Brief und Kommunikation im Wandel. Formen, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits

Brief und Kommunikation im Wandel. Formen, Autoren und Kontexte in den Debatten des Investiturstreits

Organisatoren
PD Dr. Florian Hartmann, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.02.2014 - 22.02.2014
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Von
Hendrik Hess, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Auch jenseits der Debatte um die Bedeutung des Canossa-Ganges ist unbestritten, dass das 11. und beginnende 12. Jahrhundert eine Zeit vielfältigen Wandels war. Kirchenreform, Investiturstreit, der Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum sowie die insgesamt lang andauernde, bisweilen auch militärische Auseinandersetzung im Reich sind dafür nur die prominentesten Zeugen. Diese Entwicklungen wurden im Zuge des Reformpapsttums seit der Mitte des 11. Jahrhunderts vom Aufleben schriftlicher Kommunikation, und von einer Ausweitung der in dieser Kommunikation erfassten Öffentlichkeit begleitet. Die in diesem Kontext verfassten Briefe, Traktate, Heiligenviten und Chroniken, die manche unter dem Titel Streitschriften, subsumieren, erlauben einen spezifischen Einblick in die Gedanken, Argumente und Mentalitäten jener Elite, der die Umbrüche ihrer eigenen Gegenwart bewusst waren. Ob für diese Texte Begriffe wie „Propaganda“, „Publizistik“ oder „Öffentlichkeit“ angemessen sind, und was Öffentlichkeit in diesem Zusammenhang meint, bleibt auch nach jüngeren Studien unklar. Angesichts der oft zu generalisierend argumentierenden Forschung war es eines der Ziele der von Florian Hartmann in Bonn ausgerichteten Tagung, einen differenzierteren Beitrag zur Analyse der Funktion, des Einflusses, der Argumentation, der Wirkung und der Öffentlichkeit der Streitschriften zu leisten. Der Vorteil gegenüber älteren Forschungsansätzen lag dabei vor allem im kollektiven Zugriff auf diese komplexen Texte.

Die erste von insgesamt vier Tagungssektionen wurde durch die Vorträge von OLIVER MÜNSCH (Karlsruhe) und von THOMAS WETZSTEIN (Rostock) eröffnet. Während Münsch die Unkontrollierbarkeit und die fallweise Langlebigkeit von Gerüchten im Allgemeinen untersuchte, richtete Wetzstein ein grundsätzliches Augenmerk auf den oral-schriftlichen Mischcharakter der Kommunikation im 11. Jahrhundert. Heute seien nur noch Bruchstücke der Kommunikation überliefert, da die mündlich vorgebrachten Informationen der Boten dem Historiker notwendigerweise verborgen blieben, obwohl gerade in diesen separaten Botschaften in den meisten Fällen der Kern der Kommunikation gelegen habe. Zudem wies Wetzstein auf das weitgehende Fehlen originaler Überlieferung und eine mögliche Überarbeitung der Briefe bei der Aufnahme in Briefsammlungen hin. Beschlossen wurde die erste Sektion durch den Versuch von CHRISTIAN HEINRICH (Tübingen), der seit Carl Mirbt bestehenden Vorstellung darüber, was eine „Streitschrift“ ist, eine differenzierte Definition gegenüberzustellen. Als Kriterien für die Charakterisierung als Streitschrift nannte er etwa eine überschaubare Länge, die Intention, Öffentlichkeit zu erreichen, situativ eingesetzt zu werden und im Streit Stellung zu beziehen. Beendet wurde der erste Tag mit einem öffentlichen Abendvortrag von RUDOLF SCHIEFFER (Bonn/München), der Deutungen, Interpretationen und Forschungstendenzen in Bezug auf den Investiturstreit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts skizzierte.

Die Beiträge der zweiten Sektion konzentrierten sich auf einige spezifische Entstehungskontexte der Streitschriften. JOCHEN JOHRENDT (Wuppertal) verwies auf die neuen Ausdrucksformen der päpstlichen Kanzlei im Diktat und in den Bullen, die den eigenen Ausdruckswillen und eine aktive Erneuerung des Papstbildes belegten. GERHARD LUBICH (Bochum) erkannte im Vergleich zwischen den Briefen Heinrichs IV. und Heinrichs V. eine zunehmende Hinwendung zur Allgemeinheit. Während Heinrich IV. in den Briefen noch Einzeladressaten individuell benenne, formuliere der Sohn Briefe an alle Getreuen. Dem entspreche auch die um etwa 50 Prozent höhere jährliche Produktion an Urkunden. MATTHIAS SCHRÖR (Düsseldorf) illustrierte am Beispiel Hezilos von Hildesheim die kommunikative Strategie eines Reichsbischofs, die auch wegen des bisweilen codierten Inhalts in diplomatischer Zurückhaltung und im Lavieren zwischen den Parteien zum Ausdruck komme. Abschließend betonte SITA STECKEL (Münster) den professionellen Charakter der Brieflehre, der in Briefsammlungen dokumentiert werde. Für das spätere 11. Jahrhundert sei außerdem eine zunehmende Ausrichtung der Briefinhalte auf Invektiven zu beobachten. Da noch in den Briefsammlungen zu Beginn des 11. Jahrhunderts die gütliche Vermittlung als Strategie der Konfliktlösung im Mittelpunkt gestanden habe, bewertete sie ihren Befund als eine Begleiterscheinung des Investiturstreits.

