Wiederholt hatte das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung bereits in den vergangenen Jahren zu Workshop-Veranstaltungen eingeladen, auf denen Chancen und Möglichkeiten einer historischen Semantik des 20. Jahrhunderts debattiert wurden.1 Ein von Kathrin Kollmeier organisierter eintägiger Workshop unter dem Titel „Macht der Sprache. Historische Semantik des 20. Jahrhunderts“ hat diesen Diskussionszusammenhang nun fortgeführt. Als Vortragende eingeladen waren Forscherinnen und Forscher, welche an aktuellen Projekten arbeiten, die auf verschiedene Art und Weise historisch-semantische Zugriffe auf Themen des 20. Jahrhunderts verfolgen.
Im ersten Panel wurden Projekte diskutiert, die auf zentrale politische Begriffe des 20. Jahrhunderts zielen. MARTINA STEBER (München) präsentierte Ergebnisse aus ihrem Habilitationsprojekt zu politischen Sprachen des Konservativen in der Bundesrepublik und in Großbritannien während der 1960er- und 1970er-Jahre. Die Schwierigkeiten des Konservatismus-Begriffes resultieren nicht zuletzt aus dem Umstand, dass dieser sowohl ein Begriff der Selbstbeschreibung als auch ein politischer Kampfbegriff zur Abgrenzung und Diffamierung ist. Dementsprechend reserviert eignete sich die bundesrepublikanische CDU den Begriff als explizites Element ihres Selbstverständnisses an. In den 1970er-Jahren verstärkte sich das Bewusstsein für die Bedeutung politischer Sprache, Begriffe wie der Konservatismus wurden zum Teil neu formuliert und sollten durch gezielte Sprachpolitik besetzt und in bestimmter Weise konnotiert werden. Steber beschrieb die Semantiken des Konservativen dabei als vor allem durch drei Strukturprinzipien gekennzeichnet: erstens eine spezifische Weise, die drei Zeitdimensionen in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen, was auch eine manchmal paradoxe Spannung zwischen Wandel und Nicht-Wandel implizierte; zweitens eine Tendenz zur Konstruktion von Gegensätzen und Polarisierungen; drittens ein Prinzip der Repetition und gleichzeitig stetigen Aktualisierung von Begriffen und Werten. In der Diskussion wurde unter anderem die Frage aufgeworfen, ob die geschilderte Geschichte des Konservatismus nicht letztlich auf eine Verfallsgeschichte hinauslaufe, in deren Verlauf zentrale konservative Schlüsselbegriffe immer stärker sinnentleert und nur noch als reine semantische Fassade aufrechterhalten wurden. Dem wurde entgegengehalten, dass sich das flexible Neu-Arrangieren von Begriffsclustern als Medium von Selbstversicherungsprozessen im Konservatismus als durchaus wirksam und in diesem Sinne erfolgreich erwiesen habe. Weitere Diskussionspunkte waren die Beschränkung des Blickwinkels auf den parteipolitischen Konservatismus, die Eigenschaften des Konservatismusbegriffes als eines Quellenbegriffes sowie die Frage eines semantischen Entpolitisierungsprozesses im Konservatismus.
KATHRIN KOLLMEIER (Potsdam) sprach anschließend über ihr Projekt zur Geschichte der Staatenlosigkeit im Europa der Zwischenkriegszeit. Als eine semantische Innovation entstand der Begriff der „apatride“ infolge der bevölkerungspolitischen Verwerfungen im Zusammenhang des Ersten Weltkrieges. Seit den 1920er-Jahren arbeiteten Völkerrechtler daran, das Phänomen der Staatenlosigkeit begrifflich zu erfassen und mit dieser Begrifflichkeit auch eine Art provisorische Ersatzidentität zu generieren, wie sie im sogenannten „Nansen-Pass“ praktische Gestalt annahm. Nichtsdestoweniger entwickelte sich eine wirkungsvolle Antwort auf das Phänomen der Staatenlosigkeit erst mit dem Flüchtlings- und Asylrecht seit 1945, in dem Erfahrungen und Sprechweisen der ersten Hälfte des Jahrhunderts verarbeitet wurden. Von der massenhaften Erfahrung elementarer kultureller Entfremdung und Entwurzelung durch Staatenlosigkeit in der Zwischenkriegszeit lässt sich, so Kollmeier, auch eine Verbindung herstellen zu den Debatten um Staatenlosigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts, die vor allem im Zusammenhang mit der Auflösung der Sowjetunion aufgeworfen wurden. Die Diskussion drehte sich vor allem um die im Projekt angestrebte Verbindung von Semantiken und Praktiken, in denen sich das Phänomen der Staatenlosigkeit manifestierte.
