Was haben ägyptische Handwerker im archaischen Griechenland mit württembergischen Protestanten im Palästina des 19. Jahrhunderts gemein? Sie waren als Migranten zentrale Träger von tradiertem Wissen und konnten so auf die Gesellschaften ihrer Zielländer dauerhaften Einfluss ausüben. Diesen Aspekt des Wissenstransfers durch Migration thematisierte das Kolloquium des Stuttgarter Arbeitskreises für historische Migrationsforschung am 17. Januar 2014 in einer transkulturellen und epochenübergreifenden Perspektive. Ein Ziel der Tagung war es dabei, Migration – auch angesichts von Debatten über demographischen Wandel und das Für und Wider von (qualifizierter) Zuwanderung – als Erfolgsgeschichte sowohl für die Migranten als auch für die Aufnahmegesellschaften zu sehen.
Nach der kurzen Einführung in das Thema durch Leif Scheuermann (Erfurt) machte IRIS VON BREDOW (Stuttgart) den Auftakt. Mit einem praxeologischen Ansatz untersuchte sie den Technologietransfer zwischen Ägypten und Griechenland in der archaischen Zeit. Grundsätzlich müssen als Träger des Kulturtransfers griechische Söldner sowie etwa ab dem 7. Jahrhundert v.Chr. auch Händler angesehen werden. Den Hauptbeitrag leisteten diejenigen, die sich in Ägypten wenigstens zeitweilig niederließen und Karriere machten. Durch deren Zugang zu ägyptischen Schriften über Architektur einerseits, andererseits durch Kontakte in die Heimat und Remigration (wobei wahrscheinlich ägyptische Handwerker mitgeführt wurden) fanden Baukonzepte ägyptischer Herkunft Verbreitung im griechischen Raum. Auffällig sei dabei zweierlei: Erstens seien jene Konzepte auch von Ingenieuren, die sicher keine (direkten) Ost-West-Kontakte pflegten, übernommen worden. Zweitens aber sei die ägyptisch inspirierte Architektur originär griechischen Zwecken unterworfen worden. Zwar wurden gerade Sakralbauten von ägyptischer Bautechnik geprägt, ein damit einhergehender ‚Göttertransfer‘ lässt sich jedoch nicht nachweisen.
Anschließend widmete sich MICHAEL PANDEY (Stuttgart) der Tragödie „Exagoge“ des Diasporajuden Ezeckiel. Dass es sich bei der „Exagoge“ um die einzige uns – allerdings nur sehr fragmentarisch – überlieferte jüdische Tragödie handelt, ist zweifelsohne Besonderheit genug. Zunächst zeichnete Pandey die Entwicklung der Tragödie vom 5. bis zum 2. Jahrhundert v.Chr. nach, wobei er auch die Ausbreitung des griechischen bzw. späterhin griechisch-römischen Stadtideals, in dem Theaterbauten eine wichtige Rolle spielten, nicht vergaß. Sodann analysierte er das jüdische Verhältnis zum Theater, das sich als ambivalentes herausstellte: Einerseits wurden Theaterbesuche als Zeitverschwendung betrachtet, da sie vom Tora-Studium abhielten, andererseits konnte der Genuss der Kunst kaum geleugnet werden. Durch diese Schritte konnte Pandey die Verschränkung jüdischer und griechischer Tradition zeigen. Indem Ezeckiel die Kapitel 1 bis 15 des Buches Exodus verarbeitete und dabei Moses stärker in den Mittelpunkt der Handlung stellte, blieb er der Tragödientradition, die mythische Stoffe aufgriff und einen Protagonisten ins Zentrum der Darstellung rückte, treu. Zugleich aber war die Verwendung jüdischer Themen etwas noch nicht Dagewesenes. Die „Exagoge“ belegt mithin einen Wissenstransfer ohne Aufgabe der eigenen Tradition des Verfassers. Einzig eine Frage blieb offen: Ob angesichts der Überlieferung der „Exagoge“ durch Schreiber wie Eusebius von Caesarea und Clemens von Alexandria womöglich von einem Rücktransfer in griechisch-römische und / oder von einem Weitertransfer in christliche Kontexte gesprochen werden kann.
SABINE HOLTZ (Stuttgart) erörterte Akteure des Wissenstransfers zwischen Württemberg und Palästina im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand in Württemberg ein starker, aus Kritik an den Amtskirchen resultierender Auswanderungswille. Da 1841 durch den Einsatz der preußischen und der englischen Krone das erste evangelische Bistum in Jerusalem gegründet worden war, waren die Voraussetzungen für die Templer und die von der „Basler Mission“ Geprägten an ihrem Zielort hervorragend. Wie Holtz vor allem am Beispiel der Familie Schneller und dem von ihr über mehrere Generationen geleiteten Syrischen Waisenhaus in Jerusalem vorführte, wurde Palästina für die Einwanderer rasch eine zweite Heimat, die Immigranten ihrerseits aber zu einem wichtigen Entwicklungsmotor in den Bereichen Bildung und Wissenstransfer. Indem die württembergischen Einwanderer dennoch nie den Kontakt zur alten Heimat verloren, ihre Kinder zur schulischen und akademischen Ausbildung zurückschickten und dadurch über Generationen hinweg auch in Württemberg und dem restlichen Deutschland Beziehungen in höhere (Bildungs-)Schichten knüpften, mithin einen sozialen Aufstieg erlebten, lässt sich an den vielfältigen Beziehungen zwischen Württemberg und Palästina eine vieldimensionale Verflechtungsgeschichte1 nachvollziehen.