Die dritte Sektion rückte schließlich die Pluralität der Streitschriften in den Mittelpunkt, um gattungsspezifische Charakteristika der Streitschriften zu erfassen. Zunächst widmete sich ROLAND ZINGG (Zürich) mit Anselm von Canterbury einem der bekanntesten Briefschreiber des 12. Jahrhunderts. Durch die nachträgliche Anlage seiner Briefsammlung habe Anselm ein Kunstprodukt geschaffen, das vor der Öffentlichkeit die Person und die Fähigkeit des Autors nicht uneitel habe belegen sollen. WILFRIED HARTMANN (München) untersuchte mit Sigebert von Gembloux einen der profiliertesten und am breitesten rezipierten Autoren von Streitschriften. Dessen Autorschaft des Tractatus de investutura episcoporum zog Hartmann in seinem Beitrag jedoch in Zweifel. EUGENIO RIVERSI (Bonn) illustrierte am Beispiel der beiden Werke Bischof Rangers von Lucca die Spannbreite der „Streitschriften“ insgesamt. Ein vergleichender Zugriff auf die Libelli de lite sei durch eine kombinierte Untersuchung der verschiedenen Ebenen von Gattung, Texttyp und von thematischen Ketten möglich. Dieser komplexe Ansatz ermögliche es etwa, die Vita metrica Anselmi Rangers als außerordentliche textuelle Struktur zu begreifen, die dialogisch geprägt sei. GEORG STRACK (München) stellte in seinem Beitrag die grundlegende Frage nach dem Verhältnis von Redekunst und Wahrheit. In diesem Zusammenhang befasste er sich mit einigen öffentlichen Reden, die in Rangers Vita metrica Anselmi und in den Ad Heinricum IV. imperatorem libri septem Benzos von Alba zitiert bzw. fingiert werden. Abschließend wurde der Beitrag des kurzfristig ausfallenden NICOLANGELO D’ACUNTO (Mailand) verlesen, der anhand der Briefe Petrus Damianis die bewusste Einbindung einer breiteren, über die in der Salutatio genannten Adressaten weit hinausgehende Öffentlichkeit der Briefe nachzeichnete.

Die letzte Sektion griff unterschiedliche Streitthemen und Argumentationsformen der Streitschriften auf. MATTHIAS BECHER (Bonn) verwies auf die bereits im frühen Briefwechsel zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. erkennbaren tiefen Spannungen. Diese zeigten schon zu diesem Zeitpunkt deutlich die Entschlossenheit des universal denkenden Papstes und machten daher auch die Unvermeidbarkeit eines späteren Konfliktes wahrscheinlich. ANJA-LISA SCHROLL (Bonn) richtete den Fokus auf die Rezeption des Cadalus-Schismas bei gregorianischen und wibertinischen Schreibern. Das Schisma sei in einem konfliktgeladenen Diskurs flexibel von beiden Seiten für ihre historischen Argumentationslinien verwendet worden. KLAUS HERBERS (Erlangen) und LOTTE KÉRY (Bonn) widmeten sich abschließend kanonistischen Argumentationsformen. Herbers verwies auf die Bekanntheit der Papstbriefe des 9. Jahrhunderts im 11. und 12. Jahrhundert, deren Rechtsauskünfte damals an Relevanz gewonnen hätten; so sei bei Gratian außer Gregor I. kein Papst häufiger übernommen als Nikolaus I. Dabei dürfte sich das hinter der Rezeption stehende Interesse vom 9. bis zum 11. Jahrhundert gewandelt haben, von Ehebestimmungen hin zur Begründung des päpstlichen Primats. Kéry illustrierte anhand der kanonistischen Sammlungen des 11. Jahrhunderts und anhand ihrer erstaunlichen Verbreitung insgesamt ihre zunehmende Relevanz und machte außerdem ein erweitertes Publikum für sie wahrscheinlich.

