Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft

Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft

Organisatoren
Gesellschaft für Agrargeschichte; Arbeitskreis Agrargeschichte„Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft“im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI)
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
14.06.2013 - 15.06.2013
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Von
Johannes Bracht, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Gunter Mahlerwein, Institut für Kultur- und Mediengeschichte, Universität des Saarlandes

Wissen in der Landwirtschaft ist kein von der älteren Agrargeschichte völlig vernachlässigtes Feld. Denn Wissen wird seit Langem als ein Mittel der agrarischen Modernisierung betrachtet, mithin als Produktionsfaktor. Gerade vor der Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft kam der Verbreitung von Wissen über Methoden und Möglichkeiten der Vermehrung der Produktion unzweifelhaft große Bedeutung zu. Ein traditioneller Ansatz in der Agrargeschichte ist daher, das Wirken der universitären Agrarwissenschaften und landwirtschaftlichen Vereine zu untersuchen. Zugespitzt erscheint landwirtschaftliches Wissen bei diesem Ansatz vor allem als ein innovatives Wissen, das von Experten geschaffen und von dem Gemeinwohl verpflichteten Enthusiasten auf einer didaktischen Einbahnstraße zu den fortschrittsskeptischen Bauern befördert wurde.

Die neuere Forschungsrichtung der Wissensgeschichte definiert sich dagegen in Abgrenzung von der Wissenschaftsgeschichte: Fortschritt und Inhalte der institutionalisierten Wissenschaft interessieren nicht primär, vielmehr rückt ins Zentrum, „wie, wann, und gegebenenfalls warum ein bestimmtes Wissen auftaucht – und wieder verschwindet“ .1 Die Gesellschaft für Agrargeschichte und der in ihr aufgegangene Arbeitskreis für Agrargeschichte verfolgten mit ihrer Jahrestagung 2013 „Wissen in Landwirtschaft und ländlicher Gesellschaft“ (14./15. Juni 2013, Kulturwissenschaftliches Institut Essen) zwei Ziele: Einerseits sollten aktuelle wissensorientierte Forschungen mit Bezug zur Landwirtschaft oder zur ländlichen Gesellschaft vorgestellt werden. Andererseits sollte ausgelotet werden, inwiefern die Reflexion über Agrarwissen auch einen inhaltlichen oder methodischen Beitrag zum allgemeinen Projekt einer Wissensgeschichte leisten kann.

ALEXANDER VAN WICKEREN (Köln) referierte über Wissenszirkulation am Beispiel des Tabakanbaus im Elsass um 1800. Konzentriert auf die napoleonische Zeit, arbeitete er angesichts der Etablierung eines Tabakmonopols während der Kontinentalsperre die verstärkte Zunahme zentralstaatlichen Einflusses auf die regionale Entwicklung in dieser Grenzregion heraus. Zwar könne nicht von einer zentral organisierten Distribution landwirtschaftlichen Wissens durch eine für das Tabakmonopol zuständige Abteilung des Finanzministeriums gesprochen werde, sondern von einem regionalen Netzwerk aus Mitgliedern der Société des Sciences und dem Inspecteur de Tabac, Johann Nepomuk Schwerz, die in einem engen Austausch mit den lokalen Tabakexperten standen. Die Ergebnisse dieser Kooperation wurden dann jedoch über den Präfekten an die Zentrale weiter vermittelt. Das von dort drohende Anbauverbot für Tabak sollte durch die Qualitätssteigerung mit Hilfe verbesserten Saatguts abgewendet werden. Sowohl dieses Beispiel als auch die Kommunikation mit den nördlichen Rheinlanden wertete van Wickeren als Hinweise auf eine „imperiale Zirkulation“ landwirtschaftlichen Wissens.

