Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ ist seit 2009 tätig. Dabei handelt es sich um eine Kooperation der Universitäten Gießen, Bochum, Erlangen-Nürnberg und Kassel sowie des Herder-Instituts Marburg. Die Forschergruppe betrachtet Gewalt als menschliche Grunderfahrung und untersucht Gruppen, die Gewalt ausüben, von jugendlichen Gewalttätern bis zu Kriegerverbänden. Zeitlich reicht die Spannbreite von der Antike bis zur Gegenwart, räumlich umfasst sie West-, Süd-, Mittel- und Osteuropa ebenso wie ausgewählte Regionen Afrikas südlich der Sahara. In ihrem nunmehr zehnten Workshop, der am 19. und 20. September 2013 in Gießen stattfand, hat sich die Forschergruppe der Auseinandersetzung mit Emotionen gestellt. In diesem Kontext galt es, den Zusammenhang von Emotionen bzw. Emotionalisierung und (kollektiver) Gewalt, sowohl in ihrer Androhung als auch in ihrer Anwendung, näher zu untersuchen.
Dabei standen zwei Anliegen im Mittelpunkt des Workshops, wie WINFRIED SPEITKAMP (Kassel) und CORA DIETL (Gießen) in ihren einführenden Worten betonten: Erstens sollte über die Interdisziplinarität der Forschergruppe hinaus auch nach Möglichkeiten transdisziplinären Austausches zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft gefragt werden. Zweitens sollte erörtert werden, inwieweit eine Verbindung zwischen historischer Emotionsforschung und historischer Gewaltforschung sinnvoll und fruchtbar ist. Wichtig hierfür waren vor allem Fragen nach der Bedeutung von Emotionen für die Gemeinschaftsbildung, ihr Zusammenspiel mit bzw. Einfluss auf Gewalthandlungen sowie nicht zuletzt die Frage, wie Emotionen überhaupt zu fassen sind, welche soziologischen, kulturellen, kognitiven oder auch physiologischen Aspekte sie umfassen, welche historischen Spezifika dabei zu beachten sind und in welchem Verhältnis „Emotionalität“ und „Rationalität“ stehen. Literatur- wie GeschichtswissenschaftlerInnen stehen dabei immer wieder vor der Herausforderung, „reale“ Emotionen nicht fassen zu können, sondern nur deren Repräsentationen und Inszenierungen im Zusammenhang mit Gewalthandlungen in literarischen Texten, zeitgenössischen Dokumenten und sonstigen Zeugnissen nachgehen zu können. Auch hierfür wollte der Workshop nach Lösungen suchen.
Der Workshop wurde mit einem Vortrag von DAGMAR ELLERBROCK (Berlin) eröffnet, die anhand der Analyse kollektiver Gewaltpraktiken in der späten Weimarer Republik untersuchte, inwieweit Emotionstheorien aus Soziologie und Psychologie für die historische Forschung anschlussfähig und produktiv anwendbar sind. Sie stellte die Hypothese auf, dass gewaltsames Handeln ohne Emotionen nicht möglich sei. Darüber hinaus seien Emotionen eine zentrale Kategorie, um die soziale Welt zu ordnen und zu verstehen. Die Pfingstkrawalle, die 1931 in Karlsruhe stattfanden, dienten ihr als Beispiel, um zu zeigen, wie die Schwelle zur Gewaltanwendung durch die Interaktion und den Abgleich mit der eigenen Gruppe sinkt und welche Rolle hierfür „emotionale Energie“ spielt. Emotionen bestehen für sie dabei aus drei differenten Ebenen (körperlicher Affekt, Deutung und Handlung), deren Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit immer berücksichtigt werden müssen.
MATHIS PRANGE (Gießen) ging in seinem Vortrag auf die Relevanz öffentlich inszenierter Emotionen bei der Fehdeführung im spätmittelalterlichen England ein. Dabei stellte er fest, dass Gewaltverbrechen in diesem Kontext oft kalkuliert und geregelt abliefen und dass Emotionen bewusst als Kommunikationsmittel eingesetzt wurden. Er untersuchte ausgewählte Gerichtsfälle und kam zu dem Ergebnis, dass die Strafen für kaltblütigen Mord sehr viel höher waren als für affektiven Totschlag, der bei Nachweis von Notwehr sogar ganz ungesühnt bleiben konnte. Zudem sei der kontrollierte Einsatz von Emotionen für die adligen Fehdeführer wichtig gewesen, da diese sonst nicht standesgemäß und somit illegitim gehandelt hätten. Der Vortrag zeigte, dass Historiker auf zeitgenössische Diskurse angewiesen sind, um Emotionen hinreichend zu erfassen.
