HT 2014: Vom Verlust als Erfolg erzählen: Erfahrungen und Wahrnehmungen jüdischer Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert

HT 2014: Vom Verlust als Erfolg erzählen: Erfahrungen und Wahrnehmungen jüdischer Migrationsbewegungen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniel Ristau, Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, Universität Leipzig

Die Leitthemen des Göttinger Historikertags, „Gewinn“ und „Verlust“, bilden Grundtopoi der Geschichte von Juden und ihrer Rezeption. Besonders deutlich traten sie in den selbstbestimmten, vor allem aber den erzwungenen Migrationsprozessen von Juden im 20. Jahrhundert hervor. Diese standen im Mittelpunkt der von Simone Lässig (Braunschweig), Miriam Rürup (Hamburg) und Stefanie Schüler-Springorum (Berlin) organisierten Sektion „Vom Verlust als Erfolg erzählen“ der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts, die insbesondere nach Erfahrungen und Deutungen jüdischer Migration und dem Umgang damit fragte.1 Die Verflechtung von Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte bezüglich der jüdischen Migrationsgeschichte, so betonte Stefanie Schüler-Springorum in ihren einführenden Worten, bilde dabei das Band, das die einzelnen Sektionsbeiträge verbinde.

Bereits der erste Vortrag der Sektion zeigte deutlich, welchen Erkenntniswert die Verbindung von Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte im Kontext historischer Migrationsforschung eröffnet: CHRISTINE VON OERTZEN (Berlin) hinterfragte am Beispiel von nach 1933 in die USA und nach England emigrierten deutsch-jüdischen Akademikerinnen und ihren Netzwerken jenes Forschungsnarrativ von Verlust und Scheitern, die diese – als Frauen und Jüdinnen – im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen doppelt getroffen hätten. Die Emigration habe demnach meist das Ende ihrer beruflichen Laufbahn bedeutet. Ihre Auswertung von Fluchthilfekorrespondenzen der British und der American Association of University Women lege jedoch nahe, dass entgegen dieser langläufigen Vorstellung emigrierte jüdische Akademikerinnen zwar nicht immer, aber doch in vielen Fällen wieder in der Wissenschaft Fuß fassten oder sich zumindest neue Berufsfelder erschlossen.2 Erfahrungen der Deklassierung bildeten hierbei zwar oftmals schwierige Übergangsphasen. Trotzdem hätten die betroffenen Frauen das Ziel des beruflichen Wiedereinstiegs meist konsequent weiterverfolgt, wofür von Oertzen eine entschiedene, krisenerprobte Berufsidentität und den emanzipatorischen Willen der jüdischen Akademikerinnen ebenso wie das global operierende, finanziell unterstützende Akademikerinnennetzwerk anhand einzelner Fallbeispiele anführte. Nicht alle deutsch-jüdischen Akademikerinnen hätten sich bereits früh zur Emigration entschieden, weil sie oft ihre nächsten Verwandten nicht im Stich lassen wollten. Der Verlust jeglicher beruflicher Perspektive in Deutschland und Österreich habe schließlich aber doch den Anstoß zur dann immer seltener gelingenden Ausreise gegeben. Das eigentliche Scheitern bildete hier also den Anlass zur Migration. Obwohl sich die beruflichen Chancen insbesondere für ältere Frauen in der Migration auch aufgrund der vorher erfahrenen Deklassierung verschlechterten, gelang jüdischen Emigrantinnen selbst nach 1938 vor allem in den USA nicht selten ein beruflicher, oftmals sogar ungleich erfolgreicherer Wiedereinstieg.