Die Anfänge der Geflügelzucht in Westfalen bezeichnete ULRIKE HEITHOLT (Bielefeld) als „Geschichte einer gescheiterten Wissensvermittlung“ zwischen Züchtern und Landwirten. Während die Rassegeflügelzucht in bürgerlichen Kreisen regelrecht zur Mode wurde, reagierten die Landwirte, die Hühnerhaltung vor allem zur Selbstversorgung praktizierten, aber nicht als Einkommensfaktor wahrnahmen, kaum auf die Vorschläge der Züchter, in großem Stil Rassegeflügel zur Produktion von Eiern und Fleisch zu nutzen. Dass die Vermittlung vor dem Ersten Weltkrieg nicht gelang, war auch eine Folge der unterschiedlichen Wissenskulturen. Waren die Landwirte den Initiativen der „Experten von außen“ gegenüber skeptisch, so fehlte bei den meist bürgerlichen Züchtern das Wissen über die Arbeitsteilung auf den Höfen. Schließlich sollte im 20. Jahrhundert auch nicht das „Rassegeflügel“, sondern das Hybridhuhn zum Erfolg, also zu einer ökonomisch rentablen Geflügelhaltung als Teil landwirtschaftlicher Betriebsführung, führen.

RITA SCHÄFER (Essen) analysierte das „agrar-ökologische Wissen“ in Simbabwe, das sie Mitte der neunziger Jahre über Interviews und teilnehmende Beobachtung untersuchte, aus einer historischen Genderperspektive. Nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1980 setzten die staatlichen Agrarberater weiter auf die in der Kolonialzeit eingeführten großtechnischen Monokulturen in der Landwirtschaft, während vorkoloniales Wissen für sie, die eben im kolonialen System ausgebildet worden waren, kaum eine Rolle spielte. Ihre Angebote richteten sich an lokale männliche Eliten. Kleinbäuerinnen mit wenig Landbesitz und geringer technischer Ausstattung blieben von dieser Beratung ausgenommen. Deren Praxis der Wissensvermittlung war geprägt durch intergenerationellen Transfer, durch „learning-by-doing“, durch Weitergabe von Wissensbeständen über Sprichwörter und Sinnsprüche. Erst in Dürrekrisen wurde – der Not gehorchend – auf dieses Wissen wieder stärker zurückgegriffen.

Über „Obstbauliches Wissen“ im Kurfürstentum/Königreich Hannover zwischen 1770 und 1880 informierten SYLVIA BUTENSCHÖN und HEIKE PALM (beide Berlin). Sie verfolgten den Weg des im 18. Jahrhundert durch verstärkte Züchtungsanstrengungen verbesserten Obstbaus von den Hofgärten in Versailles und Herrenhausen auf das flache Land. Über kostenlose Verteilung von Obstbäumen und Hilfsangebote bei deren Pflege wurden – ausgehend von der Landesbaumschule in Herrenhausen – zunächst zentral gesteuerte Formen der Wissensvermittlung praktiziert, die ab den 1820er-Jahren von stärkerer Dezentralisierung (Gemeindebaumschulen, Publizistik, Obstbauunterricht in Lehrerseminaren) abgelöst wurde.

MARTEN PELZER (Köln) stellte die Landwirtschaftlichen Vereine des 19. Jahrhunderts als „Wissensagenturen“ vor. Dabei ging er dem Prozess der zunehmenden Professionalisierung der Wissensvermittlung nach. Standen am Anfang auf Lektüre, Diskussion und Versuchen basierende Formen der Wissensgenerierung und des Erfahrungsaustauschs unter den Mitgliedern im Vordergrund, so entwickelte sich über den Einsatz von Wanderlehrern und das Vortrags- und Beratungswesen ein weniger auf Binnendiskurse, sondern mehr auf Expertentum setzender Wissenstransfer, bei dem der durch „Wirtschaftlichkeit und Wissenschaftlichkeit qualifizierte praktische Nutzen“ an Bedeutung gewann.

