Die 60. Jahrestagung der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg knüpfte mit einem Teil ihrer Beiträge an den Tagungsort Wertheim im äußersten Nordosten Baden-Württembergs an. Beim öffentlichen Abendvortrag unter dem Titel „Immer auch ein Teil des Ganzen? Die wertheimische im Verband der nationalen Geschichte“ beleuchtete VOLKER RÖDEL (Karlsruhe) die Beziehungen der Grafen und später der Fürsten von Wertheim zur Reichsebene. Neben der Mitgliederversammlung der Kommission standen zwei Arbeitsgruppensitzungen mit insgesamt sechs Vorträgen im Mittelpunkt des Programms.
Die Sitzung der Arbeitsgruppe 1 stand unter dem Titel "Adelige Herrschaftsrepräsentation und Memoria im Mittelalter" und wurde von Peter Rückert (Stuttgart) geleitet. Einführend legte er dar, dass der Veranstaltungsort Kloster Bronnbach der Anknüpfungspunkt für die Beschäftigung mit der Memoria sei. Dieser stellte er als weltliches Gegenstück die Herrschaftsrepräsentation gegenüber, die sich unter anderem architektonisch im Burgenbau niederschlug – in der näheren Umgebung etwa in der Burg Wertheim oder der Gamburg.
Für die frühere Forschung waren die so genannten Hausklöster zentrale Stätten der Memoria einer Adelsfamilie. Die Stiftung durch einen Ahnherrn der Familie, die dortige Pflege der Memoria, die innerhalb der Familie weitergegebene Schutzvogtei und die Nutzung als Familiengrablege wurden als Kriterien für ein Hauskloster benannt. Hausklöster seien, da die Stifterfamilien in den genannten Beziehungen über lange Zeit hinweg mit ihnen verbunden blieben, zu Kristallisationskernen für die Formierung der Adelsgeschlechter geworden. Diesen Forschungsansatz unterzog JÜRGEN DENDORFER (Freiburg) unter dem Titel "Gescheiterte Memoria? Anmerkungen zu den 'Hausklöstern' des mittelalterlichen Adels" einer kritischen Hinterfragung. Anhand mehrerer Beispiele wurde deutlich, dass die genannten Kriterien für ein Hauskloster insbesondere im ersten Jahrhundert der Existenz eines Klosters oft nicht nachweisbar sind. Zudem sei es nicht möglich, dass ein Klosterstifter auch für nachfolgende Generationen eine Festlegung treffen konnte, wo diese sich bestatten lassen und für ihre eigene Memoria sorgen sollten. Die Beispiele der Hohenstaufen und weiterer Familien zeigen, dass diese in verschiedenen Generationen mehrere Klostergründungen unternahmen, sich so mehrere Grablegen schufen und an ganz unterschiedlichen Orten für ihre Memoria sorgten. Viele der vorschnell als Hausklöster bezeichneten Klöster seien daher nicht der Dynastie insgesamt zuzuordnen, sondern vor allem der Person des Stifters - wenngleich nicht in Abrede gestellt werden sollte, dass es auch tatsächlich Hausklöster im althergebrachten Sinn gab, wie etwa das zähringische St. Peter auf dem Schwarzwald.
In der Diskussion wurde anerkannt, dass der Begriff des Hausklosters künftig differenzierter verwendet werden muss. Grablegen sollten weniger als Monumente der Vergangenheit einer Familie betrachtet werden, sondern vor allem aus der Perspektive derjenigen, die dort beigesetzt wurden. Es wurde darauf hingewiesen, dass in zisterziensischen Klöstern lediglich die Bestattung der Stifter gestattet war, nicht jedoch diejenige weiterer Verwandter, was jedoch in der Praxis oft nicht eingehalten wurde. Weiter erfolgte der Hinweis, dass etwa kinderlose Frauen einer Familie sich oft andere Grablegen suchten als die übrigen Familienmitglieder, da sie selbst für ihre Memoria sorgen mussten.