ANNA MENNY (Hamburg) konzentrierte sich in ihrem Beitrag mit Blick auf Spanien in erster Linie auf zeitgenössische populäre und geschichtspolitische (Um-)Deutungen eines der für die Geschichte der Juden wirkmächtigsten Ereignisses am Übergang zur Neuzeit: der Ausweisung von Schätzungen zufolge 50.000 bis 100.000 Juden von der Iberischen Halbinsel im Jahr 1492.3 Bis Ende des 19. Jahrhunderts sei diese Vertreibung in Spanien als Erfolg oder zumindest historische Notwendigkeit der spanischen Nationswerdung gedeutet worden. An dieser nationalen Deutung hätten vor allem konservative, katholische und später franquistische Kreise bis weit ins 20. Jahrhundert hinein festgehalten. Mit den liberalen Reformen und dem mit der Niederlage im Spanisch-Amerikanischen Krieg eingetretenen Verlust des Kolonialreichs hielten jedoch in liberalen Zirkeln die Wiederentdeckung des jüdischen Erbes sowie die damit verbundene Deutung der Ausweisung der Juden als Verlust für die Nation Einzug. Das Ereignis sei dabei zum Teil gar als Auslöser für den Niedergang Spaniens in der Gegenwart interpretiert worden. Eine versachlichte, die Ausweisung als Fehler und Verlust anerkennende Debatte habe, so Menny, erst in den letzten Jahrzehnten eingesetzt. In der kollektiven Erinnerung der spanischen Juden sei die Ausweisung hingegen immer schon als Verlust der Heimat gedeutet worden. Einige der jüdischen Narrative, wie die Schlüssellegende, nach der die von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden die Schlüssel ihrer Häuser mitgenommen und über Generationen bewahrt hätten, wurden in die allgemeine spanische Verlusterzählung übernommen. Schließlich zeichnete Menny nach, wie die Deutung der erzwungenen Migration von 1492 und des Verlusts des sephardischen Erbes bis in die gegenwärtige Migrationspolitik und staatsbürgerliche Stellung der Juden in Spanien hineinwirkt.

VIOLA RAUTENBERG-ALIANOV (Berlin/Haifa) richtete in ihrem Vortrag den Blick auf geschlechterspezifische Dimensionen und Diskurse des Scheiterns von auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus nach Palästina emigrierten deutschen Jüdinnen und Juden, deren Zahl sich von 1933 bis 1939 auf fast 50.000 belief. Betrachteten die meisten Neuankömmlinge die Einwanderung auch aufgrund des Verlusts der Heimat und von gewohnten Sicherheiten keineswegs positiv, galt sie im zionistischen Diskurs des Jischuw grundsätzlich als Aufstieg – gerade auch für Frauen, die in Palästina das Hausfrauendasein hinter sich lassen und Teil des Arbeitsmarktes werden sollten. Vor diesem Hintergrund problematisierte Rautenberg-Alianov zunächst den schmalen Grat zwischen migrationsbedingter „normaler Anfangskrise“ und tatsächlichem „Scheitern“, das sie nach Stefan Zahlmann als „Bruch mit der bisherigen Lebenseinstellung“ definierte.4 In den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellte sie die Wahrnehmung der Einwanderer und die über diese geführten Diskussionen. Seien Frauen seitens der Einwanderungsbehörde neben jungen, gesunden Männern als potenzieller Teil des Arbeitsmarktes betrachtet worden, die Anfangskrisen und drohendes Scheitern zu überwinden in der Lage seien, galten alte, das heißt über 35 Jahre alte Männer als schwer zu vermittelnde Problemfälle. Auch auf der Ebene der individuellen Wahrnehmung der Einwanderer bildete das Scheitern angesichts erlebter „Proletarisierung“ durch den Verlust der gewohnten bürgerlichen Lebensweise sowie der Konflikte mit den alteingesessenen, überwiegend aus Osteuropa stammenden Juden ein zentrales Thema, wie Rautenberg-Alianov am Beispiel von Beschwerdebriefen deutscher Einwanderer überzeugend ausführte. Auch in der Selbstwahrnehmung lasse sich hierbei eine vergleichbare geschlechterspezifische Differenzierung von tapferen aufopferungswilligen Frauen und verbitterten alten Männern feststellen. Dass es keine weiblichen Dokumente des Scheiterns gäbe, so Rautenberg-Alianovs Schlussfazit, müsse jedoch keineswegs bedeuten, dass Frauen nicht scheiterten – möglicherweise auch deshalb, weil sich ihnen keine Gelegenheit bot, dies auszudrücken. Vielmehr zeige gerade die Verzahnung von Wahrnehmung und Erfahrung, wie stark das zionistische Narrativ der „tapferen“ Frauen letztlich auch auf diese und ihre Erzählungen einwirkte. So könne der Diskurs über die Einwanderer auch als Verlust betrachtet werden, über den als Erfolg erzählt werde.