Danach konzentrierte sich THOMAS SCHUETZ (Stuttgart) auf Spitzbögen als Beispiel für Technologietransfers. Der regelmäßige, flache Spitzbogen wurde bereits im 8. Jahrhundert in Arabien gebaut. Eine Verschriftlichung dieser Bautechnik fand jedoch erst im 13. Jahrhundert durch Villard de Honnecourt statt. Es stellt sich die Frage, wie dieser Technologietransfer von der arabisch-islamischen Architektur ins europäische Abendland erfolgte. Der Schlüssel zur Beantwortung liegt in „Zonen des nachhaltigen Austausches“, die sich durch die arabische Expansion und die normannische Eroberung Siziliens, aber auch durch die Kreuzzüge und die Reconquista ergaben. Besonders im westislamischen Raum waren die Bauhandwerker vorwiegend Christen verschiedener Bekenntnisse, die das fertige arabische Artefakt recht umstandslos übernahmen. Während indes in Arabien Handwerkstradition in der Familie bewahrt wurde, war die Gesellenwanderung im christlich-europäischen Raum längst die Norm. So konnte sich der Spitzbogen auch in diesem Kulturraum ausbreiten, obgleich die Möglichkeit des Wissensaustauschs zeitlich begrenzt war und durch Ereignisse wie die Vertreibung der Muslime von der iberischen Halbinsel ihr Ende fand.
Den Abschluss bildete NATALIA PFAUs (Stuttgart) Vortrag über Johann Georg Gmelin. Am Schicksal des Tübingers zeigte sie auf, an welche Grenzen das Migrationsphänomen von gezielter Anwerbung qualifizierten Personals stoßen kann. Die 1724 gegründete Petersburger Akademie der Wissenschaften sollte ein Modernisierungsmotor sein, doch es fehlte an geeigneten Köpfen. So wurden Forscher aus dem Ausland, insbesondere auch Deutsche, angeworben, darunter etwa Leonard Euler, aber auch Gmelin. Letzterer nahm an der Großen Nordischen Expedition zur Erforschung Sibiriens teil. Der Zar, dem die Akademie direkt unterstellt war, wollte die Erkenntnisse der Expedition eifersüchtig zurückhalten, statt sie der wissenschaftlichen Debatte zur Verfügung zu stellen. Dies führte zu Streitigkeiten um Publikationsrechte und -möglichkeiten der Erkenntnisse. Zugleich waren die zugezogenen Forscher, wiederum insbesondere die Deutschen, aus innenpolitischen Gründen für Russland schwierig zu halten. Gleichwohl belegt gerade die Sibirienexpedition, wie fruchtbar die Arbeit der angeworbenen Wissenschaftler sein konnte.
Vor dem Auditorium entfaltete sich ein buntes, transepochales Tableau an Untersuchungsgegenständen und Ergebnissen. Dennoch ergaben sich mehrere Schwerpunkte. Iris von Bredow und Michael Pandey verband der altertumswissenschaftliche, Sabine Holtz und Natalia Pfau der landesgeschichtliche Ansatz. Thomas Schuetz und Iris von Bredow nahmen Technologietransfer in den Fokus. Insbesondere aber maßen, obwohl dies nur Sabine Holtz ausdrücklich im Vortragstitel ankündigte, alle Referenten den Trägern des Wissenstransfers das größte Gewicht bei. Ein Ergebnis teilten zudem alle Vorträge: Bei aller Verschiedenheit der Epochen und Phänomene entstand im Spannungsfeld von Bewahrung der eigenen Tradition und Kennenlernen bzw. Übernahme des Fremden stets Neues, das letztlich alle Beteiligten bereicherte.
Konferenzübersicht:
Iris von Bredow (Stuttgart), Technologietransfer von Ägypten ins archaische Griechenland
Michael Pandey (Stuttgart), Jüdische Tradition in griechischem Gewand. Die Tragödie „Exagoge“ des Ezeckiel
Sabine Holtz (Stuttgart), Württemberg in Palästina. Akteure des Wissenstransfers
Thomas Schuetz (Stuttgart), Baumeister und Muhandis. Technologietransfer zwischen Orient und Okzident am Beispiel der Bautechnik
Natalia Pfau (Stuttgart), Johann Georg Gmelin. Ein Württemberger an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg
Anmerkung:
1 Grundlegend Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 607-636; Michael Werner / Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), 30-50.