Unmittelbaren Bezug zum Tagungsort Wertheim/Kloster Bronnbach hatte der Beitrag von HERMANN EHMER (Stuttgart), der über "Die Grafen von Wertheim und ihre Memoria" sprach. Obwohl die Wertheimer Grafen nicht zu jener Adelsgruppe gehörten, die die Zisterze Bronnbach stiftete, sind bereits aus den ersten Jahren ihrer Existenz Schenkungen belegt. Nachweislich in Bronnbach bestattet wurden im 14. Jahrhundert Graf Eberhard von Wertheim, der 1354 bereits als Klosterschirmer bezeichnet wurde, und dessen Bruder Poppo. Eine gewisse Bedeutung hatte als Begräbnisort auch die von Gräfin Elisabeth von Wertheim 1328 gegründete Kartause Grünau im Spessart, wo zwar wohl nicht sie selbst, aber die 1376 verstorbene Gräfin Katharina beigesetzt wurde. Um die Wende zum 15. Jahrhundert wurde die von den Grafen ab 1384 neu gebaute Stiftskirche in Wertheim wichtiger Begräbnisort der Familie, wo Graf Johann I. (1373-1407) in einem repräsentativen Hochgrab im Chor beigesetzt wurde. Ihm folgten etliche weitere Familienangehörige. Interessant ist die Veränderung der gräflichen Memoria, die sich in den Grabmalen seit der Einführung der Reformation in der Grafschaft im Jahr 1524 niederschlug: anstatt der früher üblichen figürlichen Grabmale wurden nun reine Textgrabmale mit längeren schriftlichen Charakterisierungen der Verstorbenen erstellt. Auch wenn es sich um keine Memoria im eigentlichen Sinn handelt, war dem Andenken der Grafen von Wertheim die Erwähnung eines Grafen als Herrn des Wolfram von Eschenbach in dessen "Pazival" förderlich.
Aus Zeitgründen wurde darauf hingewiesen, dass eventuelle Fragen und Diskussionsbeiträge noch in der Schlussdiskussion vorgebracht werden können.
Der dritte Vortrag wandte sich einer der zentralen, an der Gründung der Zisterze Bronnbach beteiligten Personen zu, dem Mainzer Erzbischof Arnold von Selenhofen. Dessen Vita und Memoria stellte STEFAN WEINFURTER (Heidelberg) vor. Aus einer Ministerialenfamilie aus der Mainzer Nachbarschaft stammend war Arnold zum Erzbischof aufgestiegen. Da er mit dem Klerus seiner Bischofsstadt zerstritten war, musste er davon ausgehen, dort keine Memoria zu erhalten. Daher beteiligte er sich an der Gründung des Klosters Bronnbach, wobei er zu den übrigen Stiftern bereits seit längerer Zeit in Beziehung stand. Arnold wurde jedoch nicht, wie er es wünschte, in Bronnbach bestattet, sondern doch in einer Mainzer Kirche. Seine Amtszeit war geprägt von Spannungen, die ihre Gründe in seiner niederen Herkunft und der Konkurrenzstellung zur Familie der Meingote hatten. Von ihm geforderte höhere Abgaben der Stadtbevölkerung und Truppenstellungen für die Italienzüge Barbarossas waren schließlich Auslöser, die zu seiner Ermordung im Jahr 1160 führten. Wohl noch im selben Jahr verfasste Arnolds Kapellan Gernot eine Vita seines Herrn. Darin schildert er ihn als beleibten, prunkverliebten und ausgesprochen streitbaren Kirchenfürsten, wobei alle diese Eigenschaften für den Autor jedoch durchweg positiv besetzt sind: Leibesfülle und kostbarste Gewänder zeigen den Wohlstand und die Würde des Kirchenamts an und die Streitbarkeit des Erzbischofs sein beherztes Eintreten für den rechten Glauben. Die grausame Ermordung seines Herrn schildert er als Martyrium und durch die Episode einer Wunderheilung rückt er den Erzbischof in der Ruch der Heiligkeit. Das Andenken an Arnold wurde jedoch durch die Vita kaum bewahrt, denn sie fand nahezu keine Verbreitung. Dies hatte wohl seinen Grund unter anderem darin, dass seitens des Kaisers offensichtlich Interesse daran bestand, die ganze Angelegenheit möglichst geräuschlos abzuwickeln. Gegen die an dem Mord Beteiligten, die ihrerseits selbstverständlich keinerlei Interesse daran hatten, an Arnold und ihr Verbrechen zu erinnern, gab es nur verblüffend milde Urteile.
In der Diskussion wurde vor allem nach Parallelen zu den geschilderten Vorgängen gefragt, die etwa bei der Gründung des Klosters Maulbronn oder im Erzbistum Trier bestanden, wo es ebenfalls Opposition gegen den Erzbischof gab. Ferner wurde auf die Vita Karls von Flandern hingewiesen, worin es ebenfalls gewisse Parallelen gebe.
Die Beiträge der Arbeitsgruppe verdeutlichten, wie wichtig die Sorge um die Memoria für die mittelalterlichen Adligen war. Die Memorialorte Wertheim und Bronnbach, von deren Anschauung alle Beiträge ausgingen, können in dieser Hinsicht als beispielhaft gelten. Die Referate werden demnächst in der Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte veröffentlicht.