Die Enquete über Frauen in der Landwirtschaft aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahm MARION KELLER (Frankfurt am Main) zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und Wissensorganisation in der ländlichen Wissensgesellschaft. Während die Enquete zum Ergebnis kam, dass landwirtschaftliche Innovationen männlich konnotiert seien, die weibliche agrarische Praxis stärker auf traditionalem Wissen beruhte, zeigte die Referentin aber auch auf, wie Haushalt, Haushaltstechnik und Hauswirtschaft über Rationalisierung und Professionalisierung zunehmend verwissenschaftlicht wurden. Zudem sei das geschlechtsspezifische Wissen auch sozialhierarchisch differenziert zu betrachten. Im Mittelpunkt der von Gertrud Dyhrenfurth geleiteten Enquete standen neben Landarbeiterinnen und abhängig Beschäftigten auch selbstständige Bäuerinnen.

DANA BRÜLLER (München) stellte Untersuchungen zu dem in Vergessenheit geratenen deutschen Botaniker Aaron Aarohnsohn (1876-1919) vor. Dieser Vertreter der sogenannten „Botanischen Zionisten“ suchte und fand 1906 auf einer Forschungsreise in Palästina den wilden Emmer, der fortan als „Urweizen“ betrachtet wurde. Das Wissen um den Urweizen diente danach politischen, ideologischen und territorialen Interessen. In der Tat war es wichtig, ein mit den naturräumlichen Bedingungen Palästinas zurechtkommendes Getreide zu finden und dessen Produktivität zu steigern. Dies geschah dann auch. Ebenso auffällig, und in der Retrospektive augenscheinlich nicht als stärker oder schwächer zu gewichten, war aber auch die Nutzung der Entdeckung in Diskussionen über den Ursprung der Zivilisation, in denen sich Zionisten nicht zuletzt gegen die Ideen einer arischen Urzivilisation in Nordeuropa zur Wehr setzten.

JULIA TISCHLERs (Berlin) Vortrag führte ins Südafrika in der Zeit der Weltkriege. In der Situation einer daniederliegenden Landwirtschaft nach dem „Burenkrieg“ entwarf der südafrikanische Staat ein Bildungsprogramm, das die Sozialordnung zu konservieren versprach. Kleine weiße Farmer drohten zu verarmen. Der rassistisch segregierte Arbeitsmarkt, auf dem Weiße als Grundeigentümer und Schwarze als lohnabhängige Landarbeiter galten, bot verarmten Weißen keine Chancen. Das Mittel der Wahl, um die soziale und kulturelle Ordnung zu wahren, bestand darin, den weißen Farmern exklusive Wissensbestände zu vermitteln. Dies ging damit einher, Schwarzen den Landbesitz zunehmend zu erschweren. Doch auch Schwarzen wurde Agrarbildung zuteil, allerdings nicht um mit Weißen in Konkurrenz zu treten, sondern um Arbeitskräfte für die Farmen der Weißen heranzuziehen. Im Diskurs der Intellektuellen fand Tischler Belege dafür, dass in der Agrarbildung für Schwarze auch emanzipatorisches Potential gesehen wurde. Landwirtschaftliche Bildung sei somit ein sozialtechnisches Steuerungsinstrument gewesen, jedoch eines, das permanent in Widersprüche verstrickt wurde.

JOACHIM HENDEL (Jena) fragte, was einen Agrarexperten im Nationalsozialismus ausmachte. War es eher die agrarische Erfahrung mit einem eigenen Betrieb oder war es die Parteimitgliedschaft und Funktion im Führerstaat? In der hierarchischen Struktur des Reichsnährstandes war landwirtschaftliches Wissen auf den unteren Stufen unabdingbar, um Akzeptanz und Respekt der Landwirte zu gewinnen. Bei Hofbegehungen des Reichsnährstandes scheint nicht immer klar gewesen zu sein, wer wen belehrte. Ortsbauernführer haben nach Hendel drei Gemeinsamkeiten aufgewiesen: Fachwissen rangierte dabei nur neben der „bäuerlichen Ehrbarkeit“, die auch im Erbhofgesetz ein wesentliches Aufnahmekriterium war, und der Ideologiefestigkeit, wobei aber viele der Bauernführer doch nicht Mitglieder in der NSDAP waren.

