Jenseits der Mediengeschichte. Zum Quellenwert historischer Zeitungen für kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Fragestellungen

Jenseits der Mediengeschichte. Zum Quellenwert historischer Zeitungen für kulturgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Fragestellungen

Organisatoren
Abteilung für Kulturgeschichte und vergleichende Landesforschung, Universität Vechta; Institut Deutsche Presseforschung, Universität Bremen
Ort
Bremen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2014 - 24.05.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Simon Sax, Institut Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

In den vier Sektionen Presse und Politik: neue Perspektiven (I.), Zeitungsanzeigen als Quellen der Kultur- und Alltagsgeschichte (II.), Presse und Wissenspopularisierung (III.) und Die Zeitung als Sonde: Archäologie ‚verschütteter‘ Themenfelder (IV.) diskutierten die Teilnehmer/innen die historische Presse als Quelle der kulturgeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Forschung. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung von Zeitungsarchiven beleuchteten sie die Erschließung wenig erforschter Felder und die mögliche Neubewertung des abgebildeten Themenspektrums.

Im ersten Vortrag zeigte ANDRÉ KRISCHER (Münster) am Beispiel der Gerichtsberichterstattung im frühneuzeitlichen England auf, dass die Presse, neben der Konstituierung einer kritischen Öffentlichkeit, durchaus retardierende Kräfte hervorbrachte. Er erläuterte die publizistische Praxis der regelmäßigen Berichterstattung über alle Phasen des Gerichtsverfahrens (Vorverhandlung, Hauptverhandlung, Verurteilung), die den Anschein von Verfahrenslegitimität erzeugt habe. Bei der Diskussion von Presseerzeugnissen mit herrschaftsstützenden Effekten grenzte er sich von dem britischen Historiker David Lemmings und dessen Formulierung der „Dark Side Of Enlightement“1 ab, der damit eine Presse im Dienst der Obrigkeit meinte. Krischer führte diese Deutung auf eine einseitige Rezeption der weitaus vielschichtigeren Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“2 von Jürgen Habermas im englischen Sprachraum zurück.

CHRISTINE VOGEL (Vechta) setzte am Beginn dieses Öffentlichkeitswandels an. Sie legte dar, wie die Repräsentation höfischer Öffentlichkeit in der sich formierenden Zeitungsöffentlichkeit die Alltagspraxis von Diplomaten beeinflusste. Am Beispiel der französischen Diplomatie im Osmanischen Reich zur Zeit Ludwigs des XIV. veranschaulichte sie, dass die Akkumulation von symbolischem Kapital qua Medienberichterstattung für Patronagenetzwerke von besonderer Bedeutung sein konnte und zur Herausforderung wurde.

Anhand der Affäre Calas und der Kontinentalsperre arbeitete ALIX WINTER (Potsdam) das Potenzial von Pressequellen zur Erschließung sich konstituierender transnationaler Öffentlichkeiten und ihre Bedeutung als Wegbereiter der Globalisierung heraus. Winter betonte den Aspekt der Intermedialität kultureller Verflechtungsprozesse, darum hob sie die Notwendigkeit hervor, neben Periodika auch Streitschriften und literarische Quellen in solcherlei Forschungen mit einzubeziehen – so könne der dürre Anteil verwendbarer Daten aus der Analyse umfassender Textkorpora sinnvoll ergänzt werden.

Einem gänzlich anderen Aspekt der frühneuzeitlichen Presse widmete sich SUSANNE LACHENICHT (Bayreuth). In ihrem Beitrag plädierte sie für eine größere Berücksichtigung der oftmals unterschätzten oder vernachlässigten Anzeigen in Zeitungen, Zeitschriften und Intelligenzblättern. Die Analyse der Anzeigeteile ließe Rückschlüsse auf den Konsum und die Konsumgewohnheiten der Bevölkerung im Verbreitungsgebiet des jeweiligen Mediums zu. Vergleichende Längsschnittstudien von Zeitungsanzeigen hätten das Potenzial, die Wirtschafts- sowie die damit verbundene Sozialgeschichtsschreibung zu revolutionieren, böten aber auch einen Mehrwert als Quellen der Alltags-, Kultur- und Politikgeschichte.