Die Sitzung der Arbeitsgruppe 2, die sich mit „Aspekten der Wirtschaftsgeschichte Wertheims“ beschäftigte, wurde von Gert Kollmer-von Oheimb-Loup (Stuttgart-Hohenheim) geleitet. In seiner Einführung gab er einen kurzen Überblick über die wirtschaftliche Struktur der Region Wertheim und deren Schwerpunkte.
WINFRIED SCHENK (Bonn) bezeichnete in seinem Auftaktreferat über den Weinbau in der Region Wertheim-Würzburg den Anbau der Weinrebe als einen vorzüglichen Indikator für die Veränderung der Mensch-Umwelt-Beziehungen in historischer Zeit. In der Taubergegend (südlich von Würzburg beidseits der Grenze von Bayern und Baden-Württemberg gelegen), wo Weinbau seit dem 9. Jahrhundert an der physiologischen und damit ökonomischen Grenze der Verbreitung der Rebe betrieben wird, beeinflussten Klimaschwankungen und bisweilen katastrophale Witterungseinflüsse die Höhe der Weinträge sehr direkt. Um die daraus resultierenden Ertrags- und Einkommensschwankungen abzufedern, wurde Weinbau durchweg in Betriebsformen betrieben, die mit dem Feldbau gemischt waren. Die so entstandenen Kleinstbetriebsstrukturen waren auf den sich ab dem 19. Jahrhundert öffnenden Märkten nicht konkurrenzfähig. In der Folge geriet der Weinbau des Taubergebiets in eine existentielle Krise. Das Wiederaufleben des Erwerbsweinbaus ab den 1950er-Jahren sei, so der Referent, der Senkung des Arbeitsaufwandes in den Rebhängen dank Flurbereinigungen, staatlich-organisatorischer Unterstützung bei der Weiterentwicklung von Genossenschaften und der Vermarktung „weicher Faktoren“ im Sinne „weinorientierter Dorferneuerungen“ zu verdanken. Resümierend stellte Schenk jedoch fest, dass zu nahezu allen angerissenen Aspekten jüngere Forschungen fehlen. Dies sei nicht zuletzt der beständigen territorialen Grenzlage des Gebietes geschuldet, da diese bis heute den Zugriff auf die durchaus vorhandenen archivalischen Quellen und deren Auswertung behindere.
Die Diskussion hatte ihren Schwerpunkt in der Frage nach dem Verhältnis von Weinproduzenten und Verbrauchern. Dabei betonte der Referent, dass bis zum Ende des Alten Reiches der Markt kaum eine Rolle bei Anbau und Ausbau der Reblandschaft gespielt habe, da hier die Wünsche und Vorstellungen der Feudalherren ausschlaggebend gewesen seien. Im 20. Jahrhundert hatten die Weinbauern der Region große Probleme, Absatzmärkte für ihre Produkte zu finden, da aufgrund der Territorialgrenzen des 19. Jahrhunderts z.B. die Ausbildung eines Regionalimages für den Wein erschwert wurde.
PETER KIRCHNER (Ludwigsburg) betonte in seinem anschließenden Vortrag über die Industrialisierung Wertheims, dass die ehemals blühende Grafschaft Wertheim infolge der napoleonischen Grenzziehung am Main im 19. Jahrhundert ein wirtschaftliches und politisches Schattendasein führte. Vor 1945 bestand in der Stadt Wertheim mit einer Herdfabrik nur ein größerer Industriebetrieb, in dem mehr als die Hälfte der nur rund 400 örtlichen Industriebeschäftigten tätig war. Die Stadt rangierte in Bezug auf ihre Industrialisierung daher auf derselben Ebene wie andere kleinere Landstädte wie z.B. Eppingen, mit dem der Referent Wertheim verglich. Im Gegensatz zu Eppingen hat sich Wertheim jedoch durch das Hereinströmen von Evakuierten, Heimatvertriebenen und Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Handel und Kleingewerbe treibenden Bürgerstadt zu einer ausgesprochenen Industriestadt entwickelt. Ursache dafür war die Schaffung von Arbeitsplätzen durch den erfolgreichen Neustart verlagerter Industriebetriebe, insbesondere der thüringischen Laborglasindustrie. Angezogen wurde diese in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch das Vorhandensein von gewerblich nutzbaren Räumlichkeiten eines ehemaligen Militärflugplatzes. Nach Gründung der Bundesrepublik konnte die Stadt den interessierten Betrieben dann ein Gelände im Stadtteil Bestenheid zum Bau von Industrieanlagen zur Verfügung stellen. Bereits 1915 war dieses durch den Kauf von Acker- und Wiesenland als künftiges Industriegelände erworben worden. Der Bau der Glashütte in Bestenheid im Jahr 1949 markiert den Beginn dieser dynamischen Industrialisierung. Heute weist Wertheim eine doppelt so hohe Industriebeschäftigung auf wie der Landesdurchschnitt von Baden-Württemberg.
