungs unterschied.
Die These, dass um 1800 ein neues historiographisches Format in der Wissenschaftsgeschichte geformt wurde, bildete den Ausgangspunkt des Beitrags von MAARTEN BULLYNCK (Paris). Um diese zu belegen, analysierte er verschiedene, zwischen 1750 und 1850 publizierte Darstellungen zur Entwicklung der menschlichen Gesellschaft sowie zur Mathematikgeschichte, u. a. von M. J. de Condorcet, J. G. Fichte, J.-É. Montucla, A. G. Kästner, A. v. Humboldt, Ch. Bossut und J. v. Arneth. Als wesentliche Änderungen hob er das Abweichen von einer epochal gegliederten auf Bücherkenntnissen basierten Darstellung zu Gunsten eines stärkeren Orientierens an inhaltlichen Schwerpunkten, die Einbeziehung einer breiteren Materialbasis, die Aufnahme von Einsichten der Ethnographie und der gleichzeitig entstehenden vergleichenden Sprachwissenschaft, nebst dem Zusammenführen dieser Entwicklungsströme und die entsprechende Ausrichtung von ideengeschichtlichen Detailstudien hervor.
Fazit
Überblickt man die Palette der Vorträge, so dominiert auf den ersten Blick die Fülle der Themen und Probleme, die einer weiteren Analyse harren und die angesichts der zumindest in Deutschland ungünstigen Personalentwicklung leicht als Sisyphosarbeit erscheinen könnte. Hat man diesen Schock überwunden, so lieferte die Tagung eine Bestandsaufnahme des derzeitigen Forschungsstandes und zeigte sowohl Defizite als auch Schwerpunkte für die weitere Arbeit auf. Letzteres wurde zwar in den einzelnen Vorträgen sehr unterschiedlich artikuliert, doch förderten die zahlreichen Diskussionen die Verständigung über eine gemeinsame methodologische Basis und über Schwerpunkte künftiger Forschungen. Der hier angestoßene Gedankenaustausch sollte im angemessenen Zeitabstand erneuert werden.
Konferenzübersicht:
Leo Corry (Tel Aviv): Geometric algebra in the historiography of ancient and medieval mathematics
Martina Schneider (Mainz): Contextualizing Unguru’s 1975-attack on historiography of ancient Greek mathematics
Benjamin Wardhaugh (Oxford): Thomas Heath and the Englishing of Euclid
Anne-Sandrine Paumier and David Aubin (Paris): Polycephalic Euclid? Collective aspects in the history of mathematics in the Bourbaki era
Michael Weinman (Berlin): Reciprocal subtraction in theory and practice in ancient Greek mathematics
Jenny Mumm (Hamburg): Interdisciplinary workgroups on the history of mathematics in Germany of the 1920s
Jens Høyrup (Copenhagen): Mesopotamian mathematics, seen ‘from the inside’ (by Assyriologists) and ‘from the outside’ (by historians of mathematics)
Floris Cohen (Utrecht): The Making of the ‘Mathematization of Nature’: How in the 1920s-1930s Koyré, Dijksterhuis, and Burtt came to define the Scientific Revolution of the 17th century
Reinhard Siegmund-Schultze (Kristiansand): The noted Norwegian historian of mathematics and physics, Johannes Lohne, and the peculiarities and political conditions of his approach to Harriot, Kepler and Newton
Eva Kaufholz-Soldat (Mainz): A divergence of lives: Contemporary and modern portrayals of Sofja Kowalewskaja
Henrik Kragh Sørensen (Aarhus): Shaping Abel’s biography: The use of a national hero in Norwegian mathematics
David Rowe (Mainz): Otto Neugebauer and the Göttingen tradition
Brittany Shields (Philadelphia): Memoirs, Reminiscences and Interviews: Historiography of New York University’s Courant Institute of Mathematical Sciences
Jeremy Gray (Milton Keynes): Histories of modern mathematics in English
Norbert Schappacher (Strasbourg): Jumping into the βire without burning yourself? On various actors’ reactions to different crises, 1914-1945
Maarten Bullynck (Paris): The history of mathematics in the progress of mankind. Modifying the master narrative after 1800
Sonja Brentjes (Berlin): Practicing of Mathematics in Islamic Societies in the 19th and 20th Centuries