Das zweite Panel widmete sich transnationalen Perspektiven historischer Semantik. DIRK BÖNKER (Durham) stellte zunächst sein Projekt einer transatlantischen Begriffsgeschichte des Militarismus im 20. Jahrhundert vor. Im Fokus standen dabei die Aneignungen des Begriffes in den USA in den Bereichen der Politik, der Kultur und der Wissenschaft. Der Begriff des Militarismus war dabei vor allem ein Begriff der Selbstbeschreibung, mittels dessen die Auseinandersetzung mit der amerikanischen Gesellschaft und der Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt geführte wurde. Am Trend zur Verwissenschaftlichung des Begriffes in den 1930er- und 1940er-Jahren waren in erheblichem Maße auch deutschsprachige Emigranten, darunter vor allem der Soziologe Hans Speyer, beteiligt, so dass sich ein transatlantischer Transferprozess ergab. Nach 1945 ging es im amerikanischen Militarismus-Diskurs nicht zuletzt um die semantische Einhegung des Militärischen durch das Zivile, woraus sich der Begriff des „civilian militarism“ ergab. In Westdeutschland wurde der Militarismusbegriff hingegen lange Zeit weniger als ein Selbstbeschreibungsbegriff, sondern, wie etwa im Werk Gerhard Ritters, fast ausschließlich als ein historisch-analytischer Begriff ohne gegenwartspolitische Dimension verwendet. Erst in den 1980er-Jahren entstand hier eine neue Diskussionsdynamik. In der Diskussion wurden unter anderem der europäische Kontext der Militarismusdiskussion, die deutsch-deutsche Auseinandersetzung um den Militarismus sowie die semantischen Beziehungen des Militarismusbegriffs zu anderen Begriffen wie „Bellizismus“, „Militär“ und „Krieg“ problematisiert.
Als deutsch-britischer Vergleich war der Vortrag von ACHIM SAUPE (Potsdam) über Semantiken von Sicherheit und Ordnung 1964-2001 angelegt. Darin konzentrierte er sich vor allem auf die Begriffe „Innere Sicherheit“ und „Law and Order“ als Leitbegriffe der politischen Kultur seit den 1960er-Jahren. Deutlich wurde vor allem der langfristige Bedeutungswandel etwa des Begriffes der „Sicherheit“, der ursprünglich ganz von der äußeren Sicherheit und der Stabilität des Staatswesens her gedacht wurde, sich im Laufe der Zeit aber vom Staat zum Individuum sowie von der Abwehr von Bedrohung hin zur Einhegung von Risiken verschob. Schließlich machte Saupe darauf aufmerksam, dass sich „Sicherheit“ und „Ordnung“ letztlich nur als Elemente relational aufeinander bezogener Begriffsnetze angemessen analysieren und verstehen lassen. In der Diskussion wurden demensprechend vor allem die Bezüge und Spannungen zu Begriffen wie „Freiheit“ und „Risiko“, aber auch der „Prävention“ debattiert. Außerdem wurden das Phänomen des Wandels und Tausches von Begriffen für gleichbleibende sowie umgekehrt der gleichbleibenden Begriffsverwendung für sich verändernde Problemlagen weiter problematisiert.
Im dritten Panel standen Semantiken der Zeiterfahrung im Mittelpunkt. CHRISTIAN GEULEN (Koblenz), in den letzten Jahren der wichtigste Fürsprecher für das Projekt einer Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts2, demonstrierte sein Konzept am Beispiel des Begriffes der „Beschleunigung“, den er sowohl als Erwartungsbegriff, als Erfahrungsbegriff sowie als Erkenntnisbegriff zu verstehen suchte. Über die Umbrüche des Jahrhunderts hinweg diente der Beschleunigungsbegriffs dabei vor allem dem Versuch, Zukunft in den Denk- und Planungsraum der Gegenwart zurückzuholen, indem sie als beschleunigte Gegenwart, als Hochrechnung des in der Gegenwart Möglichen unter den Bedingungen der Beschleunigung angeeignet werden konnte. Allerdings kam Geulen dabei zu dem Ergebnis, dass der Begriff der Beschleunigung im letzten Viertel des Jahrhunderts gerade aufgrund seines Aufstiegs zu einer kaum noch hinterfragten Grundüberzeugung semantisch immer mehr entleert worden sei, da Beschleunigung nur noch als Episode innerhalb einer ewigen Serie von Beschleunigungen gedacht wurde und damit ihre historische Bedeutungsdimension einbüßte. Auch hier konzentrierte sich die Diskussion auf die Bedeutung des Beschleunigungsbegriffes innerhalb weiterer Begriffsnetze und das Verhältnis zu Begriffen wie „Fortschritt“ und „Innovation“. Auch wurde die spezifische Bedeutung des technologischen Wandels und der Computerisierung für die Veränderungen des Beschleunigungsbegriffes angesprochen.