Seine Grundlagenforschung auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen Presse der Niederlande präsentierte JOOP W. KOOPMANS (Groningen). Er vollzog die Entwicklung der Zeitungsanzeigen seit dem Erscheinen der ersten Anzeige im Jahre 1624 nach. Dabei machte Koopmans explizit auf die Probleme der Texterkennung (OCR – Optical Character Recognition) bei der Umwandlung von Frakturschrift aufmerksam.

Der Beitrag von BERND KLESMANN (Köln) illustrierte den Quellenwert von Zeitungsanzeigen für die Stadtgeschichtsschreibung. Welche Bedeutung der Zeitung auf diesem Gebiet zukommt, führte er am Beispiel des Buchhandels und der Leserschaft in Köln um 1794 aus. So legte Klesmann dar, dass seine Zeitungsanalyse einen Überblick über die Angebote auf dem Buchmarkt, das Preis- und Lohnniveau der Bevölkerung sowie die öffentlichen Diskussionen in Köln am Ende des 18. Jahrhunderts liefere.

Den Themenwechsel von den Zeitungsanzeigen zur Popularisierung von Wissen vollzog SÜNNE JUTERCZENKA (Berlin) in ihrem Vortrag über die Konstruktion und Repräsentation des Forschungsreisenden in der europäischen Medienlandschaft. Sie beschrieb, wie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein transnational geprägtes Medienecho herausbildete und im Zuge dessen der ‚Entdecker‘ von einem breitem Publikum, insbesondere in Publizistik und Theater, rezipiert wurde. Der Beitrag von Juterczenka stellte auch einen Appel für die stärkere Berücksichtigung dieses intermedialen Zusammenhangs mit großer sozialer Reichweite dar.

Mit der Wissenspopularisierung durch Gelehrte setzte sich CHRISTIAN KUHN (Bamberg) auseinander. Er reflektierte über die publizistische Durchsetzung hegemonialer Bildungskonzepte mittels erbaulicher Literatur zur Haltung von Bienen und knüpfte damit zum Teil an die Ausführungen von André Krischer über die Produktion gegenaufklärerischen Wissens im öffentlichen Diskurs an.

Dass die Presse und die Aufklärung jedoch von gänzlich unerwarteter Seite Unterstützung erhielten, von pietistischen Geistlichen, zeigte KAI LOHSTRÄTER (Hamburg) in seinem Vortrag. Einige Gottesmänner ermutigten aktiv zum Zeitungslesen. Die dem zu Grunde liegende Argumentation erklärte Lohsträter wie folgt: Zeitungen, so die Geistlichen, böten erbauliche Exempel für Gottes Werk auf Erden und seien damit lesenswert. Alsdann stellte er die These auf, dies habe das Zeitungslesen auch in frommen Kreisen legitimiert und einer Popularisierung Vorschub geleistet. Folgerichtig sei die Zeitung auch aus religiösen Gründen zum Massenmedium geworden und das Narrativ der Säkularisierung müsse an entsprechender Stelle korrigiert werden.

Mit dem Quellenwert von Zeitungen für die Umweltgeschichtsschreibung, verstanden als Historiographie der materiellen Umwelt und der Beziehungen des Menschen zu ihr, setzte sich MARTIN KNOLL (Salzburg) auseinander. Er bezog sich anhand der Passauerischen Ordinäri Zeitung des Jahres 1689 exemplarisch auf die damals allgegenwärtige Kriegsberichterstattung. Weil die Dynamik vormoderner Flusslandschaften und Wetterextreme oft kriegsentscheidend waren und deshalb Nachrichtenwert besaßen, ermögliche diese Berichterstattung sowohl Aussagen über die materielle Beschaffenheit der Umwelt als auch über die gesellschaftliche Wahrnehmung dieser. Knoll veranschaulichte, dass die historische Presse mithin auch Zugang zu ‚verschütteten‘ Themen wie dem der Umwelt bietet.