Zuletzt fasste FLORIAN HARTMANN (Bonn) die Tagungsergebnisse und die immer noch offenen Fragen systematisch zusammen. Er machte auf die von vielen Beiträgern nachgewiesene − bald bewusste, bald unkontrollierbare − Einbindung von weiteren Kreisen der Elite in die Auseinandersetzung aufmerksam. Die vielfach belegten Medienwechsel zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit dokumentierten die Pluralität einer erkennbar intensivierten Kommunikation. Die Hybridität des Briefs mache ihn dabei zum Lieblingsgenre der Autoren: Briefe konnten Streit schlichten oder eskalieren lassen, sie konnten Autoren zum self-fashioning dienen, Rechtsauskünfte erteilen, sachlich argumentieren und invektiv polemisieren. Die zur Anwendung gebrachten und in der Kommunikation erforderlichen Kenntnisse beschränkten sich nicht auf die Stilistik. Die Beiträge hätten im Gegenteil gezeigt, wie vielfältig und bemerkenswert die Kenntnisse der Kanonistik, der jüngeren und fernen Vergangenheit, der Argumentation und Logik im Einzelfall gewesen seien. Dies habe eine profunde Ausbildung erfordert. Brieflehre avancierte daher zur Einführung in die gesellschaftlichen Streitfragen der Zeit. Durch ihre Überlieferung im schulischen Kontext böten die Briefe daher Anschauungsmaterial für sachliches Begründen, politische Empörung und strategisches Lavieren. Dieser Befund illustriere zum einen den rapide gestiegenen Bedarf an der Schulung im Streit, erinnere zum anderen aber an die quellenkritische Problematik dieser Briefe, da keiner von ihnen im Original erhalten sei. Am Ende seien zwar immer noch viele Fragen offen geblieben. Das Bestreben, der heterogenen Textgattung „Streitschrift“ über einen kollektiven Zugang näher zu kommen, sei gleichwohl sehr fruchtbar gewesen.

Gerade der kollektive Zugriff der Bonner Tagung erwies sich als sehr produktiv, was nicht zuletzt an der engagierten Diskussion der Beiträge abzulesen war. Mit Spannung darf daher auf die endgültige Ausarbeitung und Veröffentlichung der Beiträge im geplanten Tagungsband gewartet werden. Darüber hinaus dürfte es in Zukunft vielversprechend sein, den Ansatz auch interdisziplinär zu begreifen und die Zusammenarbeit mit Literaturwissenschaft und Philologie zu suchen.

Konferenzübersicht:

Sektion 1 – Der Brief als Medium der Kommunikation

Oliver Münsch (Karlsruhe), Gerüchte und ihre propagandistische Funktion

Thomas Wetzstein (Rostock), Von der Unmöglichkeit zu kommunizieren: Briefe, Boten und Kommunikation im 11. Jahrhundert

Christian Heinrich (Tübingen), Streitschriften: Literarische Gattung oder inhaltliche Kategorie?

Rudolf Schieffer (München/Bonn), Deutungen des Investiturstreits (Abendvortrag)

Sektion 2 – Kontexte der Briefproduktion

Jochen Johrendt (Wuppertal), Papstgeschichtliche Wende und produktive Zerstörung. Päpstliche Briefe im Zeitalter des Investiturstreits

Gerhard Lubich (Bochum), Briefe an den Vater. Publikum und Öffentlichkeit in den Korrespondenzen Heinrichs IV. und Heinrichs V.

Matthias Schrör (Düsseldorf), Zur brieflichen Korrespondenz der Reichsbischöfe im Investiturstreit

Sita Steckel (Münster), Streiten lernen? Schulische Aneignung von brieflichen Kommunikations- und Konfliktstrategien im 11. Jahrhundert

Sektion 3 – Pluralität der Streitschriften

Roland Zingg (Zürich), Streit ohne Streitschriften – die englische Investiturproblematik im Spiegel der Briefsammlungen Lanfrancs und Anselms von Canterbury

Wilfried Hartmann (München), Sigebert von Gembloux – ein radikaler Antigregorianer?

Eugenio Riversi (Bonn), Res tam nodosas. Gattungsgrenzen, Texttypologie und thematische Entfaltung am Beispiel der Werke Rangers von Lucca

Georg Strack (München), Brief und Predigt – zur (Inter-)Medialität von Kommunikation im Zeitalter der Kirchenreform

Nicolangelo D’Acunto (Mailand), Comunicare la riforma: canone epistolare e forme dell’argomentazione nelle lettere di Pier Damiani

Sektion 4 – Argumentative Auseinandersetzungen und Streitthemen

Matthias Becher (Bonn), Gregor VII. und Heinrich IV. vor dem Streit. Missglückte Kommunikation oder Provokation?

Anja-Lisa Schroll (Bonn), „...magis volens vincere effuso mortalium sanguine, quam sanctorum canonum gloriosissimo certamine.” Das Cadalus-Schisma aus wibertinischer und gregorianischer Sicht

Klaus Herbers (Erlangen), Briefsammlungen des 9. Jahrhunderts, Überlieferung und Gebrauch zur Zeit der papstgeschichtlichen Wende

Lotte Kéry (Bonn), Kanonistische Sammlungen des 11. Jahrhunderts und ihre „Adressaten“

Florian Hartmann (Bonn), Zusammenfassung


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