STEFAN SCHLELEIN (Berlin) stellte Untersuchungen zu einem der wirkungsmächtigsten Werke agrarischer Gelehrsamkeit vor, das „Libro de agricultura“ von Gabriel Alonso de Herrera. Geschrieben im 16. Jahrhundert, erlebte es binnen Kurzem zahlreiche Neuauflagen in Spanisch, Italienisch und Französisch, die letzte noch im 19. Jahrhundert. Herreras Buch war ungeheuer einflussreich, wurde auch von den Hausvätern gelesen und zitiert. Anders als bei diesen standen bei Herrera bereits Ertragsteigerungen im Vordergrund. Seine Methode war teilweise experimentell, er verknüpfte eigene und fremde Empirie und stellte eigene Erfahrungen über die Erkenntnisse von antiken Autoritäten.

BEAT BÄCHI (Bern) referierte über den Umbruch in den Kommunikationsweisen seit den 1980er-Jahren und machte dies als das Ende der „agrarisch-industriellen Wissensgesellschaft“ (aiW) aus. Letztere bezeichnet eine seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typische Konstellation von Wissensproduzenten, -rezipienten und -verweigerern. Konstitutiv für die aiW war die Zirkulation von Wissen zwischen Agroindustrie und praktischer Landwirtschaft und die Integration beider Sphären durch Akteure, die in beiden gleichermaßen beheimatet waren. Bächi beschrieb das Ende der aiW seit den 1980er-Jahren, die er am Verschwinden von wegweisenden, von allen Akteuren der aiW gleichermaßen konsumierten Fachperiodika festmachte, wodurch die bis dahin übliche Zirkulation von Wissen unterbrochen wurde, ein Indiz für die Ausdifferenzierung von Fachdiskursen. Hinzugekommen sei eine generelle Vertrauenskrise der Wissenschaft seit den 1970er-Jahren.

THOMAS SCHIBLI (Bern) gab in seinem Vortrag einen Einblick in laufende Arbeiten zu einer Analyse von landwirtschaftlichen Lehrfilmen der Schweiz zwischen 1920 und 1965, als die Produktion von Auftragsfilmen florierte. Dieses Medium biete, wenn man Fragen nach Inhalt und Form im Kontext der Aufführungsbedingungen behandle, die Chance, Popularisierung von Wissen nicht als top-down Prozess zu verstehen, sondern als einen interaktiven Vorgang.

URSULA SCHLUDE (Berlin) eröffnete mit einem Appell, Wissensgeschichte durchaus als Wissenschaftsgeschichte zu betreiben, aber mit einem kritischen Impuls gegenüber bisheriger Historiographie zu versehen. Gerade am Beispiel landwirtschaftlichen Wissens werde klar, dass wissenschaftliche Methode und wissenschaftlicher Anspruch nicht erst mit der „wissenschaftlichen Revolution“ des 17. Jahrhunderts einsetzten. Nicht zuletzt das Referat Schleleins unterstreiche dies. Schlude ging jedoch noch darüber hinaus und plädierte dafür, solche frühe Wissenschaft nicht nur in Büchern zu suchen, sondern auch Briefe und Verwaltungsdokumente als Quellen heranzuziehen. Wie der Stand des Wissens und wie die wissen-schaffende Methode der von ihr untersuchten Fürstin Anna von Sachsen aus dem 16. Jahrhundert beschaffen gewesen sei, lasse sich beispielswiese nur durch Studium ihres Briefwechsels mit anderen Höfen sowie durch Analyse von Dokumenten aus der Domänenverwaltung ermitteln.