SASCHA REIF (Kassel) beschäftigte sich im Folgenden mit der Bedeutung von Ritualen, Gewalt und Emotionen für Kriegerkulturen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts. Auch bei diesen Gewaltgemeinschaften spiele der kontrollierte Einsatz von Emotionen eine wichtige Rolle für ihr soziales Handeln. Kriegerische Fähigkeiten und Aggressivität seien von den El Moran (junge Männer, Krieger) im sogenannten „game of brag and bluster“, das nach bestimmten Regeln ablief, meist offen zur Schau gestellt worden, extreme Gewaltanwendung hingegen sei von den Elders (ältere Männer) der Gemeinschaft sanktioniert worden. Dass diese ostentative Aggressivität ihren Zweck durchaus nicht verfehlte, zeigten zahlreiche zeitgenössische Fremdzeugnisse von Europäern, wie Reiseberichte, Briefe oder Tagebücher, in denen über Emotionen sowie Ängste und Sorgen reflektiert wurde.
CHRISTINE HARDUNG (Kassel) stellte ihre Untersuchungen zur Macht von Emotionen im Entstehungsprozess einer imaginierten Gewaltgemeinschaft, der Anti-Sklaverei-Organisation Initiative de Résurgence du mouvement Abolitionniste en Mauritanie (IRA, Mauretanien), vor. Obwohl die hratin (Unfreie) 50 Prozent der mauretanischen Bevölkerung ausmachten, würden sie von der freien Oberschicht unterdrückt. Die IRA habe es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die Sklaven zu befreien – nicht zuletzt auch aus ihrer Unsichtbarkeit – und ihnen die Angst vor ihren ehemaligen Herren, der Polizei und Gott zu nehmen. Diese müssten dann in einer Art zweiter Sozialisation erst lernen, mit ihren Emotionen umzugehen und diese zu deuten. Eine Besonderheit der frühen Anti-Sklaverei-Bewegung sei gewesen, neben dem besonderen Gewaltpotential ihrer Gruppe immer auch deren Gewaltfreiheit zu propagieren, was jedoch die Regierung und die freie Oberschicht ihrerseits nicht davon abgehalten habe, besonders die vermeintliche Gewaltbereitschaft dieser imaginierten Gewaltgemeinschaft hervorzuheben. Die Bedeutung der Frage, ob Gewaltandrohung ohne tatsächliche Gewaltanwendung über längere Frist funktionieren kann, werde vor allem in der jüngsten Entwicklung der IRA deutlich, da sich Splittergruppen gebildet hätten, die Gewaltanwendung nicht mehr grundsätzlich ausschließen.
In seinem öffentlichen Abendvortrag erörterte JÖRG BABEROWSKI (Berlin) das Vorgehen der „Tätergemeinschaft“ im Stalinismus, die nicht zuletzt auch eine „Angstgemeinschaft“ darstellte. Er plädierte dafür, die Handlungskontexte der Gewaltanwendung und des Terrors näher zu betrachten, damit auch die Eigenlogik der Gewalt verstanden werden könne. Es sei demnach nicht unbedingt notwendig, genau zu wissen, was eine Emotion ist. Viel wichtiger sei es, durch eine dichte Beschreibung der jeweiligen Situation herauszufinden, was ein Mensch in einer bestimmten Situation für eine Emotion hält und wie er diese deutet und bewertet. Stalins rücksichtsloses Vorgehen und sein Verhalten in Krisensituationen sollten seine absolute Macht demonstrieren, seine Gegner in Schrecken versetzen und seine Anhänger auf den gewünschten Gewaltkurs einschwören. Besonders die Willkür seiner Gewaltanwendung, der jeder zum Opfer fallen konnte, zerstörte langfristig die Ordnungs- und Erwartungssicherheit in der Bevölkerung. Eine allgemeine Angst blieb noch über Stalins Tod hinaus in den Köpfen und Körpern verhaftet. Am Beispiel des in Misskredit geratenen Politikers Bucharin wurde gezeigt, welch kleinen Handlungsspielraum selbst Stalins Parteifunktionäre hatten – wollten sie selbst nicht zum Opfer werden, mussten sie sich den Tätern anschließen, Widerstand und Kritik waren keine Option.