In der Diskussion wurden einmal Fragen nach der Herkunft der Facharbeiter, der Rohstoffe sowie des Startkapitals für die nach 1945 aus der sowjetischen Besatzungszone geflohenen Unternehmer behandelt. Darüber hinaus kam die Industriepolitik der Stadt Wertheim zur Sprache. Dabei betonte der Referent, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg kein eigentliches Industrialisierungskonzept der Kommune gegeben habe, die Stadt bei sich bietender Gelegenheit aber schnell und erfolgreich Industrieansiedlungen unterstützte. Heute verfüge Wertheim über sieben bis acht Betriebe, die als sogenannte ‚heimliche Weltmarktführer‘ gelten können.
Im abschließenden Beitrag über die Infrastrukturpolitik in der Region Wertheim hob UWE GRANDKE (Rudolstadt) hervor, dass Wertheim aufgrund seine verkehrstechnischen Lage an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schlechte Voraussetzungen für eine nachhaltige industrielle Entwicklung hatte: So konnten zum einen die in den vorhandenen Manufakturen verarbeiteten Rohstoffe nur zu einem geringen Teil durch die regionale Land- und Forstwirtschaft produziert werden. Zum anderen wäre die Heranführung von Rohstoffen, insbesondere der für eine frühe Industrialisierung so wichtigen Kohle an der mangelhaften Verkehrsanbindung der Stadt gescheitert. Eisenbahnlinien gab es noch nicht und der Main war um 1800 nicht für größere Schiffe nutzbar, betrug die Wassertiefe seines Flussbetts doch über weite Strecken weniger als fünfzig Zentimeter. Wegen der widerstreitenden Interessen seiner Anrainerstaaten (Baden, Bayern, Hessen) wurde der Main – im Vergleich zu anderen Flüssen – erst spät mit modernen Transportsystemen ausgestattet: Die Dampfschifffahrt wiederum konnte sich wegen des zeitgleich erfolgenden Ausbaus der Eisenbahnen nicht durchsetzen. Die Kettenschleppschifffahrt erreichte nie betriebswirtschaftlich rentable Ergebnisse. Erst mit dem Ausbau des Mains zu einer kanalisierten Großschifffahrtsstraße erlangte der Fluss eine größere wirtschaftliche Bedeutung. Der 1933 entstandene Schutzhafen bei Bestenheid und die 1912 eröffnete Bahnlinie erschlossen schließlich ein zur Ansiedlung von Industrie geeignetes Gebiet, in welchem allerdings erst 1949 Industriebetriebe eine Heimat fanden. Die Diskussion kreiste einmal um technische Fragen der Kettenschleppschifffahrt. Darüber hinaus kamen die militärischen Implikationen bei der Durchführung von Infrastrukturmaßnahmen im 19. Jahrhundert zur Sprache. Abschließend wurde das Verhältnis der Kosten von Land- und Flusstransport erörtert.
Insgesamt bot die Sektionssitzung einen facettenreichen Einblick in die wirtschaftliche Entwicklung der Region Wertheim in den vergangenen Jahrhunderten. Besonders wurden die strukturellen Probleme von Grenzregionen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Prosperität deutlich gemacht. Bemerkenswert war auch die anregende Vortragsweise der Referenten.
Konferenzübersicht
Arbeitsgruppe 1: Adlige Herrschaftsrepräsentation und Memoria im Mittelalter
Leitung: Peter Rückert
Jürgen Dendorfer: Gescheiterte Memoria? – Anmerkungen zu den „Hausklöstern“ des hochmittelalterlichen Adels
Hermann Ehmer: Die Grafen von Wertheim und ihre Memoria
Stefan Weinfurter: Der Mainzer Erzbischof Arnold von Selenhofen: Vita und Memoria
Arbeitsgruppe 2: Aspekte der Wirtschaftsgeschichte Wertheims
Leitung: Gert Kollmer-von Oheimb-Loup
Winfried Schenk: Die Entwicklung des Weinbaus in der Region Würzburg-Wertheim von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert
Peter Kirchner: Die Industrialisierung Wertheims im 20. Jahrhundert
Uwe Grandke: Vollständig vom Weltverkehr abgeschlossen? Infrastrukturpolitik in Wertheim am Beispiel der Flussschifffahrt von 1800 bis 1939