Dies eröffnete die weitere Dimension des Themas: Setzt der Begriff Wissenschaft öffentliche Verbreitung der Ergebnisse voraus? Beat Bächi betonte, auch für das 20. Jahrhundert dürfe Wissenschaft keinesfalls nur in Veröffentlichungen gesucht werden. Infolge der Herausbildung einer agro-industriellen Branche seien große Teile der Agrarforschung exklusiv innerhalb von Unternehmen erfolgt und unterlägen dem Patentschutz bzw. der Geheimhaltung. Erst durch die Erschließung von unternehmensgeschichtlichen Archivalien, wie sie das Berner Archiv für Agrargeschichte sammelt, gewinne man Einblick in diese nicht-öffentliche Wissenschaft.

Während Schlude also für eine methodisch offenere, nicht epochal beschränkte, und vor allem die sich durch die beiden Geschlechter eröffnenden Potentiale (häusliche Produktion der Frauen als Wissensbereich etwa als Desiderat) eintrat, konnte sich WERNER TROSSBACH (Witzenhausen/Fulda) eher mit einer „Sozialgeschichte der Wissensgesellschaft“ anfreunden, die klassische Ansätze (Ehre, Habitus) nutze, um die Produktion und Verteilung von Wissen unter den sozialen Gruppen zu untersuchen. Troßbach stellte fest, die Dichotomie von aufgeklärten Agrarschriftstellern und praktisch tätigen Bauern gebe die realen Beziehungen nur unzureichend wieder. Man finde unter den Agrarschriftstellern auch praktische Erfahrung und unter Bauern auch solche mit Veröffentlichungsdrang. Außerdem stellten zahlreiche Agrarschriftsteller – vom späten 16. bis zum späten 18. Jahrhundert – Elemente bäuerlichen Wissens als vorbildlich dar. Dennoch, so ist anzumerken, arbeitete die Tagung immer wieder Dichotomien heraus, sei es zwischen bürgerlichen und adeligen Hühnerzüchtern und praktizierenden Bauern, sei es zwischen weißen Farmern mit Zugang zu Bildung und schwarzen „Labourers“. Eine Konstante der europäischen Agrargeschichte, so ein Bonmot Stefan Brakensieks, seien die „Diskussionen unter Gehörlosen“, also von selbsternannten Experten, die einen Diskurs führen, den zu führen ihnen aber schlicht das Rüstzeug an Erfahrungswissen fehlte.

VERENA LEHMBROCKs (Jena) Plädoyer für eine „Wissensgeschichte als erweiterte Wissenschaftsgeschichte“ ging in die gleiche Richtung wie das Statement Schludes, weil auch Lehmbrock mehr Wissensträger und Wissensorte zu berücksichtigen wünschte, als bisher durch die formale Wissenschaftsgeschichte geschehen. Wissensgeschichte berücksichtige darüber hinaus aber auch Wissensträger, -orte, und -transfers. Agrargeschichte sei für die Wissensgeschichte wichtig und willkommen, weil sie ein noch nicht so etabliertes Feld der Wissensproduktion darstelle, an dem die Wissensgeschichte weiter entwickelt werden könne.

Noch stärker die Prozesse und Intentionen der Wissensproduktion in den Blick nahmen PETER MOSER (Bern) und Beat Bächi. Bächi markierte den am stärksten der Wissensgeschichte zugewandten Ansatz. Auf Sarasin rekurrierend sagte Bächi, es solle nicht im Vordergrund stehen, wer in historischen Diskussionen Recht behalten habe. Es interessiere ihn, warum Individuen und Gruppen bestimmtes Wissen proklamierten und förderten, anderes aber nicht. Auch Peter Moser sprach sich dafür aus, die Marginalisierung von Wissen und die Behinderung von Wissensproduktion in den Blick zu nehmen: Wissensgeschichte also als eine Geschichte von widerstreitenden Interessen und Rollen.