Den Zusammenhang zwischen Zorn und exzessiver Gewalt in der mittelalterlichen Artusliteratur erklärte TITUS KNÄPPER (Gießen) am Beispiel des Prosa-Lancelot. Im Gegensatz zum frühen deutschen Artusroman, in welchem extreme Gewalt nur zum Einsatz kam, wenn gegen unhöfische Gegner gekämpft wurde, finden im Prosa-Lancelot zahlreiche brutale und blutige Kämpfe auch im höfischen Kontext statt. Die Ritter scheinen den agonalen Wettkampf und den Sieg über ihren Gegner sichtlich zu genießen, nicht selten spielen hierbei Zorn und Freude gleichermaßen eine Rolle. Wird der Zorn maßvoll eingesetzt, so könne er zur Wiederherstellung der Gerechtigkeit und somit der Freude am Hof dienen. Doch zeichneten sich die Ritter, allen voran Lancelot selbst, durch ihre Affinität zu übermäßigem Zorn aus, was zum Problem werde. Gewalt gelte hier zwar als legitimes Mittel der Konfliktlösung, dies setze jedoch höfische Affektkontrolle und rationales Handeln voraus. Wo diese Prinzipien vernachlässigt werden, so zeigte der Vortrag, werden die Artusritter selbst zur größten Gefahr für ihre Mitmenschen.
ANN-SOPHIE STAIGER (Gießen) beschäftigte sich in ihrem Vortrag am Beispiel der mittelalterlichen Erzählung Karl und Ellegast sowohl mit Gewaltgemeinschaften auf der Handlungsebene als auch mit der Gruppe der Rezipienten, die unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls zu einer Art Gewaltgemeinschaft werden können. Zudem wurden rhetorische und narratologische Strategien der Emotionalisierung untersucht. In der Erzählung werde mit den Erwartungen der Rezipienten gespielt, da die vermeintlich verbrecherische Gruppe der Räuber erst durch Karl den Großen negativ bewertet, im Laufe der Handlung von diesem jedoch durch Nachempfinden ihrer Situation rehabilitiert werde. Es handele sich hier um ein Spiel mit den Erwartungen des Rezipienten, der bereits ein gewisses Vorwissen über Räuber mitbringe. Zur Gewaltgemeinschaft würde die Gruppe der Rezipienten dann, wenn diese zum Beispiel durch gemeinschaftliches Lachen über eine komische Szene die erzählte Gewalthandlung bejahten und somit legitimierten.
Dass Zorn und Gewalt für die Kampfpartnerschaften in Heinrichs von Veldeke Eneas eine wichtige Rolle spielen, zeigte CHRISTOPH SCHANZE (Gießen). Zentrale Fragen des Vortrags waren, in welchem Verhältnis Kampfzorn und gemeinschaftliche Gewaltanwendung zueinander stehen und welchen Effekt ihr Zusammenspiel für die jeweiligen Kampfpartner hat. Auffällig bei den untersuchten Beispielen war erstens das tragische Scheitern der verschiedenen Kampfpartnerschaften, die aus Freunden oder Verwandten bestanden, und zweitens das affektive Verhalten und die hieraus resultierende exzessive Gewalt nach dem Tod eines Kampfpartners. Diese Kontrollverluste führten oft aus einem nichtigen Streit in die Katastrophe. Zorn erscheine hierbei meist in negativem Licht: Turnus, der Hauptgegner des Eneas, scheitere am Ende nicht zuletzt aufgrund seiner Impulsivität und Affinität zu übermäßigem Zorn im Kampf. So bleiben die Kampfpartnerschaften im Eneas selbst ambivalent: Einerseits zeigten sie Exempel für Freundschaft, die über den Tod hinausgehen, andererseits verleiteten sie in Extremsituationen zu unbedachtem, übermütigem Verhalten.
