Geschichte als Erlebnis. Performative Praktiken in der Geschichtskultur

Geschichte als Erlebnis. Performative Praktiken in der Geschichtskultur

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2014 - 05.07.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Jureit, Hamburger Institut für Sozialforschung

Als 2004 der ebenso erfolgreiche wie umstrittene Film „Der Untergang“ in den Kinos lief und sich das deutsche Publikum von den letzten Tagen Hitlers im Führerbunker ergriffen zeigte, meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 1. Oktober 2004, dass sich unter den im Film mitwirkenden Statisten auch bekennende Rechtsextreme befunden hätten. Einer von ihnen, der einschlägig vorbestrafte Karl Richter, schildert seine schauspielerischen Erfahrungen als Adjutant von Generalfeldmarschall Keitel in einer rechtsextremen Monatsschrift als einmaliges und mitreißendes Erlebnis. Der Film zeige Hitler als einen „Menschen von Fleisch und Blut“ und diese „authentische Atmosphäre“ am Set habe alle Beteiligten emotional erfasst. Für ihn persönlich sei es besonders bewegend gewesen, „als Hitler mir die Hand schüttelte“. Leider sei diese Szene später aus dem Film herausgeschnitten worden.

Diese bemerkenswerte wie groteske Schilderung der Dreharbeiten bezieht sich zwar auf eine filmisch-fiktionale Darstellung von Vergangenheiten, trotzdem verweist sie auf Phänomene, die mittlerweile als „Living History“ oder als „Doing History“ enorme Popularität erlangt haben. Im Unterschied, wenn auch nicht ohne Bezug zur „Public History“ und zu den vielfältigen visuellen Formen von Geschichtsaneignungen steht hierbei vor allem das körperlich-sinnliche Nacherleben von Geschichte im Mittelpunkt. Ob es die berühmt-berüchtigten Mittelaltermärkte sind, auf die selbst verschlafene Provinzstädtchen nicht mehr meinen verzichten zu können, oder das allseits beliebte Wikingerlager, das mittlerweile auch als mehrwöchiger Selbsterfahrungstrip für ausgelaugte Top-Manager angeboten wird – Geschichte will offenbar zunehmend erlebt, gefühlt und körperlich wahrgenommen werden. Dieser Trend mag erstaunen und manchen auch irritieren – wissenschaftlich erforscht wurde er bisher recht wenig. Seit 2011 stellt sich das von der Volkswagenstiftung finanzierte Kooperationsprojekt „Living History: Reenacted Prehistory between Research and Popular Performance“ genau dieser Herausforderung. Historiker/innen, Kulturwissenschafter/innen und Archäologen/innen vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam und dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen untersuchen die Formenvielfalt von Live Acts, die sie im Sinne der Performanzforschung als individuelle wie kollektive Sinnstiftungen im Vollzug von Handlungen verstanden wissen wollen. Dieser konzeptionelle Rahmen prägte auch die Tagung, die vom 3.- 5. Juli 2014 unter dem Titel „Geschichte als Erlebnis. Performative Praktiken in der Geschichtskultur“ im ZZF in Potsdam stattfand. Das Tagungsprogramm war so heterogen wie die Szene selbst, die während der drei Tage ins Visier geriet: 18 Wissenschaftler/innen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen veranschaulichten die enorme Bandbreite an historischen Vergegenwärtigungen, die üblicherweise als „körperliche Geschichtspraktiken“ oder „historische Reenactments“ bezeichnet werden.