PATRICK SCHMIDT (Rostock) referierte über sein Habilitationsprojekt, in dem er sich dieser Funktion der Presse als Sonde in beispielhafter Weise bedient. Mit seiner Untersuchung über die publizistische Repräsentation von Behinderungen und behinderten Menschen im 18. Jahrhundert rekonstruiert er Denkweisen über eine Thematik, die für die Zeitgenossen gewiss nicht die gegenwärtige Relevanz besaß. Doch gerade das, so Schmidt, mache die Presse zum geeigneten Mittel sich der Materie zu nähern, denn wenn die Publizisten schon keine Bücher über Behinderungen verfasst hätten, dann zumindest kürzere, in der Presse veröffentlichte Texte. Er präsentierte vier von ihm identifizierte Diskursstränge: (1) Armut und Armenfürsorge, (2) außergewöhnliche Körperlichkeit, (3) Krankheit und Heilung, (4) Pädagogik.

Der letzte Vortragende, FLEMMING SCHOCK (Göttingen/Leipzig), legte ebenfalls eine Untersuchung zu einem ungewöhnlichen Thema vor: Unterhaltendes in den Leipziger Zeitungen zwischen 1734 und 1809. Seine Längsschnittaufnahme dieser Zeitung förderte Kurioses und Emotionales in der Katastrophen- sowie Hofberichterstattung und in botanischen Berichten zu Tage. Nichtsdestoweniger konstatierte Schock, dass es sich dabei lediglich um eine Erstsichtung handle und schlug eine vergleichende Querschnittaufnahme in einem engerem Zeitraum vor, so denn in der Zukunft eine fortgeschrittene Digitalisierung dies erlaube.

Die Presse als Sonde, das darf als ein zentrales Ergebnis der Tagung festgehalten werden, kann nicht nur dem Erkenntnisgewinn über ‚verschüttete‘ Themen wie Unterhaltung, Umwelt und Behinderung, sondern auch der Bereicherung bereits erschlossener Felder wie der Herausbildung bürgerlicher Öffentlichkeit und der Wirtschaftsgeschichte dienen. Eine herausragende Rolle bei entsprechenden Forschungen könnten in Zukunft die bis heute zumeist vernachlässigten Anzeigen spielen. An dieser Stelle sei neben den Anzeigeteilen von Zeitungen und Zeitschriften auf das Intelligenzblatt als Quelle und in diesem Zusammenhang auf die Habilitationsschrift von Astrid Blome hingewiesen, in der sie diese Periodikagattung grundlegend erforscht hat. Die Intelligenzblätter versorgten ihre Leserschaft mit gewerblichen und privaten Inseraten, amtlichen Bekanntmachungen und redaktionellen Beiträgen, die das gesamte Spektrum der Aufklärung und Volksaufklärung sowie des Alltagslebens umfassten. Blome kommt zu dem Schluss: „Die Konzentration auf die alltägliche Lebenswelt derjenigen Stadt, in der sie erschienen, [...] unterschied Intelligenzblätter grundsätzlich von anderen frühneuzeitlichen Periodika, den politischen Zeitungen und der [...] Zeitschriftenpresse.“3

Was bereits in der Rekapitulation der Beiträge von Joop W. Koopmans und Flemming Schock angedeutet wird, war wiederholt Gegenstand von Diskussionen und Siedepunkt der abschließenden Debatte: die digitalisierten Zeitungsarchive. Die Teilnehmer/innen loteten insbesondere die Möglichkeiten und Grenzen der durch die OCR ermöglichten Volltextsuche aus. Mit ihr verfügten die Forschenden über ein mächtiges Werkzeug, das sie in die Lage versetze größere Textkorpora per Stichwortsuche einzubeziehen, serielle sowie vergleichende Analysen durchzuführen und Kategorienbildung voranzutreiben. Kurzum: Digitalisierte Zeitungsarchive in Verbindung mit der OCR ermöglichen, was Bob Nicholson als „bottom-up“-Suche beschreibt und damit die einfachere Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden auf die historische Presse.4 Darüber hinaus könne sich die Digitalisierung auch in der Lehre als nützlich erweisen, nämlich als Mittel, internetaffine Studenten an Quellen heranzuführen.