Den Abschluss des Workshops bildete der Vortrag von WERNER RÖCKE (Berlin), der über die Teufelsdarstellungen im spätmittelalterlichen Redentiner Osterspiel sprach. Die Hölle als „Probebühne der Gewalt“ biete dabei einen Raum, dessen Gewaltpotenzial unerschöpflich scheint. Die Teufel lebten hier in einer paradoxen Gemeinschaft: Auf der einen Seite würden sie immer wieder durch Gewalt bedroht bzw. drohten sie sich gegenseitig Gewalt an, auf der anderen Seite werde ihre Gemeinschaft gerade durch die Anwendung von Gewalt zusammengehalten, sie sei konstitutiver Bestandteil derselben. Zudem bildeten die Teufel in gleicher Weise eine Art Lachgemeinschaft; Zorn und Schadenfreude stellten somit die zentralen Affekte der Teufel dar. Eine Eigenart des Redentiner Osterspiels sei, dass Luzifer selbst zu einer komisch-grotesken Figur werde, durch Inversion würden die Erwartungen an ihn negiert, durch höhnischen Spott mit seiner Übermacht gespielt. Die Rezipienten selbst bildeten nun eine Lachgemeinschaft, da die befreiende Komik des vermenschlichten Luzifers bewirke, dass das teuflische Bedrohungspotential verloren gehe.
Gewalt als wichtigstes Medium sozialer Ordnung ist jeder Gesellschaft bzw. Gemeinschaft auf die eine oder andere Art und Weise eingeschrieben. Die dichte Beschreibung und Deutung der Emotionen, die hierbei für die Betroffenen eine Rolle spielen, helfen dabei, der Eigenlogik der Gewalt auf die Spur zu kommen und sie besser zu verstehen. Vor allem Zorn, Angst und Freude sowie die Frage nach dem angemessenen Maß an Emotionalität in einer (potentiellen) Gewaltsituation standen im Mittelpunkt der Vorträge. Der Workshop zeigte, dass es nicht in erster Linie vermeintlich „reale“ Emotionen sind, denen Forschung nachspüren kann, sondern dass es gerade das Zusammenspiel von strukturellen und situativen Faktoren ist, welches die Repräsentationen und Inszenierungen von Emotionen im Kontext (kollektiver) Gewalthandlungen wirkmächtig – und somit für uns relevant – werden lässt.
Konferenzübersicht:
Cora Dietl / Winfried Speitkamp (Gießen / Kassel), Eröffnung des Workshops und Einführung
Dagmar Ellerbrock (Berlin), Spaß und Lust, Aggression und Wut. Helfen Gefühle, historische Gewaltpraktiken zu verstehen?
Mathis Prange (Gießen), Killing in Cold Blood? Gewalt und Emotionen im spätmittelalterlichen England
Sascha Reif (Kassel), Ritual, Gewalt und Emotion. Kriegerkulturen im Ostafrika des 19. Jahrhunderts
Titus Knäpper (Gießen), Off myn truw, ich han alle die erschlagen die ich funden han. Zorn und exzessive Gewalt im 'Prosa-Lancelot'
Jörg Baberowski (Berlin), Im Rausch der Gewalt. Tätergemeinschaften im Stalinismus
Christine Hardung (Kassel), „Die Angst hat die Seite gewechselt“. Zur Macht von Emotionen im Entstehungsprozess einer imaginierten Gewaltgemeinschaft (Mauretanien)
Ann-Sophie Staiger (Gießen), Das Spiel mit den Emotionen des Rezipienten. Vom Zu-Hörer zum Mit-Täter
Christoph Schanze (Gießen), des hete Turnûs grôzen zoren. Kampfzorn, Gemeinschaftshandeln und Gewaltkaskaden im Eneas Heinrichs von Veldeke
Werner Röcke (Berlin), Höllengelächter und Verlachen des Teufels. Inversionen von Lach- und Gewaltgemeinschaften im geistlichen Spiel des Spätmittelalters
Cora Dietl / Winfried Speitkamp (Gießen / Kassel), Abschlussdiskussion und Kommentar