Anschließend sprach MARTIN SABROW (Potsdam) zu Zeitkulturen und der Politisierung der Zeit in den beiden deutschen Diktaturen. Methodisch zwischen „metrischer“ und „historischer“ Zeit als Analysekategorien unterscheidend, präsentierte der Vortrag die Zeitpolitiken des Nationalsozialismus und des DDR-Sozialismus als grundsätzliche Gegensatzpaare. Im Nationalsozialismus war die Zeitkultur auf eine Rhythmisierung der metrischen Zeit, dabei jedoch nicht auf einen einseitigen Geschwindigkeitskult, sondern auf eine harmonische Versöhnung von Tempo und Kontrolle, von Be- und Entschleunigung ausgerichtet, was sich beispielsweise in den Autobahn-Planungen artikuliert habe. Hingegen verfügte die DDR über keine ausgeprägte Zeitästhetik, sondern hing einem gänzlich linearen und rationellen Taktmodell von Zeit an, das diese als völlig beherrschbare Ressource codierte. Im Bereich der historischen Zeit verstand sich der Nationalsozialismus wiederum nicht so sehr als Aufbruch zu Neuem, sondern suchte nach einer Fusion von Gewesenem und Kommendem, band somit die Zukunft eng an die, freilich mystifizierte, Vergangenheit. Im Staatssozialismus herrschte hingegen eine ungebrochene Zukunftsgewissheit und der Glaube an ein lineares Fortschreiten der Zeit vor, in dem der Bruch zur Vergangenheit unumkehrbar schien. Durch Planifizierung und Prognostik schien sich zukünftige Zeit konkretisieren und beliebig beherrschen zu lassen. In der Diskussion wurde unter anderem die Frage nach quasi-religiösen Dimensionen und Mustern der Zeitwahrnehmungen und Zukunftsversprechen in den deutschen Diktaturen aufgeworfen. Auch wurde die Vergangenheitsorientierung des Nationalsozialismus debattiert und das Verhältnis von Zeitsemantiken und Zeitpraktiken sowie die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Zeitkulturen problematisiert.
Im Abschlussvortrag berichtete ERNST MÜLLER (Berlin) von dem langfristigen Projekt einer interdisziplinären Begriffsgeschichte, das am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin angesiedelt ist. Er plädierte dafür, die Spezifik des 20. Jahrhunderts in der Begriffsgeschichte nicht überzubetonen und Brüche nicht an den Jahrhundertzäsuren festzumachen. Das Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte reagiert nicht zuletzt auf den langfristigen Trend einer Verschiebung von philosophischen hin zu naturwissenschaftlichen Grundbegriffen. Interdisziplinäre Begriffe zeichnen sich dadurch aus, durch Übertragung und Übersetzung in verschiedenen Kontexten mit je abweichenden Bedeutungen zu zirkulieren. Die Möglichkeiten einer solcherart verstandenen Begriffsgeschichte demonstrierte Müller anschließend am Beispiel der Begriffe „Energie“ und „Information“. Der Energiebegriff wurde im 19. Jahrhundert als naturwissenschaftlicher Begriff innerhalb eines historischen Bedingungszusammenhanges, des Industriekapitalismus, profiliert. Eine interdisziplinäre Perspektive auf die Begriffsgeschichte erhellt, dass der naturwissenschaftliche Diskurs um Energie jedoch von den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ ausgeblendet wurde, obgleich die philosophische Debatte um Energie an den naturwissenschaftlichen Energiebegriff anknüpfte statt umgekehrt. Diese lässt sich daher auch als eine Auseinandersetzung um die Reichweite naturwissenschaftlicher Konzepte am Ende des 19. Jahrhundert verstehen. Während im Fall der Energie die diskursive Verflüssigung des Begriffs und seine wissenschaftliche Verfestigung sich gegenläufig-gleichzeitig entwickelten, stellte Müller beim Begriff der Information, der um die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Grundbegriff wurde, eine weitgehende Einheit von politischem und akademisch-disziplinärem Diskurs fest. Die Diskussion zielte vor allem auf den im Vortrag aufgeworfenen Aspekt der gegenläufigen Bedeutungsentwicklung von Begriffen in unterschiedlichen Kontexten und thematisierte unter anderem die mögliche Entleerung von Begriffen im Alltagsgebrauch sowie das Spannungsverhältnis zwischen Popularisierung und Verwissenschaftlichung von Begriffen.
