Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes 1985 – 1. Tagung des Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes 1985 – 1. Tagung des Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz

Organisatoren
Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2013 - 07.06.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Lars Legath, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Welcher wissenschaftliche Mehrwert kann erzielt werden, wenn 20 Rechtswissenschaftler, Rechtshistoriker und Zeithistoriker sich anderthalb Tage lang mit einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes beschäftigen? Diese Frage leitete die Diskussion des im Juni 2012 gegründeten Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz auf dessen ersten Jahrestagung.1

Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1985 bildete dafür den Anknüpfungspunkt. Darin behandelte das Gericht die Spielräume und Grenzen des Demonstrationsrechts nach Art. 8 GG. Ausgehend von diesem Urteil stellten sich die Mitglieder des Arbeitskreises die Aufgabe, die gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland von den 1960er bis in die 1980er Jahre näher zu klassifizieren. Besonderes Gewicht kam hierbei den Neuen Sozialen Bewegungen zu.

Die Tagung war in drei Blöcke gegliedert, deren erster die sozialwissenschaftliche Dimension des Themas behandelte und den Neuen Sozialen Bewegungen, der Atomkraft und der Anti-AKW-Bewegung galt. Der zweite Block betraf die rechtswissenschaftliche Dimension mit Blick auf die Entstehung des Beschlusses und dessen Auswirkungen auf Gesetzgebung und Rechtsprechung. Im dritten Block stand schließlich die zeithistorische Dimension mit dem Problem der Nuklearpolitik im Ost-West-Konflikt, mit dem Nachkriegsboom bis in die 1970er Jahre und der Dynamik des sozialen Wandels im Mittelpunkt.

Nach der Begrüßung durch den Generalsekretär der Akademie, CLAUDIUS GEISLER (Mainz), umrissen die Sprecher des Arbeitskreises, ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen), CHRISTOPH GUSY (Bielefeld) und JOACHIM RÜCKERT (Frankfurt am Main), Zweck und Zielsetzung. Diese würden darin bestehen, den Zusammenhang von rechtlichem, politischem und gesellschaftlichem Geschehen in den Epochen des 20. Jahrhunderts sichtbar zu machen. Fragen der nationalen und europäischen Geschichte sollten fächerübergreifend diskutiert und gegebenenfalls in Forschungsvorhaben überführt werden. Durch die Integration der unterschiedlichen Erkenntnisperspektiven solle außerdem die Interaktion zwischen den Disziplinen gefördert und das Bewusstsein für die Geschichtlichkeit des Rechts und die Bedeutung des historischen Prozesses in der Rechtsentwicklung geschärft werden.

Die Einleitung zum ersten Themenbereich gruppierte BERND GREINER (Hamburg) um die These, dass die Geschichte der Neuen Sozialen Bewegungen gekennzeichnet sei von der Rückkehr der Angst in die Politik. Sie weise darin eine militärische und eine zivile Dimension auf. Angst vor der Atombombe und Angst vor unbeherrschbaren Großtechnologien würden zwei Seiten derselben Medaille bilden.

OLIVER LEPSIUS (Bayreuth) charakterisierte in seiner Hinführung zum zweiten Themenblock die rechtliche Dimension und formulierte sieben Punkte: (1) den materiell-rechtlichen Gegenstand des Urteils; (2) das Verhältnis von Demokratie und Protest; (3) das Verhältnis von Verfassung und Gericht und (4) dasjenige von BVerfG und Fachgerichten; (5) das Beziehungsgeflecht von Verfassungsgerichtsbarkeit und Öffentlichkeit; (6) das persönliche und fachliche Profil der Richter; und schließlich (7) die rechtswissenschaftliche Verarbeitung des Urteils.

ANSELM DOERING-MANTEUFFEL (Tübingen) hob einführend in den dritten Themenblock den propagandistischen Hintergrund der „Atoms for Peace“-Initiative der US-Regierung vom Jahr 1953 hervor, und betonte, dass die zivile Nutzung der Atomenergie von Anbeginn mit der nuklearen Machtrivalität der Supermächte im Kalten Krieg verbunden sei. Die Atomkraft wurde für kurze Zeit zu einem Versprechen für gesellschaftlichen Fortschritt und Wohlstand, auch für die ärmeren Schichten der Gesellschaft im Wiederaufbau nach dem Krieg, bevor der gesellschaftliche Wandel in den 1960er-Jahren ein staatsbürgerliches Bewusstsein entstehen ließ, das Mitbestimmung einforderte. Angesichts von Atomenergiepolitik, Ressourcenverschleiß und einer einseitigen politisch-ökonomischen Fixierung auf technischen Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum habe das zu Bürgerprotesten geführt, die sich in der Anti-AKW-Bewegung zu Massendemonstrationen auswuchsen und eine Spirale von polizeilicher Gewalt und Gegengewalt der Atomkraftgegner in Gang gesetzt haben.