Mehrere Referenten/innen wählten für ihren Beitrag einen am Erlebnisbegriff orientierten Zugriff. BERNHARD TSCHOFEN (Zürich) beschäftigte sich mit einigen für die Geschichtskultur relevanten Konzepten des Erlebens, die seiner Meinung nach von populären Annahmen über vermeintlich authentische Orte bis zu ambitionierten Entwürfen über partizipative Geschichtsvermittlungen reichen. Besonderes Augenmerk legte er dabei auf das Verhältnis von Erleben und Emotionen. Der offenbar zunehmende Wunsch, Geschichte und Geschichten nachzuspielen und körperlich zu erleben, äußert sich vor allem als emotionales Bedürfnis, das Tschofen als „Gefühl des Originals“ bezeichnete. Die Faszination der Dinge spielt hierbei zweifellos eine kaum zu überschätzende Rolle, wie vor allem MADS DAUGBJERG (Aarhus) in seinem Abendvortrag überzeugend darlegen konnte. Wie Daugbjerg und Tschofen nahm auch FRANK BÖSCH (Potsdam) das emotionale Verhältnis von Vergangenem und Gegenwärtigem in den Blick und skizzierte in seinem Vortrag die Idee einer „Geschichte in situ“. Damit ist die Beobachtung verbunden, dass Menschen bewusst an öffentlichen Ereignissen oder Inszenierungen teilnehmen, da sie situativ annehmen, dass gerade diese Begebenheit geschichtsmächtig sein wird, und sie auf diese Weise zukünftig an der „großen“ Geschichte partizipieren können. An ausgewählten Beispielen diskutierte Bösch die Interdependenz von performativen Praktiken und retrospektiven Deutungsmustern und favorisierte für diese Form der Sinnstiftung den Begriff „Doing History“. Um konkrete Praktiken der Geschichtsaneignung ging es auch bei dem Vortrag von STEFANIE SAMIDA (Potsdam). Sie untersuchte Authentizitätsvorstellungen in der ur- und frühgeschichtlichen Reenactment-Szene und illustrierte ihre Erkenntnisse am Beispiel eines re-inszenierten Germanenfeldzuges aus dem Jahr 213. Die karnevalesk anmutende Veranstaltung zum 1800-jährigen Jahrestag des von Kaiser Caracalla durchgeführten Feldzugs diente Samida zur Erläuterung ihres in Anlehnung an die Arbeiten von Erika Fischer-Lichte entwickelten Forschungsansatzes. Unter dem Leitbegriff „Theatralität“ differenzierte sie vier analytische Ebenen: zum einen die konkrete Aufführung als unwiederholbare Bedeutungskonstituierung, zweitens die situative, aber gleichwohl wiederholbare Inszenierung des historischen Bezugsereignisses, drittens die leibliche Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern wie auch viertens die spezifische Wahrnehmungsdimensionen leiblich-affektiver Erfahrungen. Mit diesen Aspekten ist bereits ein analytischer Rahmen markiert, der auch für andere Varianten körperorientierter Geschichtsaneignungen hilfreich sein könnte, die hier leider nicht alle detailliert vorgestellt werden können: ANJA DRESCHKE (Siegen) zum Beispiel beschäftigte sich mit den zwischen Karnevalsvereinen und Reenactment-Gruppen changierenden „Kölner Stämmen“, die sich den historischen Lebenswelten von Awaren, Tataren, Nomaden, Hunnen, Mongolen und Indianern verschrieben haben. Als noch skurriler erscheinen die von RENÉ GRÜNDER (Heidenheim) untersuchten „Heidnischen Gemeinschaften“, die sich von neopaganen Ritualinszenierungen eine spirituelle Erfahrung erhoffen und so die Grenze zwischen rituellem (Nach-)Spielen und religiösem Erlebnis aktiv durchbrechen. Populärer sind da zweifellos touristische und mediale Formen der Geschichtsaneignung: Hier wäre das von SARAH WILLNER (Tübingen) vorgestellte alpine Wandererlebnis auf den Spuren Ötzis zu nennen, aber auch die von SUSANNE BRANDT (Düsseldorf) untersuchte mittlerweile einhundertjährige Vergangenheitsaneignung auf den ehemaligen Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges sowie die von ANTONIA DAVIDOVIC (Kiel) erläuterten Wissenszirkulationen und Deutungsverschiebungen auf dem Tempelhofer Flugfeld. In gewisser Weise gehören aber auch der boomende Markt des virtuellen Geschichtstourismus, den ANGELA SCHWARZ (Siegen) anhand von Computerspielen mit historischen Inhalten veranschaulichte, und die abendfüllenden fiktionalen Doku-Dramen, die GEORG KOCH (Potsdam) am Beispiel aufwendiger TV-Produktionen mit prähistorischen Plots analysierte, in diese Rubrik. Wie KARLHEINZ WÖHLER (Lüneburg) in seinem Vortrag darlegte, treffen in diesen und zahlreichen anderen Fällen gesellschaftliche Aushandlungs- und Deutungsprozesse auf Marktmechanismen einer auf Erlebnisreisen und Unterhaltungskonjunkturen ausgerichteten Tourismus- und Freizeitindustrie – eine Dynamik, der in der Produktion von historischem Wissen zweifellos eine immer größere Relevanz zukommt.