Die Präsentation von KAREN KÖRBER (Berlin) zeichnete anhand der rund 220.000 zwischen 1991 und 2005 nach Deutschland eingewanderten russischsprachigen Juden, der sogenannten Kontingentflüchtlinge, zunächst die zwei verschiedenen Erwartungshorizonte nach, die die Bewertung von Erfolg und Verlust infolge dieser Migration beeinflussten: Beabsichtigte das politische Establishment durch die Aufnahme insbesondere eine Wiederbelebung des religiösen Lebens in den jüdischen Gemeinden, erhofften sich viele der nicht selten gut ausgebildeten Zuwanderer vor allem ein besseres Leben. Aus beiden Perspektiven fiel den jüdischen Gemeinden hierbei die Rolle einer Integrationsinstanz zu. Sie hätten sich aber bald mit all jenen, vor allem älteren Zuwanderern konfrontiert gesehen, die es „draußen“ auch aufgrund der Zugangsschranken zum deutschen Arbeitsmarkt nicht schafften. Sie seien mithin zu einem Ort der Gescheiterten geworden, die nicht selten Konflikte um Gemeindeposten austrugen. Anhand einer laufenden Studie des Jüdischen Museums Berlin zeigte Körber, dass im Gegensatz dazu gut ausgebildete, tendenziell aber eher säkulare Mitglieder der zweiten Generation erfolgreiche Statuskarrieren verfolgten, aber eben kaum in den Gemeinden wirkten und zudem vielfach nationale Mehrfachzugehörigkeiten ausbildeten. Körbers doppelte These: Entgegen der politischen Erwartungen, dass die Aufnahme ein neues deutsches Judentum befördere, habe sich eine neue Diasporagemeinschaft gebildet, wobei gerade die Gemeinden, die zur Heimat der Enttäuschten geworden seien, nicht als Gewinner in diesem Prozess verstanden werden könnten.

Abschließend präsentierte BJÖRN SIEGEL (Sussex) mit dem jüdischen Reeder Arnold Bernstein (1888–1971) ein Beispiel für den individualbiografischen Umgang mit erzwungener Migration und dadurch bedingtem Neuanfang. Bernstein, der nach dem Ersten Weltkrieg zum erfolgreichen transatlantischen Transportreeder aufstieg, verfasste zwischen 1962 und 1964 seine Memoiren, in denen er ein, alle einschneidenden Lebensereignisse und Unsicherheiten überdeckendes Erfolgsnarrativ darlegte. Gleichwohl, so hob Siegel hervor, gestaltete sich die Realität, mit der sich Bernstein vor allem nach 1933 konfrontiert sah, deutlich nüchterner: Nicht nur die zunehmende Ausgrenzung der Juden, sondern vor allem Bernsteins Verhaftung 1937 und die erzwungene Emigration in die USA zwei Jahre später kennzeichneten einen zunehmenden Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu Deutschland. Den Neuanfang in den USA, für den er auf alte Geschäftskontakte und Netzwerke anderer Emigranten zurückgreifen konnte, dominiere in der autobiografischen Perspektive ebenfalls das Motiv des alle anderen Erfahrungen überlagernden Erfolgs. Dabei auftretende Schwierigkeiten aufgrund von Problemen beim Restitutionsverfahren sowie mit seiner 1958 neu gegründeten Personenschifffahrtslinie, die mit seinem bislang geübten patriarchalischen Führungsstil nicht mehr in eins zu bringen gewesen sei, habe Bernstein jedoch allenfalls angedeutet. Dies, so Siegel, zeige, wie er die Deutungen der eigenen Geschichte für sich selbst und vor allem für seine Nachfahren zu beeinflussen versuchte.