In den Diskussionen wurden die verbindenden Elemente der drei Einleitungsreferate anhand des Urteilstextes und anderer Dokumente besprochen, vertieft oder kritisch relativiert. Ein besonderes Augenmerk galt der Frage, in welchem zeitgenössischen Umfeld das Urteil von 1985 gefällt wurde. Daraus ergab sich ein intensives Gespräch über die Kontextgebundenheit von Gerichtsurteilen, das für alle Beteiligten vertiefte, verschiedentlich überraschend neue Einsichten erbrachte. Die in der Rechtswissenschaft vorherrschende Auffassung, dass Gesetze rein dogmatisch ausgelegt werden sollen, wurde hier deutlich relativiert. Die Feststellung des Gerichts, dass politische Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen verlaufen müsse und nicht umgekehrt, verwies auf die Absicht, die lastende Tradition des Obrigkeitsstaats zu überwinden. Deshalb wurde das neue Phänomen eskalierender Gewalt und Gegengewalt auf Großdemonstrationen nicht angemessen zur Kenntnis genommen.

ANDREAS WIRSCHING (München) akzentuierte den Wandel in der demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik von einer rein repräsentativen zu einer in stärkerem Maß plebiszitären Demokratie und vertrat die These, dass das Urteil die Bereitschaft des Gerichts dokumentierte, diesen Wandel zuzulassen. Daraus ergab sich die eingehend diskutierte Frage, ob das BVerfG durch sein Urteil einen Konflikt eher institutionalisierte oder doch die Konfliktpositionen integrierte. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht betonte HANS CHRISTIAN RÖHL (Konstanz), dass es für die Interpretation des Urteils wichtig sei, den Teil zur Prozessgeschichte besonders zu beachten. Das Versammlungsrecht sei an sich inhaltsleer, und das Gericht lade es erst mit seinen Bemerkungen normativ auf. PASCALE CANCIK (Osnabrück) legte dar, in welchem Maß das Demonstrationsrecht aufgewertet wurde vom Minderheitenschutz zu einem Teilhaberecht. Die rechts- und sozialwissenschaftliche Perspektive verbindend, wies DIETER GOSEWINKEL (Berlin) darauf hin, dass sich der Brokdorf-Beschluss von der damals intensiv diskutierten Pluralismustheorie Ernst Fraenkels absetzte und einem Verständnis des sozialen Konsenses den Vorrang einräumte vor der Pluralität konfligierender gesellschaftlicher Positionen. LUTZ RAPHAEL (Trier) machte darauf aufmerksam, dass das Urteil weniger als ein Kommentar zu den aktuellen sozialwissenschaftlichen Problemstellungen in der Mitte der 1980er-Jahre gelesen werden müsse. Es handle sich eher um einen Text zur Zeitgeschichte, weil er sich auf Ereignisse beziehe, die bereits mehrere Jahre zurücklagen.

Die Tagung ließ deutlich werden, in wie hohem Maß der Beschluss des BVerfG nicht nur ein verfassungsrechtlicher Text, sondern auch ein zeithistorisches Dokument darstellt, in dem die damals aktuelle Spielart der Verflechtung von Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Gesellschaft und politischer Kultur um die Mitte der 1980er Jahre deutlich wird. Allerdings stand das Urteil am Endpunkt einer Entwicklung, die in den 1960er Jahren begonnen hatte und 1985 bereits deutlich abgeschwächt war. Aus juristischer Perspektive kommt dem Urteil eine bis heute prägende Bedeutung für das öffentliche Recht und insbesondere das Verwaltungsrecht zu.

Alle Teilnehmer waren sich einig, dass der interdisziplinäre Ansatz für die beteiligten Fächer einen großen Erkenntnisgewinn biete. Man sah aber auch deutlich die Forschungsdesiderate, weil die Akten des Bundesverfassungsgerichts nicht zugänglich sind und die Problemwahrnehmung innerhalb der Polizei sowie der Wandel der Präventionsstrategie erst noch vertiefend erforscht werden müssen.

Die nächste Tagung des Arbeitskreises findet am 05. und 06. Juni 2014 statt. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 und das entsprechende BVerfG-Urteil aus dem Jahr 1979 sollen den Rahmen bilden. Über die mögliche Hinwendung zu Themen der europäischen Rechts- und Integrationsgeschichte müsste gleichfalls diskutiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass die produktive, höchst anregende Arbeit auch in den nächsten Jahren weitergeführt wird.

Konferenzübersicht:

Claudius Geisler (Mainz): Begrüßung

Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen)/Christoph Gusy (Bielefeld)/Joachim Rückert (Frankfurt am Main): Sinn und Zweck des interdisziplinären Arbeitskreises

Block I: Die sozialwissenschaftliche Dimensionen

Bernd Greiner (Hamburg): Atomangst und Justiz – Die Anti-Atomkraftbewegung im Spiegel des Brokdorf-Urteils

Block II: Die rechtliche Dimensionen

Oliver Lepsius (Bayreuth): Die Entstehung des Urteils und die Auswirkungen auf Gesetzgebung und Rechtsprechung

Block III: Die zeithistorische Dimensionen

Anselm Doering-Manteuffel (Tübingen): Geschichte der Bundesrepublik seit den sechziger Jahren

Anmerkung:

1 Weitere Informationen zur Tagung und zum Arbeitskreis finden Sie unter: <http://www.adwmainz.de/index.php?id=1781> (30.07.2013).


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