Andererseits befänden sich die Digitalisierung und OCR-Erschließung von in Fraktur gedruckten Zeitungen in einem unzureichenden Stadium der Entwicklung. Die Praxis zeige, dass die Fehlerquote bei der Texterkennung oftmals grotesk hoch sei. Es würde ohnehin noch viel Zeit vergehen, bis Onlinearchive sämtliche Periodika beherbergten und diese auch noch durch die Volltextsuche erschließbar seien, so dass man folglich der Versuchung widerstehen müsse, nur mit solchen Quellen zu arbeiten, die man per Mausklick erreichen könne. Ein „Digital Turn“, wie ihn Nicholson diskutiert, stellt ein bei Weitem nicht abgeschlossenes Projekt dar. Selbst wenn künftig digitale Archive einmal vollständig seien und die Texterkennung fehlerfrei funktioniere, bliebe die intensive Lektüre der Quellen ein unabdingbares Erfordernis, da sich, so der Tenor in den Diskussionen während der Tagung, dem Forschenden nur auf diesem Wege Kontextinformationen erschlössen, die eine oberflächliche Stichwortsuche nie zu Tage fördern könne.

Die historischen Periodika selber, das zeigten die Beiträge von Alix Winter und Sünne Juterczenka, entfalten ihren vollen Wert als Quelle kultur- und sozialgeschichtlicher Fragestellungen, wenn ihre Inhalte kontextualisiert werden. Je nach Forschungsvorhaben erscheint die Berücksichtigung intermedialer und transnationaler Zusammenhänge unerlässlich.

Konferenzübersicht:

Sektion I: Presse und Politik: neue Perspektiven

André Krischer (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), „The dark side of the enlightenment?“ Über Zeitungen, Habermas und Herrschaft im frühneuzeitlichen England

Christine Vogel (Universität Vechta), Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Zeitungen und diplomatische Praxis im 17. Jahrhundert

Alix Winter (Universität Potsdam), Flut und Dürre. Überlegungen zum Umgang mit Materialfülle und Informationsknappheit anhand der Berichterstattung zur ‚Affäre Calas‘ und zur ‚Kontinentalsperre‘

Sektion II: Zeitungsanzeigen als Quellen der Kultur- und Alltagsgeschichte

Susanne Lachenicht (Universität Bayreuth), Kleinanzeigen und Alltagsgeschichte im 18. Jahrhundert

Joop W. Koopmans (Rijksuniversiteit Groningen), Content and Meaning of Advertisements in Early Modern Digitized Dutch Newspapers

Bernd Klesmann (Universität zu Köln), Buchhandel und Leserschaft in Köln um 1794

Sektion III: Presse und Wissenspopularisierung

Sünne Juterczenka (Humboldt-Universität zu Berlin), Der Forschungsreisende als ‚grand homme‘. Weltumsegelung in der französischen Presse des 18. Jahrhunderts

Christian Kuhn (Otto-Friedrich-Universität Bamberg), Kulturtransfer und ‚Volksaufklärung‘ durch Pressenutzung. Die Bienenforschung Johann Riems (1738-1807)

Kai Lohsträter (Helmut Schmidt Universität), „Wer die Welt nicht kennt, der kennet auch sich und Gott nicht.“ Politische Zeitungen und Religion in der Frühen Neuzeit

Sektion IV: Die Zeitung als Sonde: Archäologie ‚verschütteter‘ Themenfelder

Martin Knoll (Universität Salzburg), Nachrichtenflüsse. Fluss und Flusslandschaft als Nachricht und Nachrichtenvektor

Patrick Schmidt (Universität Rostock), Diskursgeschichtliche Rekonstruktion eines ‚verborgenen‘ Themas. Behinderungen und behinderte Menschen in Zeitungen und Zeitschriften des 17. und 18. Jahrhunderts

Flemming Schock (Akademie der Wissenschaften zu Göttingen / Leipzig), Zwischen den Zeilen. Unterhaltendes in den Leipziger Zeitungen (1734-1809)

Anmerkungen:
1 David Lemmings, The Dark Side of Enlightenment. The London Journal, Moral Panics and the Law in the Eighteenth Century, in: David Lemmings / Claire Walker (Hrsg.), Moral Panics, the Media and the Law in Early Modern England, Basingstoke 2009, S. 139-156.
2 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied/Berlin 1962.
3 Astrid Blome, Das Intelligenzblatt. Regionale Kommunikation, Alltagswissen und lokale Medien in der Frühen Neuzeit, Habilitationsschrift, Masch. Hamburg 2009, hier S. 2.
4 Bob Nicholson, The Digital Turn. Exploring the Methodological Possibilities of Digital Newspaper Archives, in: Media History 19 (2013), S. 59-73, hier S. 67-72.