Der Ansatz der Wissensgeschichte, das hat die Tagung deutlich gemacht, steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Geschichte des landwirtschaftlichen Wissens, wie sie bisher geschrieben wurde. Sie sind jedoch vereinbar, wenn man nicht nur nach neuem Wissen im Sinne eines „Fortschritts“ fragt, sondern auch einräumt, dass die Produktion und Vermittlung von Wissen nicht loslösbar ist von Intentionen und Zielen von Individuen und Gruppen. Die Wissensproduktion und -vermittlung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert etwa lässt sich treffend mit den Interessen der chemischen Industrie und insgesamt der Agrarindustrie begründen. Aus Sicht der Agrargeschichte wird durch wissensgeschichtliche Perspektiven nicht unbedingt der Forschungsstand zum agrarischen Wissen in den Grundfesten erschüttert. So sind etwa die klassischen „Top-down“-Wege der landwirtschaftlichen Aufklärung nochmals neu und auch als wirkungsmächtig beschrieben worden. Was bleibt, sind aber deutliche Mahnungen, stärker die Interessengebundenheit von Wissen und Wissensproduktion, die Machtausübung durch Wissen, aber auch die nicht-schriftlichen und „privaten“ Kanäle des Wissenstransfers zu beachten.

Konferenzübersicht:

Wissenszirkulation und ihre Grenzen

Alexander van Wickeren (Universität zu Köln): Zirkulation des Wissens über den Tabakanbau in Baden und im Elsass um 1800

Ulrike Heitholt (Universität Bielefeld): "Durch Rasse zur Leistung" - Die Anfänge der Geflügelzucht in Westfalen

Rita Schäfer (Essen): Agrar-ökologisches Wissen in Simbabwe - Gender-Dimensionen und historische Kontexte

Wissensorganisation und -förderung

Sylvia Butenschön / Heike Palm (Technische Universität Berlin): Von den Hofgärten in die Dorfgärten - Wege obstbaulichen Wissens vom Zentrum in die Peripherie im Kurfürstentum/Königreich Hannover

Marten Pelzer (Köln): Landwirtschaftliche Vereine als Wissensagenturen

Marion Keller (Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main): Die Untersuchung über Lebens- und Arbeitsbedingungen von Frauen in der Landwirtschaft: Ein Beispiel für geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Organisation von Wissen in der ländlichen Wissensgesellschaft

Wissenspolitiken

Dana Brüller (Ludwig-Maximilians-Universität München): Auf der Suche nach dem Urweizen: Botanisches und agrarwissenschaftliches Wissen zwischen Ideologie und Anwendung in Palästina (1900-1930)

Julia Tischler (Humboldt-Universität Berlin): White Farmers, Black Labourers? Agrarische Wissensvermittlung im Südafrika des 20. Jahrhunderts

Joachim Hendel (Universität Jena): Experten-Diskussion im "Dritten Reich". Landwirtschaftliches Praxiswissen in den Quellen des Reichsnährstandes

Podiumsdiskussion
Zum Potenzial des wissensgeschichtlichen Ansatzes für die Agrargeschichte

Teilnehmer: Beat Bächi, Peter Moser, Verena Lehmbrock, Werner Troßbach, Ursula Schlude

Wissensmedien

Stefan Schlelein (Humboldt-Universität Berlin): ,Wissenschaft' zwischen Vorbild, Feld und Federkiel. Das Libro de agricultura des Gabriel Alonso de Herrera

Thomas Schibli (Archiv für Agrargeschichte Bern): Der Film als Medium der Wissensvermittlung. Die agrarische Filmproduktion in der Schweiz der 1920er bis 1960er Jahre

Beat Bächi (Archiv für Agrargeschichte Bern): Die agrarisch-industrielle Wissensgesellschaft am Scheideweg? Neue Kommunikationsmedien und Wissensordnungen seit den 1980er Jahren

Anmerkung:
1 Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), 159-172, hier 165.


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