Ob in Leipzig, Wolgograd oder Gettysburg: Die internationale Reenactment-Szene bewegt sich nicht nur im Spannungsfeld von Erlebnis, Ritual und Spiel, sie konstituiert sich darüber hinaus über das Bedürfnis und über den Anspruch, die jeweils historischen Bezugsereignisse möglichst „authentisch“ nachzustellen. Folglich kursiert das A-Wort nicht nur in den einschlägigen Milieus, sondern dominierte auch die Diskussion auf der Potsdamer Tagung. SVEN KOMMER (Aachen) erläuterte Mechanismen der Wissensproduktion am Beispiel der Mittelalter-Szene und verwies darauf, dass Authentizitätsdiskurse dort immer auch der Abgrenzung von anderen Formen des rituellen Spiels dienen. MIRIAM SÉNÉCHEAU (Freiburg) veranschaulichte anhand der Sonnwendfeier im Berliner Grunewaldstadion 1933, wie es der Archäologie, der archäologischen Vermittlungsarbeit und der NS-Propaganda gelang, über einen immer wieder postulierten Authentizitätsanspruch emotionale Evidenzen herzustellen. Eine etwas andere Variante der emotionalen Inszenierung stellte JULIANE BRAUER (Berlin) vor. Anhand eines erlebnispädagogischen Projektes, das Schüler/innen dazu einlädt, eine DDR-Schulstunde des Jahres 1985 „authentisch“ nachzuerleben, problematisierte die Referentin das pädagogische Prinzip der erlebnisorientierten Bewältigung diktatorischer Vergangenheiten. Das vermeintlich „authentische“ Nachstellen von historischen Kontexten deutete die Referentin als emotionale Praxis, die in Fachkreisen zu Recht umstritten ist. Aus psychologischer Sicht, so ergänzte MANUELA GLASER (Tübingen) in ihrem Vortrag, ist die Emotionalisierung von historischen Inhalten als durchaus ambivalent einzuschätzen. Einerseits binden solche Vermittlungsformen den Rezipienten stärker an die präsentierten Inhalte, andererseits können sie auch zu Überforderungen führen und eine kritisch-reflektierende Haltung eher blockieren. Generell ist man sich auch in der Geschichtsdidaktik keineswegs einig darüber, ob und inwiefern Reenactments eine pädagogisch sinnvolle Vermittlungsform darstellen. EUGEN KOTTE (Vechta) reflektierte am Beispiel der im Oktober 2013 nachgestellten Völkerschlacht bei Leipzig das für diese Art von Großveranstaltungen signifikante Verhältnis von Wissensvermittlung, Lernpotential und Unterhaltungsqualität. Knackpunkt ist hier zweifellos die Suggestion, das vergangene Geschehen tatsächlich emotional erleben zu können – bei einer Gefechtsnachstellung wie der in Leipzig ein besonders absurdes Unterfangen, denn schließlich setzt das Spektakel ja voraus, den emotionalen Kern der historischen Kriegserfahrung zu verfehlen. Analytisch interessant ist tatsächlich die Forschungsperspektive, die WOLFGANG HOCHBRUCK (Freiburg) am Beispiel des Amerikanischen Bürgerkrieges entwickelte. Die kulturelle Praxis des Reenactments lässt sich in den USA in Form dramatisch-performativer Formate bis zu den Ereignissen selbst zurückverfolgen. Im Übergang von einer Veteranenkultur zum nachstellenden Spiel bis hin zur öffentlichkeitswirksamen Großinszenierung konstituiert sich eine genealogisch konnotierte Präsenz des Bürgerkrieges, die auf eine spezifische und bisher zu wenig analysierte Form gesellschaftlicher Vergegenwärtigungen historischer Erfahrungen verweist und die im speziellen Fall des Civil War einmal mehr verdeutlicht, was hier und andernorts zu gewinnen wäre, wenn man die Dinge auch generationentheoretisch analysierte.