In der Abschlussdiskussion sowie in den Diskussionen der einzelnen Vorträge trat immer wieder zutage, dass sich mit dem Projekt einer historischen Semantik des 20. Jahrhunderts ganz unterschiedliche Vorstellungen und Herangehensweisen verbinden. Ein grundlegender Unterschied ließ sich ausmachen zwischen Projekten, die bestimmte Begriffe als „Grundbegriffe“ für das Verständnis längerfristiger Prozesse im 20. Jahrhundert konzeptualisieren, und Projekten, die sich historisch-semantischer und begriffsgeschichtlicher Ansätze bedienen, um eine spezifische Dimension unter mehreren an einem Gegenstand zu beleuchten. Dementsprechend sprach vor allem Christian Geulen von der Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht als einer Methode, sondern eines genuinen empirischen Teilgebietes der historischen Forschung, das sich von den grundlegenden Begriffen unserer Gegenwartswahrnehmung herleite. Martin Sabrow hingegen wollte Begriffsgeschichte und historische Semantik eher als eine adäquate Möglichkeit unter mehreren verstanden wissen, sich Fragen des 20. Jahrhunderts methodisch zu nähern. Ob man zu der Historischen Semantik des 20. Jahrhunderts gelangen kann oder sich das Jahrhundert sinnvollerweise in unterschiedlichen historisch-semantischen Perspektiven betrachten lässt, erscheint daher nach diesem Workshop eine weiterhin zu debattierende Frage. Ebenso diskussionswürdig erscheint die Frage, ob das 20. Jahrhundert in semantischer Hinsicht tatsächlich eine genuine Epochencharakteristik aufweist und welchen spezifischen Wert historisch-semantische Sichtweisen auf dieses Jahrhundert daher haben könnten.
Konferenzübersicht:
Einführung: Kathrin Kollmeier (Potsdam)
1. Begriffe des Politischen im 20. Jahrhundert
Moderation: Maren Möhring (Potsdam)
Martina Steber (München): Den Konservatismus begreifen. Historisch-semantische Überlegungen zu einer politischen Ideologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Kathrin Kollmeier (Potsdam): Semantik der Nicht-Zugehörigkeit. Die Entstehung von Staatenlosigkeit im Europa der Zwischenkriegszeit
2. Transnationale Perspektivierungen
Moderation: Annelie Ramsbrock (Potsdam)
Dirk Bönker (Durham): Aneignung, Transfer, und Verwissenschaftlichung. Überlegungen zu einer transatlantischen Begriffsgeschichte von Militarismus im 20. Jahrhundert
Achim Saupe (Potsdam); „Innere Sicherheit“ und „law and order“. Die politische Semantik von Sicherheit und Ordnung in der BRD und in Großbritannien 1964-2001
3. Semantiken der Zeiterfahrung
Moderation: Achim Saupe (Potsdam)
Christian Geulen (Koblenz): Beschleunigung. Zur Trägheit eines Grundbegriffs im 20. Jahrhundert
Martin Sabrow (Potsdam/Berlin): Zur Politisierung der Zeit in den deutschen Diktaturen
4. Neue Ansätze der Historischen Semantik des Politischen
Moderation: Kathrin Kollmeier (Potsdam)
Ernst Müller (Berlin): Die diskursive Macht interdisziplinärer Begriffe
Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
1 Vgl. Zeitgeschichte der Begriffe? Perspektiven einer Historischen Semantik des 20. Jahrhunderts. Debatte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 75-114; Roundtable Discussion: Geschichtliche Grundbegriffe Reloaded? Writing the Conceptual History of the Twentieth Century, in: Contributions to the History of Concepts 7 (2012), Heft 2, S. 78-128.
2 Vgl. Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 79-97, URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Geulen-1-2010> (11.12.2013).