In seinen beiden Kommentaren hob AXEL SCHILDT (Hamburg) zunächst den subjektiven Charakter von Gewinn und Verlust hervor, die diese Sektion über Themen mittlerer Reichweite erschließe. Deutlich sei gerade beim Blick auf die einzelnen biografischen Beispiele geworden, dass nicht nur vom Verlust als Erfolg, sondern eben auch umgekehrt, vom Erfolg als Verlust erzählt werden könne. Schildt hob die Vielzahl möglicher Perspektiven hervor, die die Pluralität von Erfahrung und Wahrnehmung als organisierendes Zentrum von Erzählungen ohne zu starke theoretische Grundlegungen eröffne. In Anlehnung an Günther Anders Axiom, dass er keine Biografie (vita), sondern lediglich einzelne Lebensabschnitte (vitae) habe5, betonte er zudem die unvorhergesehenen Weichenstellungen des Lebens, die gerade in der erzwungenen jüdischen Emigration im 20. Jahrhundert eine Grundelement bildeten. Oftmals sei es bei den darüber reflektierenden Erzählungen jedoch weniger bewusst um die Diskussion eines Verhältnisses von Verlust und Erfolg gegangen, als um die Betonung von Kontingenz prinzipiell offener, durchaus bereichernder Lebenswege von Menschen. Freilich habe auf diese Weise biografischer Verlust in Erfolg umgemünzt werden können. Insgesamt, so Schildt, erwiesen sich alle vorgestellten Themen und Perspektiven für die Biografie-, Generations-, Geschlechter-, Migrations- und Kulturgeschichtsforschung in besonderem Maße als anschlussfähig.

Eine kurze Schlussdiskussion konkretisierte nochmals einzelne Aspekte von Scheitern und Erfolg jüdischer Migrationsprozesse des 20. Jahrhunderts. Insgesamt führte die Sektion eindrucksvoll unterschiedliche, vielfach kontrastreiche Bezüge und Ebenen von Erfahrung und Wahrnehmung sowie der auch aus ihrem zeitlichen Entstehungskontext heraus zu betrachtenden Narrative von "Gewinn" und "Verlust" vor Augen, die zahlreiche Anregungen für weiterführende Forschungprojekte eröffnen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Simone Lässig (Braunschweig) / Miriam Rürup (Hamburg) / Stefanie Schüler-Springorum (Berlin)

Stefanie Schüler (Berlin), Begrüßung

Christine von Oertzen (Berlin), Doppelte Verliererinnen? Ausgewanderte Akademikerinnen und die Generalisierung des Scheiterns

Anna Menny (Hamburg), Zwischen Verlust und Bedrohung. Die Wahrnehmung jüdischer Migration in Spanien

Axel Schildt (Hamburg), Kommentar Teil 1

Viola Rautenberg-Alianov (Berlin/Haifa), „Zerbrochen an Leib und Seele“. Dimensionen und Diskurse des Scheiterns deutsch-jüdischer ImmigrantInnen in Palästina in den 1930er-Jahren

Karen Körber (Berlin), „Bei uns bleiben die, die es draußen nicht schaffen.“ Bilder und Geschichten vom Gewinnen und Verlieren. Die Einwanderung russischsprachiger Juden zwischen Recht, Repräsentation und Realität

Björn Siegel (Sussex), „…, denn mein einziges Kapital waren mein Name und mein Ruf…”. Arnold Bernstein und die Konstruktion der eigenen Erfolgsgeschichte vor und nach dem Nationalsozialismus

Axel Schildt (Hamburg), Kommentar Teil 2

Anmerkungen:
1 Vgl. die ausführliche Sektionsbeschreibung, online unter: <http://www.historikertag.de/Goettingen2014/events/vom-verlust-als-erfolg-erzaehlen-erfahrungen-und-wahrnehmungen-juedischer-migrationsbewegungen-im-20-jahrhundert> (5.11.2014).
2 Vgl. Christine von Oertzen, Strategie Verständigung. Zur transnationalen Vernetzung von Akademikerinnen, 1917-1955, Göttingen 2012.
3 Vgl. Anna Lena Menny, Spanien und Sepharad. Über den offiziellen Umgang mit dem Judentum im Franquismus und in der Demokratie, Göttingen 2013.
4 Stefan Zahlmann, Sprachspiele des Scheiterns - Eine Kultur biographischer Legitimation, in: Stefan Zahlmann / Sylka Scholz (Hrsg.): Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, Giessen 2005, S. 7-31, hier S. 13.
5 Günther Anders, Der Emigrant. Vitae, nicht vita, in: Merkur 16/173 (1962), S. 601-622.


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