Insgesamt hinterlässt die Tagung den Eindruck, dass es in diesem Themenfeld noch viel zu erforschen gibt. Die Vielfalt und Offenheit der Tagungsbeiträge ermöglichten eine fachübergreifende Besichtigung von einschlägigen Phänomenen, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede immer wieder Anreiz und Anlass zu konstruktiven Diskussionen lieferten. Das war anregend und zuweilen auch ertragreich, es scheint aber vor allem forschungspraktisch notwendig gewesen zu sein, denn schließlich erwies sich das bisher allenfalls grob skizzierte Forschungsfeld dabei als ebenso gewinnbringend wie theoriebedürftig.

Konferenzübersicht:

Geschichte erleben: Theoretische Ansätze

Frank Bösch (ZZF Potsdam), Geschichte als Erlebnis. Die körperliche Aneignung von Geschichte in der Moderne

Bernhard Tschofen (Universität Zürich), ‚Eingeatmete Geschichtsträchtigkeit‘. Konzepte des Erlebens in der Geschichtskultur

Körperliches Erleben

Stefanie Samida (ZZF Potsdam), Per Pedes in die Germania libera oder Zurück in die Vergangenheit

Subkulturelle Aneignungen

Anja Dreschke (Universität Siegen), Aus der Rolle fallen. Performative Praktiken der Aneignung von Geschichte zwischen Karneval und Reenactment

Rene Gründer (Duale Hochschule Baden-Württemberg, Heidenheim), Spirituelles Reenactment? Praxen und Legitimationsdiskurse neopaganer Religiosität

Mads Daugbjerg (Aarhus University), Shades of Gray: Vicarious Experience and the Power of Things in American Civil War Re-enactment

Historische Reenactments

Eugen Kotte (Universität Vechta), ‚Re-enactment‘ als kulturelle Praxis? Eine Nachlese zur Nachstellung der Völkerschlacht an ihrem 200-jährigen Jubiläum

Wolfgang Hochbruck (Universität Freiburg), Reenacting Gettysburg 1863–2013

Wissenschaft und Inszenierung

Miriam Sénécheau (Universität Freiburg), Living History, Archäologie und NS-Propaganda: Der ‚Germanenzug‘ zur Sonnwendfeier im Berliner Grunewaldstadion 1933

Sven Kommer (RWTH Aachen), Von ‚Braveheart‘ zur Archivarbeit: Die Wissenskultur der Mittelalterszene als performative Selbstermächtigung

Emotionen und Geschichte

Sarah Willner (Universität Tübingen), Fühlen mit Ötzi. Emotionale Stile des alpinen Wanderns und Konstruktionen prähistorischer Lebensrealitäten

Juliane Brauer (MPI für Bildungsforschung Berlin), Vom Eigensinn der Erinnerung: Doing history als emotionale Praxis

‚Einspielen‘ von Geschichte

Georg Koch (ZZF Potsdam), Vom Fund zur Figur. Lebendige Urgeschichte im Dokumentarformat seit 1970

Manuela Glaser (Institut für Wissensmedien Tübingen), Geschichte als Erlebnis: Darstellungsformen und ihre psychologische Verarbeitung

Historische Erlebnisorte: Virtuell und real

Angela Schwarz (Universität Siegen), „Erleben Sie Geschichte hautnah“: Inhalt und Nutzung von Vergangenheitskonstruktionen im Computerspiel

Karlheinz Wöhler (Leuphana Universität Lüneburg), Histourismus: Touristische Manifestationen und Erlebnismodi historischer Orte

Historische Erinnerungsorte

Susanne Brandt (Universität Düsseldorf), Gedenken auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges

Antonia Davidovic (Universität Kiel), Wissenszirkulation auf dem Tempelhofer Flugfeld

Abschlussdiskussion


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